Landgericht Braunschweig
Urt. v. 29.10.2003, Az.: 2 S 317/03 (22)

Freizeitangebot; Freizeitcharakter; Freizeitveranstaltung; Harz und Heide; Haustürgeschäft; Kaufvertrag; Leistungsschau; Marktveranstaltung; marktähnlicher Charakter; rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit; rechtsgeschäftliche Entschließungsfreiheit; Verbraucherausstellung; Verbrauchermesse; Verbraucherschutz; Verkaufsveranstaltung; Vertragsschluss; Widerrufsrecht; Überrumpelungsgefahr

Bibliographie

Gericht
LG Braunschweig
Datum
29.10.2003
Aktenzeichen
2 S 317/03 (22)
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48448
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG - 05.06.2003 - AZ: 3 C 97/03

Tenor:

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 05.06.2003 - AZ: 3 C 97/03 - wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten der Berufung hat der Beklagte zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

1

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird Bezug genommen auf das angefochtene Urteil des Amtsgerichts Helmstedt vom 05.06.2003 (Bl. 56 ff. d. A.).

2

Der Beklagte rügt eine unzureichende Tatsachenfeststellung und Verletzung materiellen Rechts. Er ist der Auffassung, das Amtsgericht Helmstedt habe keine ausreichenden Feststellungen hinsichtlich des Freizeitcharakters der Messe „Harz und Heide“ getroffen. Da die Messe „Harz und Heide“ als Freizeitveranstaltung gem. § 312 BGB n.F. zu qualifizieren sei, habe ihm ein gesetzliches Widerrufsrecht bezüglich des am 12.05.2002 auf der Messe geschlossenen Kaufvertrages zugestanden.

3

Der Beklagte und Berufungskläger beantragt

4

unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils des Amtsgerichts Helmstedt vom 05.06.2003 (Az.: 3 C 97/03) die Klage abzuweisen.

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Die Berufungsbeklagte und Klägerin

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beantragt die Berufung zurückzuweisen.

7

Die Verfahrensakte, Az.: 1 S 621/02 (90), war zu Informationszwecken beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II.

8

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg.

9

Das Amtsgericht hat der Klägerin zu Recht einen Anspruch auf Zahlung von 950,00 € aufgrund des am 12.05.2002 auf der Messe „Harz und Heide“ geschlossenen Kaufvertrages über ein Dampfreinigungsgerät des Typs „Profi Star 2002“ zuerkannt.

10

Entgegen den Angriffen des Beklagten sind weder Tatsachen unzureichend festgestellt noch materielles Recht verletzt.

1.

11

Soweit das Amtsgericht Helmstedt ein vertragliches Rücktrittsrecht des Beklagten verneint hat, beruht dieses Ergebnis auf einer tatrichterlichen Beweiswürdigung, die nach ständiger Rechtsprechung das BGH nur beschränkt darauf überprüfbar ist, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und dem Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (BGH NJW 1997, S. 796 ff [BGH 01.10.1996 - VI ZR 10/96], BGH NJW 1999, S. 3481 ff [BGH 09.07.1999 - V ZR 12/98] sowie BGH NJW 2002, S. 3100 ff [BGH 10.07.2002 - VIII ZR 199/01]). Das Amtsgericht Helmstedt berücksichtigt bei der Würdigung der Zeugenaussage zu Recht, dass sowohl der provisionsberechtigte Zeuge als auch die Zeugin ... ein eigenes wirtschaftliches Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hatten. Da objektive Anhaltspunkte, die gegen die Glaubwürdigkeit des einen oder des anderen Zeugen sprachen, nicht vorlagen, war die Entscheidung nach den Grundsätzen der Beweislast zu treffen.

2.

12

Zu Recht hat das Amtsgericht Helmstedt ein gesetzliches Widerrufsrecht des Beklagten nach § 312 Abs. 1 Nr. 2 BGB n. F. verneint, weil es sich bei der „Harz & Heide“ nicht um eine Freizeitveranstaltung im Sinne dieser Vorschrift handelt.

13

Der nicht legal definierte Begriff der „Freizeitveranstaltung“ bestimmt sich durch Sinn und Zweck der Regelung unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Gesetzes. Zurückzuführen ist die Regelung in § 312 BGB n. F. auf das Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften (HaustürWG). Das HaustürWG diente dem Schutz des Verbrauchers vor der Gefahr, in bestimmten, dafür typischen Situationen bei der Anbahnung und dem Abschluss von Geschäften unter Beeinträchtigung seiner rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheit überrumpelt oder sonst auf unzulässige Weise zu unüberlegten Geschäftsabschlüssen gedrängt zu werden (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 1 Nr. 2 HWiG, BT-Drucks. 10/2876, S. 6 ff., S. 11 ff.; BGH NJW 2002, S. 3190 ff). Ob die Gefahr einer Überrumpelung des Verbrauchers anlässlich einer Freizeitveranstaltung vorliegt, beurteilt sich danach, ob das Freizeitangebot und die Verkaufsveranstaltung organisatorisch derart miteinander verwoben sind, dass der Verbraucher in eine freizeitlich unbeschwerte Stimmung versetzt wird und sich dem auf einen Geschäftsabschluss gerichteten Angebot nur schwer entziehen kann (vgl. BGH NJW 1992, S. 1889 ff [BGH 26.03.1992 - I ZR 104/90]). Für den Begriff der Freizeitveranstaltung sind hiernach zwei Faktoren maßgebend. Neben der nach objektiven Gegebenheiten zu beurteilenden Organisationsform ist auf den Freizeitcharakter der Veranstaltung, die den Verbraucher in eine - seine rechtsgeschäftliche Entschließungsfreiheit beeinflussende - Freizeitstimmung versetzt, abzustellen.

a)

14

Das Merkmal „Freizeitcharakter“ wird durch die Vorstellung des Verkehrs geprägt und beurteilt sich nach der Art der Ankündigung und der Durchführung (BGH NJW 1990, 3265 [BGH 21.06.1990 - I ZR 303/88] sowie BGH NJW 1992, 1889 [BGH 26.03.1992 - I ZR 104/90]). Es mag sein, dass dem potentiellen Besucher der „Harz und Heide“ aufgrund der Werbung (Internetpräsentation der Stadt Braunschweig sowie eigener Internetauftritt der „Harz & Heide“, Darstellung in der Presse) der Eindruck vermittelt wird, es handele sich in erster Linie um eine Freizeitveranstaltung und nicht um eine Messe, zumal der Verbraucher die Ankündigung in den regionalen Medien einer weniger kritischen Würdigung unterziehen wird.

b)

15

Die Kammer ist jedoch der Auffassung, dass zumindest die Organisationsform der Veranstaltung, die nach objektiven Gegebenheiten zu beurteilen ist, gegen den Begriff der Freizeitveranstaltung i. S. d. § 312 BGB spricht. Die Art der Verknüpfung von Freizeitangebot und gewerblichem Angebot auf der Harz & Heide zieht nicht die Gefahr der Überrumpelung des Verbrauchers nach sich, da der Besucher der Messe den marktähnlichen Charakter vor Ort ohne weiteres erkennen kann.

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Den Verbraucher erwarten auf rund 33000 m² insgesamt 21 Hallen und ein großes Freigelände. Der überwiegende Schwerpunkt des Unterhaltungsangebotes präsentiert sich in der Halle 1/2, während auf der restlichen Ausstellungsfläche gewerbliche Anbieter ihre Waren und Dienstleistungen anbieten. Eine Gefahr der Überrumpelung des Besuchers durch eine anbieterinitiierte Kontaktaufnahme besteht nicht. Durch die räumliche Trennung von Unterhaltung und Verkauf erschließt sich dem Besucher nach Verlassen der für Unterhaltungszwecke eingerichteten Halle 1/2 ohne weiteres der messe- bzw. marktähnliche Charakter. Hinter dem Eingangsbereich treten gewerbliche Elemente in den Vordergrund, die Freizeitstimmung wirkt nicht fort. Auch der geschäftlich unerfahrene Besucher kann ohne weiteres erkennen, dass die unterhaltenden Attraktionen der folgenden Hallen ausschließlich der Produktdemonstration bzw. der Darstellung der gewerblichen Leistung dienen und keinen eigenständigen Unterhaltungswert haben. Die Kammer stellt nicht in Abrede, dass der Verbraucher durch das vielfältige „Beiwerk“ zur Messe „Harz und Heide“ angelockt wird. Dieser Umstand begründet jedoch noch keine Situation, vor der der Verbraucher nach der Intention des Gesetzgebers geschützt werden soll, da damit eine Beeinträchtigung der rechtsgeschäftlichen Entschließungsfreiheit nicht notwendigerweise einher geht (anders: OLG Dresden, Urteil vom 28.02.1997 - 8 U 2263/96 - in NJW-RR 1997, S. 1346 ff). Die kommerziellen Absichten der Händler sind offensichtlich, und dem Besucher der „Harz und Heide“ wird es auch nicht erschwert, sich diesen Verkaufsbemühungen zu entziehen. Angesichts der Vielzahl der offenen Verkaufsstände, der Weitläufigkeit der Hallen und der Anzahl der Besucher kann der Verbraucher auch nach Vertragsanbahnungsgesprächen ohne weiteres in der Anonymität untertauchen. Es ist untypisch, dass ein Verbraucher aus Scham aufgrund der Beobachtung anderer - ihm unbekannter - Besucher den Verkaufsstand nicht verlässt und stattdessen den Verkaufsbemühungen nachgibt (so: OLG Dresden a.a.O.).

17

In den meisten Fällen mag es sein, dass der Kunde nach Zahlung des Eintrittsgeldes dazu neigt, nicht nur einzelne Veranstaltungen des Unterhaltungsprogramms, sondern auch die vorhandenen Verkaufsstände aufzusuchen, an denen er den kommerziellen Bemühungen der Verkäufer ausgesetzt ist. Dies ist durch den Veranstalter gerade bezweckt. Eine den „Kaffeefahrten“ vergleichbare Situation vermag dennoch nicht zu entstehen. Seitens des Besuchers besteht kein Anlass zur Dankbarkeit, da er sich den Besuch der Harz & Heide und damit den Genuss des Unterhaltungsprogramms bewusst erkauft hat und durch die räumliche Trennung dem Besucher kein Gefühl vermittelt wird, dem gewerblichen Händlern für das Unterhaltungsangebot in irgendeiner Weise verpflichtet zu sein (vgl. BGH NJW 1992, 1889 [BGH 26.03.1992 - I ZR 104/90] sowie NJW 2002, 3100 [BGH 10.07.2002 - VIII ZR 199/01]).

c)

18

Die „Harz und Heide“ ist daher keine Freizeitveranstaltung i. S. d. § 312 Abs. 1 Nr. 2 BGB, sondern eine Verbraucherausstellung bzw. Leistungsschau, die mit Einkaufsmöglichkeiten verbunden ist (vgl. die Entscheidung des BGH zur „Grünen Woche“ in NJW 1992, S. 1889 [BGH 26.03.1992 - I ZR 104/90] sowie NJW 2002, S. 3100 [BGH 10.07.2002 - VIII ZR 199/01]). Insoweit ist sie mit Messen und Märkten vergleichbar, die nach dem ursprünglichen Entwurf der generalklauselartigen Regelung von der Widerruflichkeit ausdrücklich ausgenommen sein sollten (BT-Dr. 8/130, S. 4). Der Umstand, dass die Freizeitstimmung bei einzelnen Verbrauchern eine höhere Bereitschaft zu spontanen und weniger bedachten Bestellungen weckt, vermag für sich allein die Anwendbarkeit des § 312 BGB nicht zu begründen. Die Atmosphäre auf der „Harz & Heide“ ist vergleichbar mit jener, die in neuerer Zeit beim Besuch großer Kaufhäuser entsteht, in die der Kunde durch ein vielfältiges Unterhaltungsprogramm hineingelockt wird.

3.

19

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10 analog, 711 ZPO.

20

Die Revision war gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zuzulassen, weil - angesichts wiederholter Rechtsstreitigkeiten über Widerrufsrechte bei auf der „Harz & Heide“ geschlossenen Verträgen mit unterschiedlichen Entscheidungen - die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

21

Der nicht nachgelassene Schriftsatz vom 27.10.2003 bot keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.