Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.07.2019, Az.: 6 A 2971/17

Friedensbrigaden; Jaish al-Mahdi; konfessionell gemischte Ehe; Mahdi Armee; Muqtada al-Sadr; PMF-Miliz; religiöse Verfolgung; Saraya a-Salam

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.07.2019
Aktenzeichen
6 A 2971/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69956
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur Verfolgung einer sunnitischen, in einer konfessionell-gemischten Ehe lebenden Araberin in Bagdad durch die schii-tische PMF-Miliz Mahdi Armee
2. Zum Ausbau der Machtposition der Mahdi Armee und ihrem Einfluss auf den irakischen Staat im Anschluss an die Parla-mentswahl 2018


Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Bescheid der Beklagten vom 22. März 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt 2/3, die Klägerin 1/3 der Kosten des gerichtskosten-freien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags ab-wenden, sofern nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Klägerin, eine irakische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sie reiste eigenen Angaben zufolge im Dezember 2010 gemeinsam mit ihrem Ehemann aus dem Irak nach Syrien aus, wo sie sich bis September 2015 aufhielten. Im Oktober 2015 reiste sie auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte sie in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. In Ihrer Anhörung im Juli 2016 erklärte sie, sie habe den Irak verlassen, da ihr Ehemann und sie von einer schiitischen Miliz mit dem Tode bedroht worden seien.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen erklärte sie, sie habe bis zu ihrer Ausreise gemeinsam mit ihrem schiitischen Ehemann, dem gemeinsamen Sohn und zwei Töchtern in Bagdad im schiitischen Viertel Ali Salih gelebt. Ihre Mutter sei im Jahr 2005 verstorben, ihr Vater sei im Jahr 2006 entführt worden und werde seitdem vermisst. Im Irak hielten sich noch ihre drei verheirateten Brüder und weitere Mitglieder ihrer Großfamilie auf. Zu ihnen habe sie keinen Kontakt mehr, weil sie einen Schiiten geheiratet habe. Zu ihrem Werdegang gab die Klägerin an, sie habe im Irak die Grundschule absolviert und im Anschluss daran einen Friseurladen eröffnet. In Syrien habe sie ebenfalls als Friseurin gearbeitet. Ihr Ehemann habe im Irak ein Café und ein Restaurant besessen und zudem in einem Bagdader Gefängnis als Wärter gearbeitet. In Syrien habe er mit Altkleidern gehandelt.

Zu den Gründen ihrer Ausreise gab die Klägerin an, sie sei aus religiösen Gründen von der Miliz Mahdi-Armee bedroht worden, d.h. aufgrund ihres sunnitischen Glaubens. Hintergrund sei gewesen, dass sie ihren sunnitischen Glauben (d.h. typische Gebete) in einem schiitischen Viertel offen ausgelebt und ihr Friseurgeschäft an schiitischen Feiertagen geöffnet habe. Sie habe „offen ihre Meinung gesagt“ und ihren sunnitischen Glauben nicht verheimlicht. Ihre sunnitische Angestellte sei von der schiitischen Miliz entführt und getötet worden. Daraufhin habe sie das Geschäft geschlossen.

Zudem sei ihr schiitischer Ehemann bedroht worden, der u.a. in einem Bagdader Gefängnis als Wärter gearbeitet habe. Hintergrund könne ihrer Auffassung zufolge nur gewesen sein, dass der Ehemann sich geweigert hätte, schiitischen Milizionären bei der Freilassung von Gefangenen zu helfen. Außerdem habe ihr Mann offen darüber gesprochen, dass schiitische Milizionäre, die ihm zum Teil aus der Jugendzeit persönlich bekannt gewesen seien, in ihrem Viertel von Motorrädern aus Morde begangen hätten. Ca. drei bis vier Monate nach den erstmaligen Drohungen hätten unbekannte Täter die Klägerin und ihren Mann mit Handgranaten beworfen, die aber lediglich einen lauten Knall verursacht hätten. Außerdem hätten sie auf ihren Mann geschossen und ihn verletzt. Weil die Operation nicht erfolgreich verlaufen sei, laufe er seitdem auf Krücken.

Zugetragen habe sich all dies im Zeitraum zwischen 2008 und 2010, bis sie den Irak verlassen hätten. Der Vorfall mit der Handgranate habe sich 2009 zugetragen. In diesem Jahr sei auch ihr Ehemann bedroht und angeschossen worden. Nachdem sie mit ihrer Familie mit dem Auto nach Syrien ausgereist sei, seien Milizionäre zu ihrer Schwiegermutter gegangen und hätten sich erkundigt, wo die Klägerin und ihr Ehemann sich jetzt aufhielten. Da ihre Schwiegermutter keine Antwort habe geben können, hätten die Männer sie geschlagen und ihr Haus zerstört.

In Syrien, so die Klägerin, habe sich ihre Lage mit dem Beginn der Konflikte im Jahr 2012 weiter verschlechtert. Am Anfang sei die Lage in Damaskus chaotisch gewesen. Ihr Ehemann sei wegen seines schiitischen Glaubens von Mitgliedern der Freien Syrischen Armee unter Todesdrohungen zur Ausreise aufgefordert worden, wobei sie davon ausgehe, dass ihr damaliger Arbeitgeber, ein sunnitischer Ladeninhaber, ihren Ehemann an die Gruppierung verraten habe. Sie hätten dann mit Hilfe der UN ihren Wohnsitz verändert, aber fortwährend Angst gehabt, dass sich die Situation wiederholen würde. Aus diesem Grunde sei sie ausgereist, um etwas für ihre Familie tun zu können. Sie hätten alle Wertsachen der Familie verkauft, damit sie, die Klägerin, ausreisen könne. Für die gesamte Familie hätte das Geld nicht gereicht. Ihr Ehemann hätte die Reise nicht antreten können, da er immer noch auf Krücken laufe.

Abschließend erklärte die Klägerin, sie könne nicht in den Irak zurückgehen, weil es dort keine Sicherheit für sie und ihre Familie gebe. Außerdem befürchte sie weiterhin Probleme, weil sie einen schiitischen Mann geheiratet habe. In Syrien herrsche ebenfalls Krieg; sie wisse auch nicht mehr, wie sie dort ihren Lebensunterhalt bestreiten solle.

Mit Bescheid vom 22. März 2017, der Klägerin am 23. März 2017 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigte (Nr. 2) ab und erkannte ihr den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiterhin stellte es fest, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliege.

Zur Begründung führte es u.a. aus, der Klägerin drohe im Irak keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung. Nach den Angaben der Klägerin sei sie nicht selbst Ziel der Angriffe der Miliz gewesen, sondern ihr Ehemann, weil dieser sich geweigert habe, in seiner Funktion als Wärter in einem Bagdader Gefängnis an einer Gefangenenbefreiung mitzuwirken. Der sunnitische Glaube der Klägerin habe bei den Verfolgungen keine Rolle gespielt. Im Falle einer Rückkehr in den Irak sei nicht anzunehmen, dass sich derartiges wiederholen würde, da ihr heute in Syrien lebender Mann sich heute nicht mehr in einer Position befinde, in der er Forderungen dieser Art mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Soweit die Klägerin erklärt habe, wegen ihres sunnitischen Glaubens von Schiiten bedroht worden zu sein, sei dies letztlich „offenbar folgenlos“ geblieben. Auch wenn sich Schiiten daran gestört haben sollten, dass sie ihren Laden an deren Feiertagen geöffnet hatte, schien es bei derartigen Missfallensbekundungen geblieben zu sein. Zumindest habe die Klägerin hierzu nichts Weiteres vorgetragen und es sei dazu auch nichts ersichtlich. Die Feststellung des Abschiebungsverbots begründete das Bundesamt damit, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak ohne familiäres Netzwerk wäre und es infolgedessen unter den aktuellen Bedingungen im Irak nicht zu erwarten sei, dass es ihr gelingen würde, ihre Existenz durch eigene Bemühungen zu sichern.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 6. April 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr bisheriges Vorbringen. Die Beklagte gehe fehl in der Annahme, dass die Klägerin persönlich keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei. Wie sie bereits in der Anhörung angegeben habe, hätten sie Angehörige der schiitischen Miliz mehrfach bedroht, und zwar auch in dem Friseurgeschäft, in welchem sie gearbeitet habe. Schließlich hätten die Milizionäre das Geschäft zerstört. Ihre sunnitische Freundin, welche in ihrem Friseurgeschäft gearbeitet habe, sei entführt und bei lebendigem Leibe verbrannt worden, wobei sie, die Klägerin, sich dies nur so erklären könne, dass hierfür die vorgenannte Miliz verantwortlich sei.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. März 2017 zu verpflichten,

1. die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen,

2. ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

3. hilfsweise, ihr die subsidiäre Schutzberechtigung zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 4. Juli 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Die Klägerin hat sich mit Schriftsatz vom 12. Juli 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generaler-klärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat zum überwiegenden Teil Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

1.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 22. März 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person der Klägerin erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Irak aus individuellen, an ihre Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung der Klägerin sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Bei der Beurteilung der Frage, ob ihr (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt der Klägerin die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer grundsätzlich nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 38). Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08, juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12, juris Rn. 27).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs ist die Klägerin vorverfolgt aus dem Irak ausgereist. Das Gericht ist aufgrund der substantiierten Ausführungen der Klägerin in ihrer Anhörung beim Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht substantiiert in Frage gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin im Irak aufgrund ihrer Religion und ihrer politischen Überzeugung von Verfolgungsmaßnahmen betroffen war, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, § 3b Nr. 5 AsylG liegt vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Als Verfolgungen gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrer-seits Objekt politischer Verfolgung ist. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96, juris Rn. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Diese Erwägungen gelten für die religiöse Verfolgung entsprechend.

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Klägerin die Voraussetzungen einer religiösen bzw. politischen Verfolgung vor, weil Angehörige der schiitischen Miliz Mahdi-Armee sie und ihren Ehemann mit dem Tode bedrohten; zum einen, weil ihr Ehemann sich weigerte, die Ziele der Miliz zu unterstützen, zum anderen, weil die Klägerin ihren sunnitischen Glauben in einem schiitisch dominierten Viertel offen auslebte.

Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:

„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“

In Reaktion auf die Einnahme Mosuls durch die sunnitische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) am 10. Juni 2014 hatte der damalige schiitische Premierminister Nouri al-Maliki Freiwillige dazu aufgefordert, gemeinsam mit der irakischen Armee gegen den IS zu kämpfen. Diesem Aufruf folgt am 13. Juni 2014 ein religiöses Edikt (Fatwa) des obersten irakischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Ali al-Husseini al-Sistani, der alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief. Infolgedessen schlossen sich freiwillige Kämpfer bereits bestehenden oder neu gegründeten schiitischen Milizen an, die sich unter dem Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF)) zusammenfanden (AI, Iraq: Turning a blind eye. The Arming of the Popular Mobilization Units, 2017, S. 8; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 35; siehe hierzu ausführlich: VG Hannover, Urt. v. 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris Rn. 25 ff.).

Bei der PMF-Miliz Saraya al-Salam (Peace Brigades bzw. Friedenskompanien/-brigaden/-schwadrone), ursprünglich bekannt als Mahdi-Armee (Jaish al-Mahdi (JAM)), handelt es sich um eine einflussreiche politische Fraktion des Schiitentums mit komplex ausgestalteten Beziehungen zum Iran, welche sich zugleich in loser Gefolgschaft zur irakischen Zentralregierung befindet. Anders als der herkömmliche, auf die schiitische Theologie anspielende Name weist der aktuelle Name „Friedenskompanien“ keinen religiösen Bezug auf; er steht stellvertretend für den nationalistischen Wandel, den die Sadr-Bewegung durchläuft (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz [a-10267-2 (10268)], 28. Juli 2017, S. 5 der Druckversion). Die Organisation „Friedenskompanien“ gilt de facto jedoch als Fortführung der Mahdi-Armee und ist ungeachtet der sich wechselnden Ausrichtungen und Namen im Irak überdies seit jeher unter ihrer Ursprungsbezeichnung Jaysh al-Mahdi (JAM) bzw. Mahdi-Armee bekannt (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 6 der Druckversion; ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion).

Die Gruppierung formierte sich in Opposition zu der US-Invasion im Jahr 2003 und der anschließenden Besetzung des Irak (AI, Absolute Impunity. Militia Rule in Iraq, 2014, S. 9 f.). Ihr Gründervater, der einflussreiche schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr, ist Sohn des im Jahr 1999 ermordeten Großayatollah Mohamnmed Sadiq al-Sadr. Ursprünglich gab er ihr das Ziel, die von den USA angeführte Militärkoalition aus dem Irak zu vertreiben und eine schiitische Regierung im Irak zu etablieren. Von 2004 an griff die Mahdi-Armee regelmäßig Koalitionstruppen an; in den folgenden Jahren galt sie in zahlreichen Landstrichen des Irak als gefährlicher als die Terrororganisation al-Qaida und in ihrer militärischen Stärke lediglich den US-Truppen nachstehend. In der Zeitperiode von etwa 2004 bis 2007 häuften sich zudem Berichte darüber, dass die Mahdi-Armee mit Todesschwadronen sunnitische Iraker verfolgte und die im Land vorherrschenden sektiererische Gewalt anfachte (Stanford University, Mapping Militant Organizations: Mahdi Army, 26. November 2017, S. 1 f. der Druckversion). Die Gruppe führte zahllose Angriffe auf US-amerikanische und irakische Streitkräfte sowie auf sunnitische Zivilisten durch und war hierbei für einige der grausamsten konfessionell motivierten Gewalttaten im Irak verantwortlich (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten; Rolle der Mahdi-Milizen [a-7959-2 (7960)], 17. April 2012, S. 4 der Druckversion).

Im Anschluss an ein durch den Iran vermitteltes Waffenstillstandsabkommen mit der irakischen Regierung im Jahr 2008 verlegte sich die Mahdi-Armee zunächst von Militäroperationen auf die Gewährleistung sozialer Dienste in schiitischen Vierteln und benannte sich in Mumahidoon um. Parallel gründete Sadr eine paramilitärische Spezialeinheit mit dem Namen Liwa al-Youm al-Mawud (Promised Day Brigades bzw. Kompanien des verheißenen Tages), welche die US-Truppen im Irak bis in das Jahr 2011 hinein weiterhin angriff. Im Jahr 2010 verlagerte Sadr den Schwerpunkt der Tätigkeit der Mahdi-Armee unter Vernachlässigung der vorherigen schwerpunktmäßig karitativen Ausrichtung sodann auf das Feld der Politik und unterstützte mit seiner Sadr-Bewegung (al-Tayyār al-Sadri bzw. Sadrist Movement) die vorwiegend aus schiitischen Parteien bestehende irakische Nationalallianz (Iraqi National Alliance). In der Parlamentswahl 2010 errang die Sadr-Bewegung 40 von 325 Plätzen im irakischen Parlament (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion). Im Jahr 2013 verkündete Sadr überraschend seinen Rückzug aus der irakischen Politik sowie die Auflösung der Mahdi-Armee (Stanford University, a.a.O., S. 3 f. der Druckversion).

Nachdem der IS Mossul im Juni 2014 eingenommen hatte, rief Sadr die Mahdi-Armee abermals unter dem neuen Namen der Friedenskompanien ins Leben mit dem Ziel, den IS zu besiegen und den pro-iranisch eingestellten damaligen irakischen Premierminister Nouri al-Maliki zu stürzen. Dem darauffolgenden Premierminister Haider al-Abadi sicherte Badr seine Unterstützung zu und beteiligte die Friedenskompanien in enger Zusammenarbeit mit den irakischen Sicherheitskräften am Kampf gegen den IS. Im Jahr 2016 kehrte Sadr sodann in die irakische Politik zurück (Stanford University, a.a.O., S. 4 f. der Druckversion). Er stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik und den politischen Einfluss des Iran ankämpft (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 34-36, S. 86). Für die irakischen Parlamentswahlen am 12. Mai 2018 verbündete sich Sadr unter anderem mit der Kommunistischen Partei und anderen säkularen Gruppen mit dem erklärten Wahlziel, nach der Wahl eine unabhängige Technokratenregierung zu bilden, in der Schiiten, Sunniten, Kurden und andere Minderheiten angemessen vertreten wären. Die Wahl gewann er mit seiner Liste Sairoon („Wir marschieren“), welche 54 der 329 Parlamentssitze erzielte. Auf Platz zwei folgte die Fatah-Allianz, ein Bündnis des pro-iranischen Politikers und Anführers der Badr-Organisation Haidi al-Amiri; lediglich auf Platz drei landete die Liste des amtierenden schiitischen Regierungschef Haidar al-Abadi (Zeit-Online, Artikel vom 19. Mai 2018, „Irak: Endergebnis bestätigt Wahlsieg von Al-Sadr“).

Die von Sadr angeführte Liste Sairoon schloss sodann im Juni 2018 eine Koalitionsvereinbarung mit der zweitplatzierten Fatah Allianz, welche aus Kata’ib Hezbollah, Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH), der Badr Organisation und anderen schiitischen PMF-Milizen besteht. Diese neue Koalition versetzt die schiitischen Milizen in die Position, Einfluss auf die neue irakische Regierung zu nehmen (VG Hannover, Urt. v. 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris 34 m.w.N.). Hiermit korrespondierend kürten Sadr und der Chef der Fatah Allianz, Hadi al-Amiri, nach der Wahl den schiitischen Politiker Adil Abdul-Mahdi zum Ministerpräsidenten. Dieser verkündete zu Beginn des Juli 2019, dass alle PMF-Milizen nunmehr als untrennbarer Teil der regulären irakischen Streitkräfte operieren sollen, womit die Gruppierungen offiziellen staatlichen Schutz genießen (Spiegel Online, Artikel vom 3. Juli 2019, „Teherans trojanisches Pferd“). Ob die Milizen in der Zukunft jedoch auch unter die effektive Kontrolle der irakischen Zentralregierung gelangen können, gilt als äußerst fraglich (Artikel der Deutschen Welle vom 2. Juli 2019, „Iraqi PM orders Iran-backed militias into army command“; Artikel von The Defense Post vom 3. Juli 2019, „Popular Mobilization Force reform in Iraq: Reintegration or consolidation of militia power?“).

Bezüglich der Größe der Mahdi-Armee finden sich unterschiedliche Angaben. Nach Auskunft des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl sprechen irakische Quellen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, sehen die militärische Schlagkraft der Organisation jedoch infolge der vergleichsweise geringeren militärischen und finanziellen Unterstützung durch den Iran als begrenzt an (BFA, a.a.O., S. 75). Die Stanford University gibt in einer Stellungnahme aus November 2017 bezüglich der Frage der Anzahl der Anhänger der Mahdi-Armee im Juni 2014 verschiedene, sich widersprechende Quellen wieder (AlJazeera: 10.000 Mann, The Telegraph: 50.000 Mann, Alalam: 20.000 Mann; s. Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 7 der Druckversion). ACCORD verweist in einer Anfragebeantwortung betreffend die Aktivitäten der Mahdi-Miliz zudem auf einen Bericht der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) aus August 2016, dem zufolge die bis zu einer Stärke von 50.000 Mann reichende Schätzung der Größe der Mahdi-Armee durchaus möglich sei, allerdings unter Einbeziehung des gesamten Personals der Miliz inklusive ihrer jeweiligen Teilgruppierungen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz, 28. Juli 2017, S. 1 der Druckversion). ACCORD bezieht sich zudem auf einen Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Finnish Immigration Service) aus April 2015, dem zufolge die Friedensbrigaden zum damaligen Zeitpunkt über 60.000 Angehörige verfügten. Im Jahr 2014 habe die Miliz in Bagdad zur Machtdemonstration Paraden im schiitischen Viertel Sadr City abgehalten, an denen Schätzungen zufolge 30.000 bis 50.000 Mitglieder teilgenommen hätten; die meisten seien in Uniform aufgetreten und hätten Waffen getragen. Nach Auskunft einer diplomatischen Quelle seien die Friedensbrigaden die stärkste Miliz, die unabhängig vom Iran agiere (ACCORD, a.a.O., S. 2 f. der Druckversion). Als das Haupteinsatzgebiet der Miliz wird allgemein das südliche Zentrum des Irak angesehen; die Gruppe war indessen auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (BFA, a.a.O., S. 75). Besonders populär ist die Mahdi-Armee seit jeher in Sadr City, einem nach dem Vater von Muqtada al-Sadr benannten Stadtteil von Bagdad (Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 der Druckversion). Hier stellt sie illegale Checkpoints auf und kann selbst Regierungstruppen den Zugang verweigern (ACCORD, a.a.O., S. 2 der Druckversion).

In Bezug auf die Finanzierung der PMF-Milizen und ihr Wirken im zivilen Sektor hält das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die folgenden Erkenntnisse fest (BFA, a.a.O. S. 79, S. 83 f.):

„Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat.“

„Die Vorstöße des IS im Nord- und Zentralirak 2014 und Anfang 2015 sowie das damit verbundene Sicherheitsvakuum in anderen Landesteilen haben dazu geführt, dass Milizen und Stammesführer in vielen Gegenden die Macht an sich gerissen haben, die Kriminalität zugenommen hat und insgesamt das staatliche Machtmonopol und die Rechtsstaatlichkeit aufgeweicht wurden, einschließlich in der Hauptstadt Bagdad (UNHCR 14.11.2016). Die PMF-Milizen, die ursprünglich entstanden sind, um den IS zu bekämpfen [andere gab es allerdings auch schon vor dem IS], verrichten nun in den Stadtvierteln von Bagdad Polizeiarbeit. Dadurch konkurrieren sie mit der regulären Polizei, missachten die Gesetze und verhalten sich oft eher wie mafiöse Gruppen. […] Die Milizen erschweren zunehmend die Arbeit der lokalen Polizeikräfte. Führungskräfte der Polizei sind gezwungen, mit den führenden Vertretern der Milizen, die in ihrem Stadtteil operieren, zu kooperieren, gesetzt den Fall, die Viertel befänden sich überhaupt unter Polizeikontrolle. Die meisten Stadtviertel von Bagdad haben einen Stützpunkt, zumeist in Form eines Büros, der zu der jeweiligen Miliz gehört, die in dem Teil der Stadt präsent ist (manchmal sind auch mehrere Milizen in einem Viertel präsent). Laut Angaben eines Bagdader Polizisten könne man die mutmaßlichen Rechtsverletzungen der Milizen nicht ahnden; Es käme auch zu Straßenkämpfen zwischen den Milizen und die Polizei müsse neutral bleiben und würde daher nicht in die Kämpfe eingreifen (Niqash 19.1.2017).

Offiziell ist nach wie vor das sogenannte „Baghdad Operations Command“ (BOC) für die Sicherheit in der Stadt zuständig. Es umfasst etwa 70.000 Mitglieder, die aus Soldaten der regulären Armee, der Militärpolizei und der normalen Polizei sowie aus Geheimdiensten bestehen. Viele Bewohner haben jedoch den Eindruck, dass das BOC nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen (Niqash 19.1.2017). Daher gibt es den Ruf danach, dass die PMF-Milizen auch offiziell für die Sicherheit zuständig sein sollen, bzw. den Druck, auch von Seiten verschiedener Parlamentsmitglieder, die Milizen stärker in Bagdads Sicherheitskonzept einzubinden, oder ihnen sogar die Sicherheitsagenden komplett zu übergeben und das BOC aufzulösen (IFK 25.7.2017; vgl. Niqash 19.1.2017).“

Die Stanford University verweist in einem Bericht aus November 2017 zudem darauf, Teile des Gemeinwesens seien seit langem von der Mahdi-Armee desillusioniert infolge deren Korruption und verbrecherischen Methoden. Die Gruppe habe sich in Bagdad mit Raubüberfällen, Morden, Vergewaltigungen und Schutzgelderpressungen gegenüber der örtlichen Bevölkerung ebenso einen Namen gemacht wie mit der Entführung von Sunniten wie Schiiten zur Erpressung von Lösegeld. Nach Auskunft örtlicher Kontaktpersonen bekämpfe die Mahdi-Armee nicht lediglich mutmaßliche feindliche Invasoren, sondern jeden, der sich ihren mafiösen Aktivitäten in den Weg stelle, wobei sich bei vielen Irakern die Frage stelle, inwiefern Sadr wirklich in der Lage sei, seine Organisation effektiv zu kontrollieren (Stanford University, Mapping Militant Organizations. Mahdi Army, 26. November 2017, S. 13 f. der Druckversion; FDD’s Long War Journal, Iraqis begin to ‘despise’ the Mahdi Army in Baghdad’s Rusafa district, 3. Mai 2008; ähnlich: BAA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Irak: die Sicherheitslage in Bagdad, 26. Januar 2011, S. 13 f.). Nach Einschätzung des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl geht zudem ein Großteil der Terroranschläge im Irak auf das Konto heimischer Terrororganisationen. Dieser Befund betreffe neben dem (sunnitischen) IS insbesondere die schiitischen Friedenskompanien Sadrs sowie die ebenfalls schiitischen Gruppen Asa’ib Ahl al-Haq (AAH) und Kata’ib Hizballah (BFA, a.a.O., S. 58).

Diese Erkenntnismittel zu den Übergriffen der schiitischen Mahdi-Armee auf ihre politischen Gegner sowie Mitglieder der sunnitischen Minderheitsbevölkerung finden ihre sachliche Entsprechung in den ausführlichen Schilderungen der Klägerin in ihrer Anhörung beim Bundesamt, die im hinreichenden Maße Realkennzeichen aufwiesen und deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht substantiiert in Zweifel gezogen hat. Sie decken sich im Übrigen auch mit den Erkenntnissen des Einzelrichters zur Bedrohung sunnitisch-schiitischer Ehepaare durch schiitische Milizen wie die Mahdi-Armee (z.B. VG Hannover, Urteil vom 21.03.2018 – 6 A 5487/16, juris Rn. 70 ff.).

Nach den substantiierten Angaben der Klägerin, welche der streitgegenständliche Bescheid in wesentlichen Teilen ignoriert, wurde sie zum einen vor ihrer Ausreise aus religiösen Gründen von der Mahdi-Armee bedroht, d.h. weil sie ihren sunnitischen Glauben in einem schiitischen Viertel offen auslebte und ihr Friseurgeschäft auch an schiitischen Feiertagen öffnete. Entgegen der Feststellung im angefochtenen Bescheid blieb es auch nicht bei „verbalen Missfallensbekundungen“. Dies gilt zum einen, weil die Gruppierung gemäß der (nach Lage der Dinge überaus nachvollziehbaren) Einschätzung der Klägerin für die Entführung ihrer sunnitischen Friseurangestellten verantwortlich war, die bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Zum anderen zerstörten Anhänger der Mahdi-Armee das Friseurgeschäft der Klägerin, welches diese daraufhin schloss. Ebenso verfolgte die Mahdi-Armee die Klägerin wegen der ihr zugeschriebenen politischen Einstellung, da sie aus der ablehnenden politischen Haltung ihres Ehemannes auf diejenige der Klägerin schlossen, zumindest aber die Klägerin bedrohten, um ihren Ehemann zur Zusammenarbeit zu zwingen oder, zu einem späteren Zeitpunkt, zum Wegzug.

Die der Klägerin widerfahrene (Vor-)Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG, weil die Mahdi-Armee als PMF-Miliz bzw., seit der erwähnten Ankündigung des irakischen Ministerpräsidenten aus Juli 2019, als Teil der regulären irakischen Armee eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG darstellt (siehe hierzu: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS 1, Rn. 41).

Des Weiteren ist das Risiko einer erneuten Verfolgung der Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht durch bloßen Zeitablauf entfallen. Zum einen haben Milizionäre der Mahdi-Armee noch nach der Ausreise der Klägerin ein Interesse an ihr und ihrem Ehemann gezeigt, indem sie ihre Schwiegermutter aufsuchten, sich nach dem Aufenthalt der Eheleute erkundigten, die Schwiegermutter misshandelten und ihr Haus zerstörten. Dabei ist besonders in Rechnung zu stellen, dass die Mahdi-Armee bei ihrer „Neu-Gründung“ im Jahr 2014 auf ihre bisherigen Kader zurückgreifen konnte (vgl. Stanford University, Mapping Militant Organizations. The Mahdi Army, 26. November 2017, S. 6 der Druckversion; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktivitäten der Jaish-al-Mahdi-Miliz [a-10267-2 (10268)], 28. Juli 2017, S. 2 der Druckversion). Zum anderen hat die Mahdi-Armee ihre Machtposition zwischenzeitlich deutlich ausgebaut und ist in der Lage, auf die Führungsebene des irakischen Staates Einfluss zu nehmen.

Schließlich bietet sich für die Klägerin keine zumutbaren inländischen Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Insbesondere bietet sich für die Klägerin keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Die Klägerin hat demgegenüber keinen Anspruch, gemäß Art. 16a Abs. 1 GG als Asylberechtigte anerkannt zu werden, weil sie ausweislich ihrer Angaben in der Anhörung beim Bundesamt gemäß Art. 16a Abs. 2 GG über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.