Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 28.08.2019, Az.: 3 A 12157/17

Jugendhilfeleistung; Leistungseinstellung des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers; maßgebliche Anknüpfungsperson; PKH-Verfahren; wirtschaftliche Bedürftigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
28.08.2019
Aktenzeichen
3 A 12157/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69904
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. (Jedenfalls) Solange ein nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorrangig verpflichteter Leistungsträger den Hilfefall gegenüber dem Hilfeberechtigten nicht selbst rechtsverbindlich geregelt hat, kann die nachrangige Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers von vornherein nicht zurücktreten und ist dieser nicht berechtigt, mit Hinweis auf die - angekündigte - Fallübernahme des vorrangig verpflichteten Trägers die eigene Hilfeleistung bereits einzustellen.

2. Macht eine u. a. für "Behördenangelegenheiten" bestellte Ergänzungspflegerin, die das betroffene Kind in Vollzeitpflege in ihren eigenen Haushalt aufgenommen hat, gerichtlich als Klägerin einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27, 33 SGB VIII bzw. einen Anspruch auf Aufwendungsersatz für eine von ihr selbst geleistete "selbstbeschaffte" Vollzeitpflege geltend, dann kommt es in einem darauf bezogenen PKH-Verfahren im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung auf ihre eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse an und nicht auf diejenigen des von ihr betreuten Kindes.

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt.

Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Nachdem die Beteiligten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen; zugleich entscheidet das Gericht gemäß § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen über die Kosten.

Billigem Ermessen entspricht es, die Kosten verhältnismäßig zu teilen, denn ob die Klage bei einer streitigen Entscheidung nach dem im Zeitpunkt der übereinstimmenden Erledigungserklärungen erreichten Sach- und Streitstand Erfolg gehabt hätte, erscheint bei der im Rahmen des § 161 Abs. 2 VwGO gebotenen summarischer Würdigung als offen.

1.

Gewisse Zweifel an einem Erfolg der Klage bestanden allerdings bezüglich der Frage, ob die Klägerin überhaupt aktivlegitimiert war, gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Aufhebung des Einstellungsbescheides vom C. bezüglich der Gewährung von Jugendhilfeleistungen an das Pflegekind der Klägerin geltend zu machen. Denn dieser Bescheid richtete sich an die leiblichen Eltern des Pflegekindes als Sorge- und damit Anspruchsberechtigte für die bis dahin gewährten Jugendhilfeleistungen nach §§ 27, 34 i.V.m. § 33 SGB VIII. Ob die Klägerin auf Grund ihrer Bestellung zur Ergänzungspflegerin für ihr Pflegekind zum D. für die Bereiche „Gesundheitsfürsorge und Behördenangelegenheiten“ auch berechtigt war, jugendhilferechtliche Ansprüche zu verfolgen, ist rechtlich nicht eindeutig. Der Begriff „Behördenangelegenheiten“ hätte insoweit einer Auslegung bedurft, für die ggf. weitere Informationen aus dem entsprechenden familiengerichtlichen Verfahren erforderlich gewesen wären. Fraglich war insoweit darüber hinaus auch, ob die Klägerin insoweit berechtigt war, derartige Ansprüche für einen Zeitraum rückwirkend geltend zu machen, für den sie noch nicht als Ergänzungspflegerin bestellt war.

Zweifel an einem Erfolg der Klage begründet zudem der Umstand, dass die Frage, ob im Bereich des jugendhilferechtlichen Leistungsrechts eine Anwendung des § 44 SGB X überhaupt rechtlich möglich ist, in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist. Innerhalb des von § 161 VwGO eröffneten Prüfungsrahmens ist es nicht geboten, diese grundsätzliche Frage abschließend zu beantworten.

2.

Unter der Annahme einer Aktivlegitimation der Klägerin und einer Anwendbarkeit des § 44 SGB X auf die vorliegende Konstellation hätte die Klage allerdings voraussichtlich zumindest teilweise Erfolg gehabt.

a)

Bei summarischer Würdigung war der Bescheid der Beklagten vom C. über die Einstellung der bisher gewährten Jugendhilfeleistungen zu Gunsten des Pflegekindes der Klägerin mit Ablauf des E. rechtswidrig.

Zwischen den Beteiligten ist insoweit unstreitig, dass wegen der Regelung in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Leistungen an das Pflegekind der Klägerin vorrangig nach dem SGB XII zu erbringen waren. Diesbezüglich hatte der zuständige Leistungsträger am 27.02.2017 auch der Beklagten mitgeteilt, dass er seine Leistungszuständigkeit anerkenne und in die Leistungsgewährung eintreten werde. Allein damit waren aber keine Umstände eingetreten, die die (sachlich nachrangige) Pflicht der Beklagten zur Leistung von Jugendhilfe hatten entfallen lassen und damit rechtlich eine Aufhebung des zuvor von ihr zuletzt erlassenen Bewilligungsbescheides über die Gewährung von Jugendhilfe zugelassen hätten.

Als Rechtsgrundlage für den Bescheid vom C. kam allein § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Betracht, da die bisherige Leistungsgewährung wegen § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht rechtswidrig war. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X hätte es einer „wesentlichen Änderung“ in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen bei Erlass des zuvor ergangenen Bewilligungsbescheides bedurft, um diesen mit der Wirkung einer Leistungseinstellung aufheben zu können. Das war aber weder bei Erlass des Einstellungsbescheides am C. noch bei Eintritt seiner inneren Wirksamkeit mit Ablauf des E. der Fall.

Die tatsächlichen Verhältnisse hatten sich durchgehend nicht geändert. Als wesentlich in rechtlicher Hinsicht wäre eine Änderung nur eingetreten, wenn sie dazu geführt hätte, dass die (sachlich nachrangige) Leistungspflicht der Beklagten so weit hinter die vorrangige Leistungspflicht des SGB XII-Leistungsträgers zurückgetreten war, dass die Beklagte nicht mehr selbst leisten musste. Der Umstand, dass ein anderer Leistungsträger seine vorrangige Leistungszuständigkeit gegenüber dem bisher tätig gewordenen Jugendhilfeträger anerkennt und seine Bereitschaft zur Fallübernahme erklärt, stellt eine solche Änderung für sich genommen jedoch keinesfalls dar. Denn mit diesen Erklärungen allein hatte der vorrangig zuständige SGB XII-Leistungsträger den Hilfefall gegenüber der Hilfeberechtigten noch gar nicht geregelt, seine vorrangige Leistungszuständigkeit also im Außenrechtsverhältnis überhaupt noch nicht wahrgenommen. Solange aber der vorrangig zuständige Leistungsträger im Außenrechtsverhältnis überhaupt noch nicht tätig geworden ist, kann die nachrangige Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers von vornherein nicht hinter die vorrangige Leistungspflicht des anderen Leistungsträgers zurücktreten.

Entgegen der Auffassung der Beklagten hatte der SGB XII-Leistungsträger die Hilfegewährung zudem ab dem F. weder rechtlich noch auch nur faktisch „nahtlos fortgesetzt“ und damit seine vorrangige Leistungspflicht in einer Weise wahrgenommen, die die nachrangige Leistungspflicht der Beklagten zu diesem Zeitpunkt hatte zurücktreten lassen können und damit zumindest ab dem Zeitpunkt eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse herbeigeführt hatte. Dabei wäre die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob der SGB XII-Leistungsträger rechtlich verpflichtet gewesen wäre, die bisherige Leistung nach Art und Umfang unverändert fortzuführen, nicht zu entscheiden gewesen. Darauf kam es vorliegend deshalb nicht an, weil der SGB XII-Leistungsträger den Hilfefall auch zum F. gegenüber der Hilfeberechtigten noch nicht geregelt hatte. Er hatte vielmehr zunächst – deutlich nach dem F. und ohne auch nur insoweit eine rechtlich verbindliche Regelung zu treffen – lediglich vorläufige Abschlagszahlungen geleistet, eine Entscheidung über die genaue Ausgestaltung der Hilfe nach Inhalt und Umfang aber mit Schreiben vom 23.05.2017 und 29.05.2017 ausdrücklich für einen erst späteren Zeitpunkt angekündigt.

b)

Soweit die Klägerin mit ihrer Klage zusätzlich die „Verpflichtung“ der Beklagten begehrt hat, die „bis zum E. gewährten Leistungen vorläufig fortzusetzen“, hätte sie voraussichtlich keinen Erfolg gehabt. Es ist bereits unklar, ob damit, wie der Wortlaut nahelegt, ein Verpflichtungsbegehren auf Erlass eines rückwirkenden Leistungsbescheides oder ein bloßes Leistungsbegehren geltend gemacht war. Sollte ersteres gemeint gewesen sein, wäre die damit aufgeworfene prozessuale Frage, ob in Fällen des § 44 SGB X vor Gericht allein die Aufhebung des Bescheides geltend gemacht werden kann, mit dem die Behörde eine Abänderung des zwischenzeitlich bestandskräftig gewordenen Ursprungsbescheides ablehnt hat, oder ob darüber hinaus auch unmittelbar oder mittelbar rückwirkend das mit dem Ursprungsbescheid negativ beschiedene Leistungsbegehren verfolgt werden kann, voraussichtlich nicht zu entscheiden gewesen. Denn für den Bereich der Jugendhilfe ist inzwischen in der Rechtsprechung geklärt, dass eine Verpflichtung des zuständigen Jugendhilfeträgers zu einer rückwirkenden Leistungsgewährung mittels eines entsprechenden Bewilligungsbescheides nicht in Betracht kommt. Soweit ein Leistungszeitraum in der Vergangenheit betroffen ist, für den ein Bewilligungsbescheid nicht existiert, regelt vielmehr § 36a Abs. 3 SGB VIII das Rechtsverhältnis zwischen dem Hilfeberechtigten und dem Jugendhilfeträger.

Hätte das Gericht den Klageantrag in diese Richtung ausgelegt oder umgedeutet, wäre er bei summarischer Würdigung mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig gewesen. Da nämlich nach den obigen Ausführungen unter der Annahme einer Aktivlegitimation der Klägerin und einer Anwendbarkeit des § 44 SGB X auf die vorliegende Fallkonstellation der Bescheid der Beklagten vom G. aufzuheben und entweder diese zu verpflichten gewesen wäre, den rechtswidrigen Bescheid vom C. aufzuheben, oder aber auch der Bescheid vom C. vom Gericht selbst aufzuheben gewesen wäre, wäre infolgedessen die mit Bescheid vom C. erfolgte Leistungseinstellung der Beklagten rechtlich inexistent geworden. Das wiederum hätte zur Folge gehabt, dass der zuvor ergangene letzte Bewilligungsbescheid der Beklagten rechtlich als weiterhin existent anzusehen gewesen wäre und damit (weiterhin) eine Rechtsgrundlage für die von der Klägerin letztlich begehrte Übernahme der Kosten für die von der H. ab dem F. in Rechnung gestellten Betreuungsleistungen dargestellt hätte. Eines im vorliegenden Verfahren gesondert zu erstreitenden weiteren Rechtstitels gegen die Beklagte hätte es insoweit mithin nicht bedurft.

3.

In einer Abwägung der dargestellten prozessualen und materiell-rechtlichen Fragestellungen erscheint dem Gericht eine hälftige Kostenteilung angemessen.

Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.