Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 22.02.2008, Az.: 1 B 3/08
Aufschiebende Wirkung; Suspensiveffekt; Vollzugsanordnung; Vollziehung, sofortige; Aussetzung der Vollziehung; Interessenabwägung; Wahrscheinlichkeit; Offensichtlichkeit; Rechtmäßigkeit; Exmatrikulation; Übergangsregelung; Verwirkung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.02.2008
- Aktenzeichen
- 1 B 3/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 45919
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2008:0222.1B3.08.0A
Rechtsgrundlagen
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Auch bei einem offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelf kann ein öffentliches Interesse am Vollzug des rechtmäßigen Verwaltungsaktes fehlen.
- 2.
Die Rechtmäßigkeit ist lediglich Voraussetzung für den Erlass des Verwaltungsaktes, nicht jedoch für den sofortigen Vollzug.
- 3.
Im Aussetzungsverfahren hat das Gericht nicht (nur) die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes zu prüfen, sondern es hat unter Abwägung aller Umstände - eigenständig - zu prüfen, ob es bei der aufschiebenden Wirkung des § 80 Abs. 1 VwGO verbleiben soll oder einem Vollzugsinteresse der Vorrang gebührt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen seine Exmatrikulation.
Der Antragsteller ist seit dem 10. September 1991 im Diplomstudiengang "Betriebswirtschaftslehre" immatrikuliert. Mit Formularantrag vom 22. Mai 1996 meldete er sich zu allen Vordiplom-/Grundstudiumklausuren im Sommersemester 1996 an. Mit Schreiben vom 29. Juni 1996 beantragte er beim Prüfungsamt nachträglich eine Abmeldung von den Klausuren im Grundstudium mit der Begründung, er habe seine Abmeldung wegen Abwesenheit nicht selbst (rechtzeitig) abgeben können, "man habe ihm aber die Abgabe versichert". Mit Schreiben vom 12. Juli 1996 lehnte die Antragsgegnerin den nachträglichen Rücktrittsantrag ab mit dem Hinweis, dass die Klausuren als nicht bestanden gelten. Das Schreiben wurde per Einschreiben an die Heimatadresse des Antragstellers ("C.") versandt; das Schriftstück nahm die Mutter des Antragstellers entgegen. Von den Klausuren im Grundstudium trat der Antragsteller erneut im Wintersemester 1996/97 und im Sommersemester 1997 zurück. Der Antragsteller war bis zum Sommersemester 2007 eingeschrieben, wobei er bislang eine Prüfungsleistung erbracht hat, einen nicht bewerteten EDV-Schein im März 1992.
2003 wurde die Diplomprüfungsordnung für den Studiengang "Betriebswirtschaftslehre" geändert, u.a. auch die Vorschriften zum Nichtbestehen der Diplomvorprüfung. Die Diplomprüfungsordnung wurde aufgrund von Übergangsvorschriften erstmals im Wintersemester 2004/2005 angewandt.
Im Fall des Antragstellers erfasste die Antragsgegnerin dessen handschriftlich vorhandene Prüfungsdaten erst im Sommersemester 2007 im eingesetzten Computerprogramm. Dieses führte dazu, dass der Prüfungsausschuss mit Bescheid vom 11. Juli 2007 feststellte, dass die Diplomvorprüfung nach der geänderten Diplomvorprüfung nicht bestanden sei. Der Antragsteller sei ohne Angabe von triftigen Gründen zu den verbindlichen Klausuren im Sommersemester 1996 nicht erschienen. Er sei mit Schreiben vom 12. Juli 1996 davon in Kenntnis gesetzt worden, dass diese mit "nicht bestanden" gewertet worden seien. Ein Widerspruch gegen den Bescheid vom 12. Juli 1996 sei nicht erhoben worden.
Die Antragsgegnerin exmatrikulierte den Antragsteller zunächst mit Bescheid vom 22. August 2007, hob diesen mit Bescheid vom 25. Oktober 2007 aus formalen Gründen auf und exmatrikulierte den Antragsteller erneut unter Anordnung der sofortigen Vollziehung.
Mit Schreiben vom 17. Oktober 2007 erhob der Antragsteller Widerspruch gegen den Prüfungsbescheid vom 11. Juli 2007.
Am 26. November 2007 erhob der Antragsteller Klage (1 A 222/07) gegen die Exmatrikulation mit Bescheid vom 25. Oktober 2007 und beantragte am 15. Januar 2008 vorläufigen Rechtsschutz. Das Schreiben der Antragsgegnerin vom 12. Juli 1996 sei dem Antragsteller nicht ordnungsgemäß zugestellt worden. Es enthalte auch keine Regelung dahingehend, dass die Klausuren wegen nicht rechtzeitiger Abmeldung nicht bestanden seien. Das Nichtbestehen der Klausuren sei daher nicht festgestellt, so dass die Grundlage für eine Exmatrikulation fehle. Da die Antragsgegnerin erstmals mit Bescheid vom 11. Juli 2007 - mithin nach über 11 Jahren - den Antragsteller vom Nichtbestehen der Klausuren förmlich in Kenntnis gesetzt habe, sei die Möglichkeit einer Exmatrikulation jedenfalls verwirkt. Wegen dieser Zeitspanne könne ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Exmatrikulation nicht bestehen.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Exmatrikulation des Antragstellers vom 25. Oktober 2007 wieder herzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Widerspruch gegen den Prüfungsbescheid ist zwischenzeitlich mit Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 2008 zurückgewiesen worden. Auch hiergegen hat der Antragsteller Klage erhoben (1 A 20/08).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte, den der Gerichtsakten 1 A 222/07 und 1 A 20/08 sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage in dem Verfahren 1 A 222/07 gegen die Exmatrikulationsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. Oktober 2007 wiederherzustellen, hat keinen Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage wiederherstellen. Hierbei sind regelmäßig die beiderseitigen Interessen gegeneinander abzuwägen, d.h. einerseits das Interesse des vom Verwaltungsakt Betroffenen daran, von dessen Wirkungen bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit verschont zu bleiben, andererseits das von der Behörde vertretene öffentliche Interesse daran, den Verwaltungsakt schon vor Eintritt seiner Unanfechtbarkeit durchzusetzen. Bei dieser Interessenabwägung ist der voraussichtliche Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache zu berücksichtigen. Das öffentliche Interesse ist um so schwerer zu werten, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist. Auf der anderen Seite besteht kein öffentliches Interesse daran, einen Verwaltungsakt durchzusetzen, der offensichtlich nicht rechtmäßig ist.
Allerdings kann auch bei einem offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelf ein öffentliches Interesse am sofortigen Vollzug des offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsaktes fehlen oder kann seine sofortige Vollziehung gegen Grundsätze der Gleichbehandlung, der Verhältnismäßigkeit oder Billigkeit verstoßen. Denn die Rechtmäßigkeit ist lediglich Voraussetzung des Erlasses eines Verwaltungsaktes, nicht auch seiner sofortigen Umsetzung und seines umgehenden Vollzuges (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften 12, 4. Auflage, Rdn. 860/861 m.w.N.): Das Gericht hat im Aussetzungsverfahren nicht nur die Aufgabe, die - mehr oder weniger offensichtliche - Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes zu prüfen, sondern es hat unter Abwägung aller Umstände eigenständig zu prüfen, ob es bei der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 1 VwGO verbleiben soll oder dem verwaltungsseitig dargelegten Vollzugsinteresse der Vorrang gebührt.
Die von der Antragsgegnerin verfügte Exmatrikulation des Antragstellers dürfte rechtmäßig sein. Ihre Rechtsgrundlage findet sie in § 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2b) NHG i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 2b) der Immatrikulationsordnung der Antragsgegnerin. Hiernach hat die Exmatrikulation zu erfolgen, wenn eine Vor-, Zwischen- oder Abschlussprüfung endgültig nicht bestanden wurde oder der Studierende nach den Bestimmungen, die für sein Studium maßgebend sind, den Prüfungsanspruch verloren hat. Dieses ist beim Antragsteller nach der für ihn maßgeblichen Regelung des § 21 Abs. 5 der am 21. Mai 2003 bekannt gemachten Diplomprüfungs- und Studienordnung für den Studiengang Betriebswirtschaftlehre der Antragsgegnerin (DPO 2003) der Fall. Danach ist die Diplomvorprüfung endgültig nicht bestanden, wenn nach Abschluss eines jeden Fachsemesters die Durchschnittsnote der Diplomvorprüfung schlechter als 4,0 lautet. Nach § 10 Abs. 1 DPO gilt eine Prüfungsleistung mit "nicht ausreichend" bewertet, wenn der Prüfling ohne triftige Gründe nicht zu einem Prüfungstermin erscheint. Die für den Rücktritt geltend gemachten Gründe müssen dem Prüfungsausschuss unverzüglich schriftlich angezeigt und glaubhaft gemacht werden, anderenfalls gilt die entsprechende Prüfungsleistung als mit "nicht ausreichend" bewertet. Hier hat der Antragsteller im Sommersemester 1996 weder dargelegt, aus welchen Gründen ein Rücktritt erfolgt ist, noch, warum der Rücktritt nicht rechtzeitig erfolgen konnte. Die bloße Mitteilung (vgl. Bl. 12 der Beiakte A), dass er den Rücktritt wegen Abwesenheit nicht persönlich einwerfen konnte, "man" ihm aber "versichert" habe, dass er abgegeben worden sei, ist nicht ausreichend. Aufgrund des nicht genehmigten Rücktritts im Sommersemester 1996 sind die Klausuren daher als nicht bestanden zu werten.
Die Wertung der Prüfungsleistungen als "nicht bestanden" wurde dem Antragsteller mit Schreiben vom 12. Juli 1996 auch ordnungsgemäß durch Zustellung per Einschreiben bekannt gemacht. Die Zustellung per Einschreiben kann auch durch Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks an ein Familienmitglied bewirkt werden (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., § 41 Rn 16). Die Übergabe des Schreibens vom 12. Juli 1996 an seine Mutter unter der vom Antragsteller als zustellfähige Anschrift angegebenen Heimatadresse ist daher ausreichend.
Aufgrund der nichtbestandenen Klausuren im Sommersemester 1996 ist nach dem Inhalt der geänderten DPO 2003 die Diplomvorprüfung endgültig nicht bestanden mit der Folge, dass der Antragsteller zu exmatrikulieren ist.
Die Möglichkeit der Exmatrikulation ist entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht "verwirkt". Die Exmatrikulation nach § 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2b) NHG i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 2b) der Immatrikulationsordnung ist eine Folgeentscheidung des Prüfungsbescheids, deren Rechtmäßigkeit allein an dessen Existenz, nicht dagegen an dessen Bestandskraft anknüpft (Zimmerling/Brehn, Prüfungsrecht, Rn 649 m.w.N.). Mit Erlass des (negativen) Prüfungsbescheids unter dem 11. Juli 2007 war der Antragsteller daher zu exmatrikulieren. Dieses hätte zwar, entsprechend der für die DPO 2003 vorgesehenen Übergangsregelung, bereits zum Wintersemester 2004/05 erfolgen können. Das späte Tätigwerden der Antragsgegnerin - begründet durch technische Umstände - entbindet diese jedoch nicht von den bindenden Vorgaben der DPO 2003. Im Übrigen hat der Antragsteller auch kein schutzwürdiges Vertrauen dahin gehend erlangt, dass die Antragsgegnerin ihn etwa nicht exmatrikulieren werde und er seine Diplomvorprüfung noch absolvieren könne. Dieser hat spätestens seit dem Sommersemester 1997 sein Studium eingestellt, da er sich seither zu keiner Klausur angemeldet hat. Der lediglich formale Status eines Studierenden reicht nicht, aufgrund des Zeitablaufs von einer Verwirkung der Exmatrikulationsmöglichkeit auszugehen.
Im Übrigen genügt die Anordnung der sofortigen Vollziehung dem in § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO normierten Begründungserfordernis. Die Antragsgegnerin hat das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der Exmatrikulation wegen Nichtbestehens der Prüfung damit begründet, dass es im begründeten Interesse liegt, Studierende, welche eine Prüfung endgültig nicht bestanden haben, von der Teilnahme an Lehrveranstaltungen und Klausuren auszuschließen, damit im Interesse anderer Studierender die knappen Ressourcen der Hochschule nicht zu Unrecht geschmälert werden.
Auch wenn im Fall des Antragstellers jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass er die Ressourcen der Antragsgegnerin durch Teilnahme an Lehrveranstaltungen oder an Klausuren in Anspruch nimmt, tragen die Erwägungen der Antragsgegnerin unter Berücksichtigung der Interessen des Antragstellers hier ausnahmsweise ein besonderes Vollzugsinteresse. Grundsätzlich gilt, dass die Interessen des Betroffenen umso stärker wiegen, je gewichtiger die auferlegte Belastung ist und je mehr der Vollzug des Verwaltungsaktes Unabänderliches bewirkt. Die Gründe für das öffentliche Vollziehungsinteresse müssen daher im angemessenen Verhältnis zur Schwere des durch die behördliche Vollzugsanordnung bewirkten Eingriffs stehen und müssen es nach ihrem Gewicht ausschließen, die rechtskräftige Entscheidung des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Finkelnburg/Jank, Rn 864 m.w.N.). Da der Antragsteller sein Studium spätestens seit 1997 aufgegeben hat und nicht ersichtlich ist, dass er ernsthaft an der inhaltlichen Fortführung seines Studiums ein Interesse hat, wiegen die mit der sofortigen Vollziehung der Exmatrikulation verbundenen Folgen nicht schwer. Dies gilt umso mehr, weil der Antragsteller bei fortbestehender Immatrikulation weiterhin Studiengebühren zu entrichten hat, obwohl - wie bereits festgestellt- im eingeschriebenen Studiengang ein Abschluss nicht mehr erfolgen kann. Obwohl die Antragsgegnerin bereits seit mehreren Semestern den lediglich formalen Studentenstatus des Antragstellers geduldet hat, kommt daher hier dem öffentlichen Interesse, die Exmatrikulation nunmehr für sofort vollziehbar zu erklären, ein Vorrang zu. Denn eine Inanspruchnahme von Ressourcen erfolgt auch durch lediglich formal eingeschriebene Studierende, die knappe Studienplätze ohne erkennbare Studientätigkeit belegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Die Kammer folgt der ständigen Festsetzungspraxis des 2. Senats des Nds. OVG (vgl. Beschluss des Nds. OVG vom 6. Juni 2006 - 2 ME 723/06 ), wonach das Interesse, durch eine vorläufige Regelung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren an einer Hochschule studieren zu können, dem Interesse in einem Hauptsacheverfahren entspricht, mithin auch im einstweiligen Rechtsschutz der Streitwert des Hauptsacheverfahrens (5 000 €) festzusetzen ist.