Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.04.2003, Az.: 4 L 3271/00
Erziehungsbeihilfe; Fachhochschule; Förderung; Grundrente; Kriegsopferfürsorge; Studium; Zweitausbildung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 07.04.2003
- Aktenzeichen
- 4 L 3271/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48601
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 03.08.2000 - AZ: 9 A 4508/98
Rechtsgrundlagen
- § 27 Abs 1 S 1 BVG
- § 31 BVG
- § 18 Abs 2 KFürsV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Erziehungsbeihilfe ist auch für eine Zweitausbildung (hier: für das Studium der Rechtswissenschaften im Anschluss an den Besuch der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung) zu leisten, wenn besondere Umstände des Einzelfalles dies rechtfertigen, um dem Kind des Beschädigten zu einem seiner Eignung, Neigung und Fähigkeit angemessenen Beruf zu verhelfen. Dabei ist die besondere Funktion der Kriegsopferfürsorge ("Ernährer-Ersatz-Funktion") zu berücksichtigen und auf die mutmaßlichen Erwägungen eines verständigen, einerseits auf die Förderung seines Kindes, andererseits auf seine finanzielle Leistungsfähigkeit und Schonung seiner finanziellen Mittel bedachten Vaters abzustellen.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig und auch begründet.
Der hinreichend dargelegte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist gegeben. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, da mehr dafür als dagegen spricht, dass die Klage des Klägers auf Gewährung von Erziehungsbeihilfe nach § 27 BVG für seinen Sohn Martin Erfolg haben wird.
Der im Jahre 1942 geborene Kläger ist infolge einer nach dem Bundesversorgungsgesetz anerkannten Schädigung (chronische Mittelohrentzündung und Hirnhautentzündung) taubstumm. Seine Ehefrau ist ebenfalls gehörlos. Der Grad seiner Behinderung beträgt 100. Er ist (oder war) bei VW als Arbeiter beschäftigt. Sein im Jahre 1973 geborener Sohn Martin bestand im Jahre 1992 das Abitur und leistete anschließend Zivildienst. Am 28. April 1993 wurde dessen Sohn Lukas geboren. Er bezog mit seiner Partnerin und dem gemeinsamen Kind eine Wohnung. Zum 1. August 1993 begann er bei der Landeshauptstadt Hannover, die ihn in das Beamtenverhältnis auf Widerruf (zum Inspektor-Anwärter) berief, die Ausbildung zum gehobenen allgemeinen Verwaltungsdienst. Gleichzeitig besuchte er die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Hildesheim. Erziehungsbeihilfe für diese Ausbildung wurde nicht gewährt, da das Einkommen des Klägers (Arbeitsverdienst), soweit es einzusetzen war, und das Einkommen seines Sohnes (Anwärterbezüge) dessen Bedarf und den seiner Partnerin und seines Kindes überstieg. Mitte des Jahres 1995 trennten sich der Sohn des Klägers und seine Partnerin, er zog wieder zu seinen Eltern, sein Kind blieb bei der Mutter. Im Jahre 1996 bestand er die Prüfung zum Dipl.-Verwaltungswirt (FH). Anschließend war er bei der Landeshauptstadt Hannover im Beamtenverhältnis auf Probe im gehobenen Dienst als Sachbearbeiter im Sozialamt (Bereich Hilfe zum Lebensunterhalt) tätig. Zum Sommersemester 1997 nahm er, nachdem er sich von der Landeshauptstadt Hannover unter Wegfall der Dienstbezüge hatte beurlauben lassen, an der Universität Hannover das Studium der Rechtswissenschaften auf. Die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) hatte ihm einen Studienplatz für ein Zweitstudium zugewiesen, da nach den Vergaberichtlinien das Studium der Rechtswissenschaften eine sinnvolle Ergänzung des Fachhochschulstudiums der Fachrichtung öffentliche Verwaltung ist.
Der Landkreis Hannover - Fürsorgestelle - lehnte den Antrag des Klägers, ihm für das Studium seines Sohnes Erziehungsbeihilfe zu gewähren, durch Bescheid vom 10. April 1997 mit der Begründung ab, dass dieser mit der Ausbildung zum Dipl.-Verwaltungswirt (FH) und zugleich der Laufbahnprüfung für den gehobenen allgemeinen Verwaltungsdienst einen angemessenen Beruf erlangt und damit keinen Anspruch auf Förderung eines Zweitstudiums habe. Das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1998 zurück. Auch die Klage ist erfolglos geblieben.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVG erhalten Beschädigte, die - wie der Kläger - Grundrente nach § 31 BVG beziehen, Erziehungsbeihilfe für ihre Kinder. Die Erziehungsbeihilfe soll eine Erziehung zu körperlicher, geistiger und sittlicher Tüchtigkeit sowie eine angemessene, den Anlagen und Fähigkeiten entsprechende allgemeine und berufliche Ausbildung sicherstellen (§ 27 Abs. 1 Satz 2 BVG). Zu fördern ist eine Schul- und Berufsausbildung, die dem Auszubildenden dazu verhelfen soll, einen seiner Eignung, Neigung und Fähigkeit angemessenen Beruf zu erlangen (§ 18 Abs. 2 Satz 1 KFürsV). Der Sohn des Klägers hat mit der Ausbildung zum Dipl.-Verwaltungswirt (FH), der Laufbahnprüfung für den gehobenen allgemeinen Verwaltungsdienst, einen berufsqualifizierenden Abschluss erlangt. Grundsätzlich ist die Tätigkeit im gehobenen Verwaltungsdienst auch ein "angemessener Beruf" und ermöglicht eine angemessene Lebensstellung und ein angemessenes Fortkommen in dem gewählten Beruf. Das allein schließt jedoch die Förderung einer weiteren Ausbildung (einer Zweitausbildung, eines Zweitstudiums) noch nicht aus. Der erlangte Beruf muss auch "der Eignung, Neigung und Fähigkeit" des Kindes des Beschädigten entsprechen. Der Sohn des Klägers hat mit der Erlangung der allgemeinen Hochschulreife die Eignung zu einer höherwertigen Ausbildung, zu einem Hochschulstudium, bewiesen. Er hat ferner glaubhaft gemacht, dass die angestrebte berufliche Tätigkeit als Volljurist (z. B. im höheren allgemeinen Verwaltungsdienst) seiner Neigung und seiner Fähigkeit entspricht. Die Frage ist, ob ihm diese angemessene Berufsausbildung (noch) mit Mitteln der Kriegsopferfürsorge zu ermöglichen ist, obwohl er diese gewünschte Ausbildung schon früher, nämlich unmittelbar nach Abitur und Zivildienst, und ohne den Umweg über den Besuch einer Fachhochschule hätte wählen können.
Die §§ 27 BVG, 18 ff. KFürsV enthalten selbst keine Regelungen darüber, unter welchen Voraussetzungen eine Zweitausbildung gefördert werden kann. Der beschließende Senat hat in Fällen dieser Art die Maßstäbe herangezogen, die im Recht der Ausbildungsförderung gelten (z. B. im Urt. v. 13. 6. 1990 - 4 L 205/89 - den § 7 Abs. 2 Satz 2 BAföG für das zur Ausbildung zum Kieferchirurgen vorgeschriebene Studium der Zahnmedizin nach abgeschlossenem Studium der Humanmedizin; Urt. v. 8. 11. 1989 - 4 L 45/89 - zum Studium der Agrarwissenschaften nach Abschluss des Besuchs der Fachhochschule - Landwirtschaft -, durch den erstmals die allgemeine Hochschulreife erlangt wurde; Urt. v. 8. 10. 1986 - 4 OVG A 15/84 - zur Fortbildung zum Organisationsprogrammierer nach Ausbildung zum Industriekaufmann; Urt. v. 21. 8. 1986 - 4 OVG A 131/84 - zur Ausbildung zum Dipl.-Supervisor für Sozialberufe nach Ausbildung zum Sozialarbeiter; in Fällen der Förderung einer anderen nach Abbruch der ersten Ausbildung oder nach einem Fachrichtungswechsel hat er § 7 Abs. 3 BAföG entsprechend angewandt, z. B. Urt. v. 8. 3. 1989 - 4 L 46/89 -). Die entsprechende Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG scheidet hier aus, da dem Sohn des Klägers - wie erwähnt - nicht erst mit dem Abschluss des Fachhochschulbesuchs der Zugang zu dem gewünschten Hochschulstudium eröffnet worden ist. Im übrigen ist eine weitere Voraussetzung dieser Vorschrift nicht erfüllt, nämlich dass die gewünschte weitere Ausbildung (Studium der Rechtswissenschaften) die vorhergehende (FH - Verwaltung -) "in derselben Richtung fachlich weiterführt" (BVerwG, Beschl. v. 3. 11. 1995 - BVerwG 5 B 8.95 - Buchholz 436.36 § 7 BAföG Nr. 114; Bay VGH, Urt. v. 2. 10. 1997 - 12 B 97.188 - VGHE 51, 83). Der Umstand, dass bei der Vergabe von Studienplätzen das Studium der Rechtswissenschaft als "sinnvolle Ergänzung" des Fachhochschulstudiums der öffentlichen Verwaltung angesehen wird und solche Bewerber bevorzugt werden, reicht also nicht, um auch eine Förderung des Zweitstudiums mit öffentlichen Mitteln zu rechtfertigen. Die anderen in § 7 Abs. 2 Satz 1 BAföG geregelten Fälle liegen hier offensichtlich nicht vor.
§ 7 Abs. 2 Satz 2 BAföG enthält jedoch einen Auffangtatbestand (Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 3. Aufl., 1991, § 7 Rdnr. 31). Danach wird im Übrigen Ausbildungsförderung für eine einzige weitere Ausbildung nur geleistet, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles, insbesondere das angestrebte Ausbildungsziel, dies erfordern. Besondere ausbildungsbedingte Umstände erfordern hier nicht die Förderung des gewünschten Zweitstudiums. Es können jedoch besondere persönliche Umstände bei dem Sohn des Klägers vorliegen. Entgegen der Auffassung des Beklagten im Widerspruchsbescheid ist im Rahmen der Erziehungsbeihilfe nicht Voraussetzung, dass solche besonderen Umstände schädigungsbedingt sind. Hier geht es um die Ausbildung des Sohnes des Kriegsbeschädigten und die in seiner Person liegenden besonderen Umstände, die für die Förderung einer Zweitausbildung sprechen können. Er hat hierzu geltend gemacht, er habe sich im Jahre 1993 nach der Geburt seines Sohnes verpflichtet gefühlt, eine Ausbildung zu wählen, die es ihm ermöglichte, zugleich für den Lebensunterhalt seines Kindes und seiner Partnerin aufzukommen, mit denen er damals in häuslicher Gemeinschaft lebte. Die Anwärterbezüge, das Kindergeld und das Erziehungsgeld für die Mutter ermöglichten ihm dies. Dafür hat er sich bei der Wahl der Ausbildung beschieden. Diese damals für die Wahl einer geringerwertigen Ausbildung maßgeblichen Gründe sind nach Auffassung des Senats auch förderungsrechtlich zu respektieren. Ihnen kann nicht - wie es der Beklagte und das Verwaltungsgericht tun - entgegengehalten werden, der Sohn des Klägers hätte, um förderungsrechtliche Nachteile zu vermeiden, zum frühestmöglichen Zeitpunkt das gewünschte Studium aufnehmen müssen und seinen Sohn und seine Partnerin der Sozialhilfe überantworten können. Es ist vielmehr anzuerkennen, dass er sich - schon in sehr jungen Jahren - seiner Verantwortung gegenüber seinem Kind und seiner Partnerin gestellt hat, ohne Mittel der Sozialhilfe oder Kriegsopferfürsorge in Anspruch zu nehmen.
Letztlich kann jedoch offen bleiben, ob die genannten Gründe als "besondere Umstände des Einzelfalles" im Sinne des § 7 Abs. 2 Satz 2 BAföG anzuerkennen wären. Denn die Grundsätze des Ausbildungsförderungsrechts sind nicht schematisch auf das Gebiet der Kriegsopferfürsorge zu übertragen. Mit Rücksicht auf die Funktion der Kriegsopferfürsorge, wegen des Verlustes des Ernährers oder der schädigungsbedingten Verminderung seiner Leistungsfähigkeit einen wirtschaftlichen Ausgleich zu schaffen ("Ernährer-Ersatz-Funktion" der Kriegsopferfürsorge) hängen Art und Umfang der Hilfe vielmehr von dem mutmaßlichen Leistungsvermögen des gefallenen oder beschädigten Ernährers und dessen Verständnis für die Ausbildungswünsche seines Kindes ab; abzustellen ist dabei auf die Erwägungen eines verständigen, einerseits auf die Förderung seines Kindes, andererseits auf die Berücksichtigung seiner finanziellen Leistungsfähigkeit und Schonung seiner finanziellen Mittel bedachten Vaters (Urt. d. Sen. v. 13. 3. 1985 - 4 OVG A 79/83 -; ähnlich OVG NRW, Urt. v. 1. 7. 1971 - VIII A 367/70 - FEVS 19, 298). Nach Auffassung des Senats spricht hier Vieles dafür, dass ein solcher Vater dem Ausbildungswunsch seines Kindes entsprechen würde. Denn der Sohn des Klägers hat hier nicht leichtfertig oder aus sonst von ihm zu vertretenden Gründen, sondern aus Pflicht- und Verantwortungsgefühl gegenüber seinem Kind und dessen Mutter seinen Ausbildungs- und Berufswunsch zunächst beschränkt. Ein fürsorgender Vater hätte dafür Verständnis und würde seinem Kind, wenn sich dessen Lebensplanung - wie hier durch die Trennung der Partner - ändert und es nunmehr im Alter von 24 Jahren den nach Eignung, Neigung und Fähigkeit angemessenen Beruf anstrebt, diesen Wunsch erfüllen und ihm nicht vorwerfen, er habe sich auf einen vermeidbaren "Umweg" begeben. Das gilt umso mehr, als der Vater - wie hier - die erste Berufsausbildung seines Kindes nicht zu finanzieren brauchte. Für die Finanzierung der Zweitausbildung spricht schließlich auch, dass sich dadurch zwar insgesamt der Ausbildungsgang verlängert, das Studium der Rechtswissenschaften aufgrund der Anrechnung von Leistungen aus dem Fachhochschulstudium aber zügig und zeitsparend betrieben und jedenfalls ohne erhebliche Überschreitung der Regel-Altersgrenze von 27 Jahren (§ 27 Abs. 6 BVG) beendet werden kann.