Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 22.02.2001, Az.: 6 A 512/00
Aufbauseminar; Fahrerlaubnis; Fahrerlaubnisentziehung; Punktsystem; theoretische Fahrprüfung; Verkehrsverstoß; Übergangsvorschrift
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 22.02.2001
- Aktenzeichen
- 6 A 512/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 39288
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 4 Abs 1 StVG
- § 3 Abs 1 StVG
- § 65 Abs 4 StVG
- § 46 FeV
- § 11 Abs 8 FeV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Missachtung einer Aufforderung zur Wiederholung der theoretischen Fahrprüfung unter Anwendung der Übergangsvorschriften des neuen StVG rechtfertigt eine Fahrerlaubnisentziehung auch dann, wenn die neue Regelung für Fahrerlaubnisinhaber günstiger wäre.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann eine vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8000,-- DM festgesetzt.
Tatbestand:
Der im Jahre 1969 geborene Kläger erhielt im Februar 1992 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3. Seitdem ist er mehrfach im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr auffällig geworden:
1. Am 25.08.1993 beging er mit einem PKW einen Kennzeichenmissbrauch, weswegen das Amtsgericht Plauen am 24.05.1994 gegen ihn eine Geldstrafe in Höhe von 10 Tagessätzen verhängte. Dies führte zu einer Eintragung von 6 Punkten im Verkehrszentralregister des Kraftfahrt-Bundesamtes.
2. Im September 1997 wurde der Kläger dabei ertappt, dass er ein nicht versichertes Kraftfahrzeug führte, woraufhin das Amtsgericht Hof durch Urteil vom 03.02.1998 den Kläger, auch mit Blick auf seine sonstigen Bestrafungen wegen verschiedener Vermögensdelikte, zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, ausgesetzt auf Bewährung, verurteilte. Wegen dieser Tat wurden dem Kläger weitere 6 Punkte im Verkehrszentralregister vermerkt.
3. Am 23.09.1997 hielt der Kläger bei einer Fahrt auf der Bundesautobahn 9 den erforderlichen Sicherheitsabstand von 47,5 Meter nicht ein, sondern fuhr bis auf 15,8 Meter an das vorausfahrende Fahrzeug heran. Die zentrale Bußgeldstelle im Bayerischen Polizeiverwaltungsamt verhängte deshalb mit Bußgeldbescheid vom 08.01.1998 gegen den Kläger ein Bußgeld in Höhe von 100 DM, was zu einer Eintragung von 2 Punkten im Verkehrszentralregister führte.
Nachdem der damals zuständige Landkreis Hildesheim von den Verkehrsverstößen zu Nr. 1 bis 2 Kenntnis erhalten hatte, verwarnte er den Kläger mit Schreiben vom 07.05.1998 und ermahnte ihn eindringlich zu künftigem verkehrsgerechten Verhalten. Nachdem der Punktestand des Klägers beim Verkehrszentralregister auf 14 Punkte angestiegen war, gab der nach einem Wohnsitzwechsel zuständig gewordene Landkreis Plauen dem Kläger mit Schreiben vom 02.09.1998 unter Hinweis auf die entstandenen Fahreignungszweifel Gelegenheit, zu den beabsichtigten Maßnahmen - u.a. Teilnahme an einem Aufbauseminar für Kraftfahrer - Stellung zu nehmen. Daraufhin legte der Kläger einen am 22.09.1998 mit einer Fahrschule geschlossenen Vertrag über die Teilnahme an einem Aufbauseminar vor. Trotz mehrmaliger Aufforderungen - zuletzt unter Fristsetzung bis zum 23.02.2000 - unterließ der Kläger es nachzuweisen, dass er an dem Aufbauseminar teilgenommen hat.
Aus diesem Grund gab die zwischenzeitlich infolge erneuten Wohnortwechsels zuständig gewordene Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 10.03.2000 unter Hinweis auf die begangenen Verkehrsverstöße zur Überprüfung seiner Fahreignung auf, entweder bei einem amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr erneut die theoretische Prüfung für die Klasse B abzulegen und ihr das Gutachten vorzulegen, oder an einem Aufbauseminar im Sinne des § 35 der Fahrerlaubnisverordnung teilzunehmen. Der Kläger lies die ihm gesetzte Auswahlfrist fruchtlos verstreichen, so dass die Beklagte beim TÜV Nord - wie angekündigt - den Auftrag zur Erstellung des Gutachtens einreichte. Zwei schriftlichen Aufforderungen, sich zum Prüfungstermin (am 22.05.2000 bzw. am 19.06.2000) einzufinden, kam der Kläger, der die ihm jeweils per Einschreiben zugesandten Schreiben nicht abholte, nicht nach.
Nach vorheriger Anhörung des Klägers entzog die Beklagte ihm daraufhin mit Bescheid vom 19.07.2000 - zugestellt am 04.08.2000 - die Fahrerlaubnis.
Den hiergegen am 04.09.2000 erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Braunschweig durch Widerspruchsbescheid vom 26.09.2000 - zugestellt am 27.09.2000 - als unbegründet zurück. Dabei trat sie der Argumentation des Klägers, die Beklagte habe das Gutachten zu Unrecht gefordert, u.a. unter Hinweis auf die bereits im Ausgangsbescheid erwähnten allgemeinen Straftaten entgegen und rechtfertigte unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den von der Beklagten mit Blick auf § 11 Abs. 8 FeV gezogenen Schluss von der Nichtvorlage des zu Recht geforderten Gutachtens auf die fehlende Fahreignung.
Am 25.10.2000 hat der Kläger dagegen vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig Klage erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor:
Aus den vom Kläger begangenen Verkehrsverstößen könne nicht auf die fehlende Fahreignung geschlossen werden, wie sich aus den Regelungen des § 4 StVG ergebe. Dem Wortlaut des § 65 Abs. 4 Satz 2 StVG könne nicht gefolgt werden, da ansonsten rechtstreue Verkehrsteilnehmer gleichheitswidrig schlechter gestellt würden. Die Beklagte habe schließlich hinreichend berücksichtigt, dass seit dem letzten Verkehrsverstoß mehr als drei Jahre verstrichen seien, in denen der Kläger jährlich etwa 50.000 km zurückgelegt habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 19.07.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 26.09.2000 aufzuheben.
Die Beklagte verteidigt die ergangenen Entscheidungen und beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde einem Kraftfahrzeugführer die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn er sich als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Ungeeignet ist nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wer gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze erheblich oder wiederholt verstoßen hat. Als ungeeignet in diesem Sinne darf von der Fahrerlaubnisbehörde auch ein Kraftfahrer, der eine ihm abverlangte Untersuchung nicht durchführen lässt oder das von ihm geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt, angesehen werden (§§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 8 FeV). Nach der für diese Regelung vom Verordnungsgeber (vgl. BR-Drs. 443/98 S. 254) in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verdichten sich die Zweifel an der Fahreignung zu der Gewissheit, dass der Kraftfahrer nicht geeignet ist, ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher zu lenken, weil aus dem Verhalten des Kraftfahrers zu schließen ist, er wolle Mängel, die seine Fahreignung ausschließen könnten, verbergen (BVerwG, Urt. v. 27.9.1995, BVerwGE 99, 249 = NZV 1996, 84 m.w.N.). Entsprechendes gilt im Falle fehlender Befähigung. Nach § 46 Abs. 4 ist die Fahrerlaubnis auch zu entziehen, wenn der Inhaber der Fahrerlaubnis sich als nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Dies ist hier der Fall.
Die Beklagte hat die mangelnde Befähigung des Klägers der Tatsache entnommen, dass er das von ihm schließlich geforderte Gutachten nicht beigebracht hat. Dazu war sie befugt, nachdem der Kläger der Aufforderung vom 10.03.2000 nicht gefolgt war. Diese hätte er nicht unbeachtet lassen dürfen, da sie rechtmäßig war. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in den Vorschriften des § 15 b Abs. 2 StVZO in Verbindung mit den dazu ergangenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 4 Satz 1 StVG für (ausschließlich) vor dem 01.01.1999 begangene Taten weiterhin anwendbar sind, und die dem andernfalls (ohne die Regelung des § 65 Abs. 4 Satz 1 StVG) einschlägigen (und eingreifenden) § 46 Abs. 4 FeV vorgehen. Nach § 15 b Abs. 2 StVZO in Verbindung mit § 3 Nr. 3 der maßgeblichen Verwaltungsvorschrift ist bei Erreichen eines Standes von 14 Punkten zu prüfen, ob der Betroffene noch ausreichende Kenntnisse der für den Führer eines Kraftfahrzeuges maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften besitzt und mit den Gefahren des Straßenverkehrs und den zu ihrer Abwehr erforderlichen Verhaltensweisen vertraut ist. Diese Prüfung hat - wie eine theoretische Fahrprüfung - aufgrund der zugelassenen Fragebogen durch einen amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr erfolgen. Dem hat die Aufforderung der Beklagten, die auch ansonsten fehlerfrei ergangen und durchgeführt worden ist, entsprochen. Der Kläger hat dazu hinreichenden Anlass gegeben. Die Nichteinhaltung des erforderlichen Sicherheitsabstandes sowie die in den Taten des Kennzeichenmissbrauchs und des Fahrens ohne Versicherungsschutz zum Ausdruck gekommene Rücksichtslosigkeit des Klägers gegenüber den gesundheitlichen wie finanziellen Interessen anderer Verkehrsteilnehmer sowie die Bereitschaft des Klägers, sich über geltende Vorschriften hinwegzusetzen, die er auch durch die nicht im Zusammenhang mit Verkehrsverstößen begangenen Straftaten gezeigt hat, haben begründete Zweifel daran aufkommen lassen, ob der Kläger die für eine Verkehrsteilnahme erforderlichen Kenntnisse überhaupt (noch) besitzt. Demgemäß musste die Beklagte, der sich weitergehende Zweifel hinsichtlich einer charakterlichen Ungeeignetheit jedenfalls nicht in einem Maße aufdrängen mussten, dass die angeordnete Überprüfung ungeeignet erscheinen musste, die genannte Aufforderung erlassen. Da der Kläger die ihm eingeräumte Möglichkeit, an einem Aufbauseminar nach § 35 FeV teilzunehmen, nicht genutzt hatte und der an ihn gerichteten Aufforderung vom 10.03.2000 zur Beibringung eines Gutachtens über die theoretische Prüfung weder innerhalb der gesetzten Frist noch bis zur Widerspruchsentscheidung nachgekommen ist, obgleich er auf die in einem solchen Fall mögliche Entziehung der Fahrerlaubnis hingewiesen worden ist, haben die Behörden schließlich auch ermessensfehlerfrei zu Recht angenommen, dass der Kläger nicht in der Lage ist, den von ihm geforderten Befähigungsnachweis zu erbringen.
Die gegen die angefochtene Entziehungsverfügung erhobenen rechtlichen Bedenken des Klägers erweisen sich als nicht begründet. Die Beklagte hat zutreffend angenommen, dass die Regelungen des Punktsystems nach § 4 StVG der getroffenen Entscheidung nicht entgegenstehen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG bestimmt ausdrücklich, dass das Punktsystem keine Anwendung findet, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer Maßnahmen aufgrund anderer Vorschriften, insbesondere der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 StVG - wie vorliegend - ergibt.
Entgegen der Auffassung des Klägers bestehen verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 65 Abs. 4 Satz 1 StVG nicht. Zwar bestimmt § 65 Abs. 4 Satz 2 StVG, dass Maßnahmen sich insgesamt nach dem Punktsystem des § 4 StVG richten, wenn nach dem 01.01.1999 weitere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten hinzugetreten sind. Soweit damit eine (teilweise) Schlechterstellung der nicht erneut auffällig gewordenen Verkehrsteilnehmer verbunden sein sollte, was hier nicht abschließend zu beurteilen ist, ginge sie ersichtlich nicht über die Grenzen des in einer Demokratie denknotwendig weiten Gestaltungsermessens des Gesetzgebers hinaus. Der Gesetzgeber hat das Punktsystem des § 4 StVG gegenüber dem früheren Recht verschärft, soweit nunmehr für den Fall des Erreichens eines Standes von 18 oder mehr Punkte ohne Weiteres davon auszugehen ist, dass der Betroffene (unwiderleglich) als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt und ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen ist. Vor diesem Hintergrund entbehrt es zumindest nicht eines sachlichen Grundes, dass für diejenigen Verkehrsteilnehmer, die mit der ersten nach dem 01.01.1999 begangenen Tat eine "kritische" Grenze überschritten haben, in § 4 Abs. 5 StVG gewisse Milderungen vorgesehen sind (vgl. dazu auch OVG Hamburg, Beschl. vom 25.11.1999, NZV 2000, 267 f [OVG Hamburg 25.11.1999 - 3 Bs 393/99]). Ohnehin fragt sich, ob der Kläger im Falle der Anwendung des neuen Rechts besser gestanden hätte, da zweifelhaft ist, ob die von ihm angesprochene Vorschrift des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG zum Zuge gekommen wäre. Danach ist der Betroffene bei Erreichen oder Überschreiten eines Punktestandes von 14 oder 18 Punkten so zu stellen, als habe er 9 Punkte, wenn die Fahrerlaubnisbehörde die "Maßnahmen nach Absatz 3 Satz 1 Nr. 1" nicht ergriffen hat. Viel spricht dafür, dass diese Begünstigung im Falle des Klägers nicht greifen würde. Insoweit kommt in Betracht, dass zu den genannten Maßnahmen auch solche zählen, die nach altem Recht ergangen sind und dem Sinn der Vorschrift des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG entsprechen. Dafür spricht im Falle des Klägers, dass er mit Schreiben des Landkreises Hildesheim vom 07.05.1998 verwarnt und auf die Möglichkeit einer Nachschulung hingewiesen worden ist. Ob dies in jeder Hinsicht den Anforderungen des neuen Punktsystems genügt, braucht hier indessen nicht entschieden zu werden, da es darauf - wie ausgeführt - nicht ankommt.
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Nebenentscheidungen im Übrigen beruhen auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 13 Abs. 1 GKG.