Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.11.2003, Az.: 1 ME 225/03
Aufenthalt; Aufenthaltsbefugnis; Aufenthaltserlaubnis; Aufenthaltszeit; Ausländer; Rücknahme; Widerspruch
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.11.2003
- Aktenzeichen
- 1 ME 225/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48442
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 01.08.2003 - AZ: 11 B 2469/03
Rechtsgrundlagen
- § 35 Abs 1 S 1 AuslG
- § 69 Abs 3 AuslG
- § 72 Abs 1 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Zeit eines Aufenthalts, für die eine Aufenthaltsbefugnis erteilt worden ist, zählt auch dann nach § 35 Abs. 1 S. 1 AuslG, wenn die Aufenthaltsbefugnis ohne Anordnung der sofortigen Vollziehung zurückgenommen worden ist und der Ausländer Widerspruch gegen die Rücknahme eingelegt hat.
Hat die Behörde bei Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ihr Ermessen -noch- nicht ausgeübt , kann dies vom Gericht nicht ersetzt werden.
Gründe
Der 1964 geborene Antragsteller reiste am 17. Februar 1992 aus der Demokratischen Republik Kongo in die Bundesrepublik ein und stellte einen Asylantrag. Die gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes erhobene Klage des Antragstellers wurde mit Urteil des Verwaltungsgericht vom 4. März 1999 abgewiesen. Die dem Antragsteller im März 1997 erteilte Aufenthaltsgestattung wurde mehrfach verlängert, ebenso wie die am 18. Mai 1999 erteilte Duldung, die letztmals am 12. November 2001 bis zum 28. Februar 2002 verlängert wurde. Am 20. Februar 2002 wurde dem Antragsteller ein Nationalpass ausgestellt. Am 27. Februar 2002 wurde ihm von dem Antragsgegner eine Aufenthaltsbefugnis erteilt, gültig bis zum 26. Februar 2003. Am 18. Februar 2003 beantragte der Antragsteller anlässlich einer Vorsprache beim Antragsgegner eine Aufenthaltsgenehmigung. Daraufhin wurde ein Vermerk über die nach § 69 AuslG eintretende Fiktion in seinen Nationalpass eingetragen mit Gültigkeit bis zum 18. Mai 2003, die verlängert wurde mit Gültigkeit bis 15. August 2003. Die seinerzeit zuständige Sachbearbeiterin hat die Gründe für die Erteilung der Aufenthaltsbefugnis in einem Vermerk niedergelegt und u.a. festgehalten, dass ihrer Ansicht nach eine Abschiebung unverhältnismäßig sei im Hinblick auf die bereits erfolgte Integration des Antragstellers. Am 5. März 2003 stellte der Antragsteller noch einen schriftlichen Antrag auf Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung. Nach Anhörung nahm der Antragsgegner mit Bescheid vom 27. Mai 2003 unter Ziff. 1 die unter dem 27. Februar 2002 erteilte Aufenthaltsbefugnis zurück und lehnte gleichzeitig unter Ziff. 2 den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung ab, setzte eine Ausreisefrist und drohte die Abschiebung an (Ziff. 3 u. 4). Gegen den Bescheid legte der Antragsteller Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Mit Beschluss vom 1. August 2003 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. In seiner Begründung verwies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen darauf, dass der Antragsteller nicht rechtzeitig vor Ablauf der ihm erteilten Aufenthaltsbefugnis nämlich erst am 5. März die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung beantragt habe und deshalb auch die Fiktion des § 69 AuslG nicht habe eintreten können.
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, die er beschränkt, soweit der Beschluss die Ziffern 2 bis 5 der angefochtenen Verfügung betrifft.
II.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ziffern 2 bis 5 der Verfügung des Antragsgegners vom 27. Mai 2003 ist anzuordnen.
Soweit sich der Antragsteller gegen die unter Ziffer 2 ausgesprochene Versagung der von ihm beantragten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis wendet, ist vorläufiger Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren (Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Stand April 2001, § 69 Rdnrn. 52 und 56). Zwar handelt es sich insoweit um einen Verpflichtungsantrag, der grundsätzlich nur mit einem Antrag nach § 123 VwGO im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verfolgt werden kann. Die im Ausländerrecht bestehende Besonderheit, dass durch die Ablehnung eines Antrags eine mit der Antragstellung verbundene Vergünstigung – die Fiktion nach § 69 Abs. 3 AuslG – entfällt und den Antragsteller gemäß § 42 Abs. 1 AuslG die sofort vollziehbare Ausreisepflicht trifft, so dass damit die Situation der Anfechtung eines Verwaltungsaktes vergleichbar ist (Hailbronner, AuslR, Stand 2003, § 69 Rdnr. 52), rechtfertigt in diesem Fall das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Der Antragsteller hat unstreitig am 18. Februar 2003 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war er im Besitz einer bis 26. Februar 2003 befristeten Aufenthaltsbefugnis. Der Antrag löste mithin die Fiktion des § 69 Abs. 3 Satz 1 AuslG aus.
Die mit dem Bescheid vom 27. Mai 2003 unter Ziffer 1 ausgesprochene Rücknahme der dem Antragsteller unter dem 27. Februar 2002 erteilten und bis 26. Februar 2003 befristeten Aufenthaltsbefugnis ändert an dieser Rechtslage nichts, weil die Rücknahmeverfügung die Duldungsfiktion des § 69 Abs. 3 nicht in Frage stellt.
Für den Erfolg des Aussetzungsantrages kommt es darauf an, ob dem Antragsteller voraussichtlich ein Anspruch auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 AuslG zusteht. Da die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 AuslG von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen werden, geht es allein um die Frage, ob der Antragsteller seit 8 Jahren eine Aufenthaltsbefugnis besitzt. Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 AuslG sind dem Antragsteller 7 Jahre und 2 Monate anzurechnen, die seit der Einreise bis zum rechtskräftigen Abschluss seines Asylverfahrens verstrichen sind. Dazu kommt das Jahr, für das der Antragsgegner mit Bescheid vom 27. Februar 2002 eine Aufenthaltsbefugnis erteilt hat. Die Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis mit Bescheid vom 27. Mai 2003 hat diese "Wohltat" nicht entfallen lassen, da der Antragsgegner die sofortige Vollziehung der Rücknahmeverfügung nicht angeordnet hat und der Widerspruch des Antragstellers aufschiebende Wirkung entfaltet. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung nach § 72 AuslG bezieht sich nur auf diese Fälle und kann nicht auf die Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis ausgedehnt werden. Unabhängig von dem Streit über die Reichweite der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 6 VwGO besteht Einigkeit darüber, dass die Behörde aus dem angefochtenen Bescheid keine weiteren Folgerungen ziehen darf (vgl. Jörg Schmidt in Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 80 Rdn. 6).
Auf eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rücknahmeverfügung kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Anders als in dem vom VGH Baden-Württemberg (Beschl. v. 12.12.1991 – 13 S 1800/90 -, NVwZ-RR 1992, 509 [VGH Bayern 04.10.1991 - 23 B 88/2143])entschiedenen Fall geht es hier nicht um die Einschränkung der Fiktion des erlaubten Aufenthalts nach § 69 Abs. 3 AuslG durch eine Ausweisungsverfügung, bei der aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes im Hinblick auf § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG eine summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung geboten sein mag. Damit ist der hier vorliegende Sachverhalt nicht vergleichbar, weil der Widerspruch des Antragstellers gegen die Rücknahmeverfügung aufschiebende Wirkung hat, was effektiven Rechtsschutz gewährleistet.
Allerdings steht die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auch nach 8 Jahren erlaubten Aufenthalts nach § 35 Abs. 1 AuslG im Ermessen der Behörde. Dem Senat ist es verwehrt, die Ermessenserwägungen des Antragsgegners vorweg zu nehmen (vgl. Hailbronner, aaO, § 69 Rdn. 65; Funke-Kaiser, GK aaO, § 69 Rdn. 74). Das führt zum Erfolg der Beschwerde, weil dem Interesse des Antragstellers, der seit nunmehr 11 Jahren in der Bundesrepublik lebt, bis zu einer Ermessensentscheidung des Antragsgegners, in der Bundesrepublik bleiben zu können, der Vorrang einzuräumen ist vor dem öffentlichen Interesse, die Zahl der hier lebenden Ausländer zu begrenzen. Allerdings bleibt es dem Antragsgegner unbenommen, die sofortige Vollziehung der Rücknahmeverfügung anzuordnen und Ermessenserwägungen nachzuschieben. Dabei wird zu prüfen sein, worauf es zurückzuführen ist, dass die Ausreisepflicht des Antragstellers längere Zeit nicht hat durchgesetzt werden können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 VwGO. Sie berücksichtigt, dass der Antragsteller mit der Beschwerde vorläufigen Rechtsschutz gegen die Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis nicht mehr weiter verfolgt hat. Soweit die abweisende Entscheidung des Verwaltungsgerichts unanfechtbar geworden ist, fällt das Unterliegen des Antragstellers im Verhältnis zu seinem eigentlichen Begehren – vorläufiger Rechtsschutz hinsichtlich einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis – nicht ins Gewicht (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).