Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.01.2016, Az.: 11 OB 272/15
Untätigkeitsklage bzgl. der Verpflichtung der Behörde zum Entscheid über einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis; Aussetzung des Antragsverfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen Vorgreiflichkeit einer Entscheidung über die Eingabe bei der Härtefallkommission; Mangelnde Tragfähigkeit der von der Verwaltungsbehörde für ihr Untätigbleiben angegebenen Begründung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 29.01.2016
- Aktenzeichen
- 11 OB 272/15
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 10314
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2016:0129.11OB272.15.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Hannover - 18.11.2015
Rechtsgrundlagen
- § 75 S. 3 VwGO
- § 94 VwGO
- § 9 VwVfG
- § 10 S. 2 VwVfG
- § 24 VwVfG
Fundstellen
- AUAS 2016, 50-52
- DÖV 2016, 400
- InfAuslR 2016, 142-143
- NVwZ-RR 2016, 367
- NdsVBl 2016, 5
- ZAR 2016, 240
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Ein zureichender Grund, das gerichtliche Verfahren auszusetzen, liegt nicht vor, wenn die von der Verwaltungsbehörde für ihr Untätigbleiben angegebene Begründung, sie habe das Verwaltungsverfahren im Rahmen des ihr zustehenden Verfahrensermessens ausgesetzt, nicht tragfähig ist.
- 2.
Die Entscheidung der Verwaltungsbehörde, das Antragsverfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen Vorgreiflichkeit einer Entscheidung über die Eingabe bei der Härtefallkommission auszusetzen, ist nicht vom Verfahrensermessen gedeckt.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 13. Kammer - vom 18. November 2015 aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Die Klägerin wendet sich mit der Beschwerde gegen die Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens gemäß § 75 Satz 3 VwGO.
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 18. Januar 2015 bei dem Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Im nachfolgenden Schriftverkehr verwies der Beklagte darauf, dass ein Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits im Jahr 2011 negativ beschieden worden sei. Außerdem habe die Klägerin im Jahr 2012 eine Eingabe bei der Niedersächsischen Härtefallkommission eingereicht, über die noch nicht entschieden worden sei. Mit Schreiben vom 2. März 2015 erklärte der Beklagte, dass die Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bis zum Abschluss des Härtefallverfahrens gemäß §§ 9, 24 VwVfG ausgesetzt werde.
Die Klägerin hat am 26. April 2015 Untätigkeitsklage erhoben. Sie begehrt die Verpflichtung des Beklagten, über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden.
Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 18. November 2015 das Verfahren bis zum Ablauf von zwei Monaten ab dem Tag der Entscheidung über die Eingabe der Klägerin an die Härtefallkommission (Nr. 2012/155), jedoch längstens bis zum 17. November 2016, ausgesetzt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Entscheidung über die Aussetzung beruhe auf § 75 Satz 3 VwGO. Ein zureichender Grund für die Aussetzung im Sinne dieser Vorschrift liege vor. Der Beklagte habe das Verwaltungsverfahren am 2. März 2015 zu Recht mit Blick auf das laufende Verfahren vor der Niedersächsischen Härtefallkommission von Amts wegen ausgesetzt. Diese Entscheidung sei von dem ihm zustehenden Verfahrensermessen gedeckt. Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage wäre der Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, während ihm bei Erfolg der Eingabe an die Härtefallkommission voraussichtlich stattzugeben wäre.
Die dagegen gerichtete Beschwerde der Klägerin ist begründet.
Die Voraussetzungen für die Aussetzung der nach § 75 Satz 1 und Satz 2 VwGO nicht verfrüht erhobenen Untätigkeitsklage der Klägerin sind nicht gegeben. Nach § 75 Satz 3 VwGO setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, wenn ein zureichender Grund dafür vorliegt, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist. Ob ein zureichender Grund vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu entscheiden (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 26. 11. 2010 - 4 S 2071/10 -, NVwZ-RR 2011, 224, , Rn. 3). Erforderlich ist, dass der in Frage stehende Grund mit der Rechtsordnung in Einklang steht (BVerwG, Beschl. v. 8. 1. 2004 - 7 B 58.03 -, , Rn. 4). Ein zureichender Grund dafür, dass der von der Klägerin beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen worden ist, liegt nicht vor.
Das Verwaltungsgericht hat die Ansicht des Beklagten gebilligt, die Aussetzung des Verwaltungsverfahrens sei von seinem Verfahrensermessen gedeckt. Mit dem Begriff des Verfahrensermessens wird das Recht der Behörde umschrieben, das Verwaltungsverfahren nach ihrem Ermessen zu gestalten und durchzuführen, soweit nicht besondere Rechtsvorschriften bestehen und der Zweck des Verwaltungsverfahrens entgegensteht (Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., § 10, Rn. 16; Hill, Verfahrensermessen der Verwaltung, NVwZ 1985, 449). Einzelheiten regelt § 10 VwVfG. Nach Satz 1 ist das Verwaltungsverfahren nicht an bestimmte Formen gebunden, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen. Nach Satz 2 ist es einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen. Der Grundsatz der Formfreiheit ermächtigt nicht zu einer beliebigen Verfahrensgestaltung. Vielmehr hat sich die Ausübung des Verfahrensermessens an den Umständen und Besonderheiten des Einzelfalles auszurichten. Zum Inhalt der Verfahrensgestaltung nach § 10 Satz 2 VwVfG gehören auch die Grundsätze der Praktikabilität und Situationsgerechtigkeit des Verfahrens. Sie können in Konkurrenz zu anderen Zwecken, wie dem Zügigkeitsgebot und dem Grundsatz der Effektivität, treten. Die unterschiedlichen Zwecke sind dann von der Behörde zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 16. Aufl., § 10, Rn. 15). Daran gemessen genügt die Aussetzungsentscheidung des Beklagten nicht den rechtlichen Anforderungen.
Der Beklagte beruft sich in seinem Schreiben vom 24. Februar 2015 darauf, dass ein früherer Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 11. Juli 2011 abgelehnt und das anschließende verwaltungsgerichtliche Verfahren wegen Nichtbetreibens des Verfahrens mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22. Oktober 2012 eingestellt worden sei. Im Rahmen der vorliegenden Untätigkeitsklage weist der Beklagte ergänzend darauf hin, dass sich die Sach- und Rechtslage nach der Ablehnung vom 11. Juli 2011 nicht zugunsten der Klägerin verändert habe. Außerdem sei der Ausgang des Verfahrens vor der Niedersächsischen Härtefallkommission abzuwarten. Diese Gründe rechtfertigen nicht ein Untätigbleiben des Beklagten.
Die Ablehnung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit Bescheid vom 11. Juli 2011 steht der erneuten Antragstellung nicht entgegen. Das damalige Verfahren wurde durch die Einstellung des gerichtlichen Verfahrens mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22. Oktober 2012 rechtskräftig beendet. Es ist der Klägerin deshalb unbenommen, einen weiteren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu stellen. Für eine Missbräuchlichkeit des erneuten Antrages liegen keine Anhaltspunkte vor. Seit der Beendigung des letzten Verfahrens waren bei Antragstellung mit Schriftsatz vom 18. Januar 2015 mehr als zwei Jahre vergangen. Aus der Sicht der Klägerin lagen zum Zeitpunkt der Antragstellung auch veränderte Verhältnisse vor. Die Klägerin macht geltend, dass die Voraussetzungen einer Einbürgerung für ihre Kinder vorlägen und sie deshalb über diese Rechtsposition ihrer Kinder ein eigenes Aufenthaltsrecht ableite. Die gegenteilige Auffassung des Beklagten, die Sach- und Rechtslage habe sich nicht zum Vorteil der Klägerin verändert, begründet nicht das Recht, den Antrag der Klägerin nicht oder nicht zügig zu bearbeiten.
Die Anhängigkeit einer Eingabe der Klägerin bei der Niedersächsischen Härtefallkommission rechtfertigt ebenfalls nicht die Aussetzung des Verwaltungsverfahrens. Die vom Verwaltungsgericht angenommene Vorgreiflichkeit des Verfahrens vor der Niedersächsischen Härtefallkommission liegt nicht vor. Die die Voraussetzungen einer Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens bei Vorgreiflichkeit regelnde Vorschrift des § 94 VwGO ist zwar im Verwaltungsverfahren nicht anwendbar (Schmitz, a.a.O., § 9, Rn. 203). Der Rechtsgedanke ist jedoch übertragbar. Eine Aussetzung des Verwaltungsverfahrens kann daher vom Verfahrensermessen gedeckt sein, wenn die beabsichtigte Sachentscheidung ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das Gegenstand eines anderen Verwaltungsverfahrens ist (Sennekamp, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2014, § 9, Rn. 44). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben.
Die Klägerin bezweifelt zu Recht, dass durch die Eingabe bei der Niedersächsischen Härtefallkommission ein Verwaltungsverfahren eingeleitet wird. Unter den Begriff des Verwaltungsverfahrens fällt die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit von Behörden (Kopp/Schenke, a.a.O., § 9, Rn. 6). Die Härtefallkommission nimmt nicht Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahr und ist deshalb nicht eine Behörde im Sinne des § 1 Abs. 4 VwVfG. Sie prüft unabhängig und weisungsungebunden in einem mehrstufigen Verfahren, ob dringende humanitäre oder persönliche Gründe vorliegen, die die weitere Anwesenheit der Ausländerin oder des Ausländers im Bundesgebiet rechtfertigen (vgl. Niedersächsische Härtefallkommissionsverordnung - NHärteKVO -, Präambel und § 2 Abs. 5 Satz 1).
Unabhängig davon kommt es für die rechtliche Beurteilung des Antrages der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht auf die Entscheidung der Härtefallkommission an. Diese kann nach Prüfung des Sachverhalts ein Härtefallersuchen an das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport als oberste Aufsichtsbehörde für das Ausländerrecht stellen. Eine solche Entscheidung hat rein humanitären Charakter. Sie begründet nicht subjektiv-öffentliche Rechte für den Ausländer und unterliegt daher auch nicht der gerichtlichen Kontrolle (Burr, in: GK-AufenthG, Stand: Dezember 2015, § 23 a, Rn. 2). Das Ministerium ist nicht an das Härtefallersuchen der Kommission gebunden, sondern trifft eine eigene Ermessensentscheidung gemäß § 23 a AufenthG (Burr, a.a.O., § 23 a, Rn. 15; vgl. auch den Bericht über die Tätigkeit der Niedersächsischen Härtefallkommission für den Zeitraum vom 1.1.2013 bis 31.8.2014, Seite 10, im Internet abrufbar über das Niedersachsen Portal). Die Annahme des Verwaltungsgerichts, bei erfolgreichem Ausgang des Verfahrens vor der Härtefallkommission wäre dem Antrag der Klägerin voraussichtlich stattzugeben, überzeugt deshalb nicht. Eine Empfehlung der Kommission entbindet das Ministerium nicht von der Verpflichtung, jeden Einzelfall unter Berücksichtigung der Vorgaben in § 23 a AufenthG zu prüfen. Dem Bericht über die Tätigkeit der Niedersächsischen Härtefallkommission für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis 31. August 2014, Seite 18, ist zwar zu entnehmen, dass das Ministerium überwiegend der Empfehlung der Kommission gefolgt ist und eine Anordnung getroffen hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. In Einzelfällen ist das Ministerium dem Votum der Kommission aber nicht gefolgt.
Der Beklagte trägt schließlich auch vergeblich vor, es sei am zweckmäßigsten, die Entscheidung der Härtefallkommission über die Eingabe der Klägerin abzuwarten, weil der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis derzeit abzulehnen sei. Die Entscheidung, das Verwaltungsverfahren auszusetzen, kann nicht mit der Aussichtslosigkeit des Begehrens begründet werden. Mit seiner Aussetzungsentscheidung hat der Beklagte eine inhaltliche Befassung mit dem Anliegen der Klägerin abgelehnt. Die angeführten Gründe der Praktikabilität und Verwaltungseffizienz sind auch nicht tragfähig. Da nach Ansicht des Beklagten der Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen einer gegenüber dem früheren Antrag unveränderten Sach- und Rechtslage nicht erfolgversprechend ist, wäre der Verwaltungsaufwand für die Bearbeitung des Antragsbegehrens begrenzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, da bei einer nicht in der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG besonders aufgeführten und erfolgreichen Beschwerde keine Gerichtsgebühren erhoben werden (Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses - Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).