Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.01.2016, Az.: 2 LA 230/15

Anfechtbarkeit; Drohung; Druck; Prozesshandlung; Rücknahme; Widerspruch; Willensmangel

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.01.2016
Aktenzeichen
2 LA 230/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43169
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 23.06.2015 - AZ: 12 A 1896/14

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Rücknahme einer Prozesshandlung (hier: eines Widerspruchs) kann wegen Drohung oder unzulässigen Drucks nur widerrufen werden, wenn die fraglichen Handlungen das für eine Qualifizierung als Wiederaufnahmegrund erforderliche Gewicht haben.

2. Soweit die Rücknahme einer Prozesshandlung wegen fehlerhafter Belehrung in Betracht kommt, hatte die hierzu einschlägige Rechtsprechung konkrete richterliche Hinweise im Sinne des § 86 Abs. 3 VwGO vor Augen; die Maßstäbe des § 58 Abs. 2 VwGO sind hierauf nicht anwendbar.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg            - 12. Kammer - vom 23. Juni 2015 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Der auf § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 5 VwGO gestützte Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.

1. Das Zulassungsvorbringen begründet zunächst keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.

Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nicht erst vor, wenn der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg, sondern bereits dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (BVerfG, Beschl. v. 8.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, NVwZ 2010, 634; Beschl. d. 2. K. v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, NVwZ 2011, 546; vgl. Gaier, NVwZ 2011, 385, 388 ff.). Das ist dem Kläger nicht gelungen.

a) Der Kläger entnimmt dem angefochtenen Urteil den Rechtssatz, dass die Rücknahme eines Widerspruchs nicht mit Willensmängeln angefochten werden könne und ein Wiederaufgreifen des Widerspruchsverfahrens nur bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes in Betracht komme. Er verweist demgegenüber auf einen früheren Gerichtsbescheid des Ausgangsgerichts vom 26. Juni 2001 (- 13 A 1554/01 -), wonach Prozesshandlungen anfechtbar seien, die durch Drohung, sittenwidrige Täuschung, unzulässigen Druck u.ä. oder durch unzutreffende Empfehlung oder Belehrung durch das Gericht herbeigeführt worden seien. Letzterer Rechtssatz liege auch einem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. März 2015 (- 13 A 14.1240, 13 A 14.1241 -, juris) und mehreren Entscheidungen bayerischer Verwaltungsgerichte zugrunde.

Ernstliche Zweifel werden indes nicht ohne Weiteres schon durch den Umstand begründet, dass andere Gericht eine abweichende Rechtsauffassung zum Ausdruck gebracht haben. Soweit - wie hier - eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorliegt, führen jedenfalls abweichende Rechtsstandpunkte von Instanzgerichten allenfalls dann zu ernstlichen Zweifeln an Entscheidungen, die sich ihrerseits an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts orientieren, wenn die Abweichung in jenen Entscheidungen substantiell begründet worden ist. Das kann hier nicht festgestellt werden.

Das Verwaltungsgericht selbst ist in der hier angegriffenen Entscheidung von dem grundlegenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. März 1979 (- 6 C 10.78 -, BVerwGE 57, 342 = DVBl. 1979, 819) ausgegangen, wonach Grundsätze des materiellen Rechts über die Anfechtung wegen Irrtums oder anderer Willensmängel auf die Prozesshandlungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar sind. Eine Ausnahme hat es nur für den Fall angenommen, dass ein Wiederaufnahmegrund vorliege; dies entspreche der im Bereich des Zivilprozesses anerkannten Handhabung, dass die Rücknahme eines Rechtsmittels widerrufen werden könne, wenn sie durch eine strafbare Handlung herbeigeführt worden sei. Das Vorliegen solcher Wiederaufnahmegründe macht die Begründung des Zulassungsantrags indes selbst nicht geltend.

Die genannten Grundsätze sind in der weiteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beibehalten, allerdings unter dem Gesichtspunkt des allgemein geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben auch ergänzt worden, namentlich für die Fälle einer offensichtlich nur versehentlichen Rücknahme und unzutreffender richterlicher Belehrung oder Empfehlung (BVerwG, Beschl. v. 9.1.1985 - 6 B 222.84 -, NVwZ 1985, 196; Urt. v. 6.12.1996 - 8 C 33.95 -, NVwZ 1997, 1210; Beschl. v. 7.8.1998 - 4 B 75.98 -, NVwZ-RR 1999, 407; vgl. auch die ausführliche Darstellung im Beschl. d. OVG Hamburg v. 7.10.2014 - 3 Bf 86/12 -, juris). Die Fälle von Drohung, sittenwidriger Täuschung, unzulässigem Druck u.ä. werden hiernach jedenfalls hinsichtlich derjenigen Teilmenge erfasst, in welcher diese Handlungen das für eine Qualifizierung als Wiederaufnahmegrund erforderliche Gewicht haben; eine ausdrückliche Ausdehnung auf minder gewichtige Fälle lässt sich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entnehmen. Soweit ältere höchstgerichtliche Entscheidungen (z.B. BFH, Beschl. v. 3.8.1978 - VI R 73/78 -, juris) Drohungen und Täuschungen noch ohne die hiernach geltenden Einschränkungen als mögliche Unwirksamkeitsgründe für prozessuale Erklärungen aufgeführt haben, ist darauf nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1979 nicht mehr zurückzugreifen.

aa) In Bezug auf die Fallgruppe der Drohung oder der Ausübung unzulässigen Drucks sieht der Senat keinen Anlass, von diesen Grundsätzen mit Rücksicht auf anderslautende Entscheidungen von Instanzgerichten abzuweichen. Richtig ist, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nicht erst in dem vom Zulassungsantrag genannten, sondern bereits in einem Urteil vom 29. Januar 2009 (- 13 A 08.1688 -, RdL 2009, 308) den „Textbaustein“ verwendet hat:

„Ein Widerruf kann allerdings auch dann in Betracht kommen, wenn es mit dem Grundsatz von Treu und Glauben, der das gesamte Recht unter Einschluss der Verwaltungsgerichtsordnung beherrscht, unvereinbar wäre, einen Beteiligten an einer von ihm vorgenommenen Prozesshandlung festzuhalten (BVerwG vom 6.12.1996 a.a.O.; BGH vom 16.5.1991 NJW 1991, 2839 [BGH 16.05.1991 - III ZB 1/91]). Dies kann ausnahmsweise dann in Betracht kommen, wenn diese durch Drohung, sittenwidrige Täuschung, unzulässigen Druck oder unzutreffende richterliche Belehrung bzw. Empfehlung u.ä. herbeigeführt wurde (s. hierzu BVerwG vom 9.1.1985 NVwZ 1985, 196 [BVerwG 09.01.1985 - BVerwG 6 B 222.84]; BGH vom 26.11.1980 NJW 1981, 576 [BGH 26.11.1980 - IVb ZR 592/80]; BayVGH vom 6.11.2008 Az. 13 A 08.2579; vom 4.12.1997 Az. 13 A 96.1117; Kopp/Schenke, a.a.O., RdNr. 15 vor § 40).“

Keine der hier angeführten Belegstellen stützt indes die Auffassung, auch eine strafrechtlich nicht relevante Drohung berechtige zum Widerruf. In beiden Fällen kam es auch nicht entscheidungserheblich auf die Aufstellung eines solchen Rechtssatzes an, weil der Verwaltungsgerichtshof den behaupteten Druck auf die Verfahrensbeteiligten als Ausdruck normaler Befolgung der Hinweispflichten aus § 86 Abs. 3 VwGO angesehen hat; er hätte daher auch offen lassen können, ob unzulässiger Druck unterhalb der Schwelle strafbarer Handlungen überhaupt zum Widerruf berechtigt. Unter diesen Umständen sieht sich der Senat nicht gehalten, hier von ernsthaften Zweifeln auszugehen. Er sähe in der aufgezeigten Ausweitung der Widerrufsgründe vielmehr die Gefahr, sich in direkten Widerspruch zu der eigentlich auch vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Hauptthese des Bundesverwaltungsgerichts zu setzen, dass § 123 BGB weder unmittelbar noch analog anwendbar ist.

Im Ergebnis das gleiche gilt für den vom Kläger ebenfalls angeführten früher ergangenen Gerichtsbescheid des Ausgangsgerichts vom 26. Juni 2001 (- 13 A 1554/01 -). Er verwendet eine ähnliche Formulierung wie die genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs; die dafür angeführten Belegstellen geben hierfür ebenfalls nichts her. Lediglich in einem dort zitierten Urteil des Ausgangsgerichts vom 9. Mai 2001 (- 6 A 2618/99 -) findet sich eine vergleichbare Passage, die aber nicht auf die dort allein aufgeführte Entscheidung BVerwGE 57, 347 [BVerwG 21.03.1979 - BVerwG 6 C 10.78] gestützt werden kann. Im Übrigen wäre hinsichtlich des Gerichtsbescheids vom 26. Juni 2001 (- 13 A 1554/01 -) ferner zu bedenken, dass dieser den Widerruf eines Prozessvergleichs betraf, für den wegen der Doppelnatur des Prozessvergleichs möglicherweise ohnehin andere Grundsätze gelten (vgl. BAG, Urt. v. 12.5.2010 - 2 AZR 544/08 -, NZA 2010, 1250).

Die beiden vom Zulassungsantrag angeführten Entscheidungen des VG Regensburg und des VG Ansbach geben erst recht keinen Anlass, von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abzurücken. Sie betreffen Antragsrücknahmen nach § 32 AsylVfG, die - anders als das Widerspruchsverfahren (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 21.3.1979 - 6 C 10.78 -, BVerwGE 57, 342 = DVBl. 1979, 819) - keinen prozessrechtlichen, sondern verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen und Grundsätzen unterliegen. Soweit die in Bezug genommene Kommentierung von Hailbronner (Rdnr. 20 zu § 32 AsylVfG) weitergehend auf Kopp/Schenke, VwGO, Rdnr. 15 zu Vorbem. 40 verweist, wird dort zwar ausdrücklich die Auffassung vertreten, Prozesshandlungen, die durch Drohung, sittenwidrige Täuschung oder unzulässigen Druck herbeigeführt worden seien, seien widerrufbar. Die dafür angeführten Belegstellen tragen diese Auffassung jedoch ebenfalls nicht. Insbesondere betraf die dort genannte BGH-Entscheidung lediglich die Gegeneinrede der Arglist gegen die Einrede eines Rechtsmittelverzichts, also nicht Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts als solchen.

Auf die weiteren Ausführungen des Verwaltungsgerichts dazu, ob der Kläger sich tatsächlich unter Druck gefühlt habe, kommt es hiernach nicht entscheidungserheblich an. Zwar hat das Verwaltungsgericht diese Ausführungen mit „im Übrigen“ angeknüpft und erst einen weiteren Gedanken ausdrücklich als „nicht mehr entscheidungserheblich“ bezeichnet. Objektiv tragen jedoch bereits die Ausführungen zum „Unter-Druck-Setzen“ nichts mehr zu dem vorangegangenen Befund bei, dass die Rücknahme eines Widerspruchs nicht wegen Willensmängeln angefochten werden kann.

bb) Die Rücknahme des Widerspruchs war hier auch nicht im Hinblick auf eine fehlerhafte Belehrung durch die Widerspruchsbehörde widerrufbar. Grundsätzlich kann zwar - wie oben bereits angesprochen - nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Grundsatz von Treu und Glauben verlangen, dass eine auf fehlerhafter Belehrung beruhende Rücknahme einer prozessualen Erklärung im Ergebnis unbeachtet bleibt. Entgegen der Auffassung des Klägers beurteilt sich dies jedoch nicht nach den Maßstäben des § 58 VwGO für im Wesentlichen standardisierte Rechtsmittelbelehrungen und den hierzu entwickelten Fallgruppen, für die der Kläger auf die Kommentierung von Kopp/Schenke, VwGO, § 58 Rdnr. 12 verweist. Die Rechtsprechung zur Widerrufbarkeit prozessualer Erklärungen hatte insofern vielmehr richterliche Hinweise im Sinne des § 86 Abs. 3 VwGO vor Augen, die aufgrund näherer Befassung mit der Sach- und Rechtslage zu einzelfallbezogenen - allerdings unzutreffenden - Ratschlägen geführt hatten. Die angesprochenen Fallbeispiele können im Übrigen schon deshalb nicht unbesehen für die Bewertung einer möglichen Irreführung durch bloße Hinweise verwendet werden, weil sich ausdrücklich nur als Hinweise bezeichnende Angaben von vornherein nicht den Anspruch auf die strenge Verbindlichkeit beimessen, die der Rechtsbehelfsbelehrung zu eigen ist. Eine Irreführung durch Hinweise kann deshalb im Regelfall erst unterstellt werden, wenn der Rechtsschutzsuchende durch sie unmittelbar in eine falsche Richtung geleitet wird, was hier nicht der Fall war.

Das ergibt sich aus Folgendem:

Der hier streitige Hinweis war einem Terminsangebot der Beklagten vom 26. Juni 2013 für die beantragte Akteneinsicht beigefügt. Er lautete:

„Hinweis: Sollten Sie den Widerspruch nach Durchsicht der Unterlagen aufrechterhalten wollen, ist dies schriftlich formlos zu begründen. Andernfalls wäre der Widerspruch von Ihrer Seite schriftlich formlos zurückzuziehen.“

Nach erfolgter Akteneinsicht nahm der Kläger seinen Widerspruch mit Schreiben vom 22. August 2013 zurück. Mit Anwaltsschreiben vom 18. September 2013 erklärte er die Rücknahme der Rücknahme und führte hierzu aus, diese sei ohnehin unwirksam, weil er den oben angeführten, seiner Ansicht nach irreführenden Hinweis erhalten habe, der keine Rechtsgrundlage in der Prüfungsordnung oder anderswo finde. Im Übrigen seien ihm die zur Einsichtnahme überlassenen Unterlagen unvollständig gewesen und sei ihm nicht erlaubt worden, Kopien anzufertigen. Diesen Standpunkt hat er im Schriftsatz vom 26. November 2014 vertieft.

Nach dem oben angegebenen Sinnzusammenhang sollte das fragliche Schreiben der Beklagten vom 26. Juni 2013 jedoch nicht die zutreffende Rechtsmittelbelehrung im Ausgangsbescheid vom 18. Juni 2013 ersetzen oder modifizieren, sondern dem Widerspruchsführer - der in solchen Fällen regelmäßig noch nicht über „Routine“ in der Abwicklung von Widerspruchsverfahren verfügt - nur aufzeigen, wie, das heißt mit welchen Handlungsalternativen das Verfahren nach erfolgter Akteneinsicht Fortgang nehmen könnte. Das ist nicht zu beanstanden. Auch wenn die Dispositionen über seine Rechtsbehelfe allein in der Hand des Rechtsschutzsuchenden liegen, ist es einer Behörde - etwa wenn sie sich dem Servicegedanken verpflichtet fühlt -, nicht versagt, nützliche Hinweise zum Verfahrensablauf zu geben. Nichts anderes hat die Beklagte hier getan. Richtig ist zwar, dass ein Widerspruch nicht nur dann Wirkung entfaltet, wenn er ausdrücklich schriftlich begründet wird. Gerade in Prüfungsfällen hat es aber für den Widerspruchsführer in aller Regel massiv schädliche Folgen, wenn er seinen Widerspruch nicht substantiell begründet, wie es hier mit Schriftsatz vom 11. Februar 2014 dann auch geschehen ist. Dass eine Begründung unverzüglich einzureichen wäre, lässt sich dem Hinweis auch unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Verfahrens schlechterdings nicht entnehmen. So hat offensichtlich auch der Kläger diesen Hinweis nicht verstanden, denn er hat seinen Widerspruch nicht gleich nach der am 9. August 2013 erfolgten Akteneinsichtnahme zurückgenommen, sondern erst am 22. August 2013. Schließlich kann diesem Hinweis nicht entnommen werden, dass der Kläger damit aufgefordert wurde, von einer vollständigen Akteneinsicht abzusehen, weil die Rüge der Unvollständigkeit der vorgelegten Akten im Zeitpunkt des Schreibens der Beklagten vom 26. Juli 2013 noch nicht im Raum stand und keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Beklagte nicht bereit sein würde, einer entsprechenden Rüge nachzugehen.

Auch eine Differenzierung danach, ob der Widerspruch selbst oder dessen Aufrechterhaltung begründet werden sollte, lag evident fern, weil bis dahin zu den Gründen gar nichts vorgetragen war und deshalb eine Begründung der Aufrechterhaltung notwendig auch eine Begründung für die Einlegung des Widerspruchs überhaupt hätte umfassen müssen, um verständlich zu sein.

Richtig ist auch, dass es tunlich ist, einen Widerspruch, den man nicht weiterverfolgen will, ausdrücklich zurückzunehmen, um Klarheit über den förmlichen Abschluss des Verfahrens zu schaffen und - möglicherweise - auch die Kosten des Widerspruchsverfahrens gering zu halten, wenn die Rücknahme in dem betreffenden Verfahren dem Widerspruchsführer günstige gebührenrechtliche Folgen hat. Wenn der Kläger den Hinweis so verstanden haben sollte, dass er den Widerspruch zurücknehmen müsse, wenn er ihn nicht schriftlich begründe, läge dem ein nicht zu erwartendes sprachliches Fehlverständnis zugrunde; das „Andernfalls“ bezog sich ersichtlich auf die erste Hälfte des vorangegangenen Satzes, nicht auf dessen zweite Hälfte.

b) Dem Zulassungsantrag ist auch nicht darin zu folgen, dass das Widerspruchsverfahren noch offen sei, die Beklagte nämlich den Widerruf der Rücknahme seines Widerspruchs zunächst zu bescheiden gehabt hätte. Das Fehlen des Widerspruchsbescheides führte - soweit er denn erforderlich war - allenfalls zur Zulässigkeit der hier erhobenen Untätigkeitsklage, nahm aber einer erfolgten Rücknahme des Widerspruchs nicht die Wirkung. Das Verwaltungsgericht durfte über die Frage der Wirksamkeit der Rücknahme bzw. ihres Widerrufs auch ohne Widerspruchsbescheid in der Sache entscheiden.

Das stellt sich hier auch nicht im Hinblick auf eine vom Kläger geltend gemachte Treuwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten anders dar. Die Beklagte hat sich vielmehr - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat - konsequent verhalten und insbesondere zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, sie wolle über formale Bedenken hinwegsehen.

2. Auch ein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor. Hiernach ist die Berufung zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Das ist hier letztlich nicht der Fall.

Der Umstand, dass sich das Verwaltungsgericht nur im Tatbestand, nicht aber in den Entscheidungsgründen gesondert zu dem Vorbringen des Klägers geäußert hat, die Rücknahme seines Widerspruchs sei wegen einer fehlerhaften Belehrung durch die Widerspruchsbehörde widerrufbar gewesen, ist zwar unter dem Gesichtspunkt der Gehörsverletzung zu würdigen. Die insoweit maßgeblichen Grundsätze hat die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Beschluss vom 29. Oktober 2015 (- 2 BvR 1493/11 -, juris Rdnr. 45) wie folgt zusammengefasst:

„Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 42, 364 [BVerfG 05.10.1976 - 2 BvR 558/75] <367 f.>; 47, 182 <187>; BVerfGK 20, 53 <57>). Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE 25, 137 [BVerfG 15.01.1969 - 2 BvR 326/67] <141 f.>; 47, 182 <187>; BVerfGK 20, 53 <57>). Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen (vgl. BVerfGE 13, 132 [BVerfG 03.10.1961 - 2 BvR 4/60] <149>; 42, 364 <368>; 47, 182 <187>; BVerfGK 20, 53 <57>). Deshalb müssen, wenn das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen soll, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 27, 248 [BVerfG 02.12.1969 - 2 BvR 320/69] <252>; 47, 182 <187 f.>; BVerfGK 20, 53 <57>). Dergleichen Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht wesentliche, das Kernvorbringen eines Beteiligten darstellende Tatsachen unberücksichtigt lässt. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in der Begründung der Entscheidung nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist (vgl. BVerfGE 86, 133 [BVerfG 19.05.1992 - 1 BvR 986/91] <146>; BVerfGK 6, 334 <340>; 10, 41 <46>; 20, 53 <57 f.>). Daraus ergibt sich eine Pflicht der Gerichte, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. BVerfGE 47, 182 [BVerfG 01.02.1978 - 1 BvR 411/75] <189>; BVerfGK 10, 41 <46>; 20, 53 <58>).“

Mithin braucht das Gericht auch auf Vorbringen, das für den Rechtsschutzsuchenden selbst in diesem Sinne von zentraler Bedeutung ist, jedenfalls dann nicht zwingend einzugehen, wenn das Vorbringen nach seinem Rechtsstandpunkt unerheblich ist. Maßgeblich ist daher zumindest auch die „Erfolgsnähe“ dieses Vorbringens, die bei einem Schweigen des Ausgangsgerichts nur noch vom Rechtsmittelgericht beurteilt werden kann. Wie oben bereits ausgeführt, ist der Maßstab für die Widerrufsbarkeit prozessrechtlicher Erklärungen wegen irreführender Belehrung entgegen der Auffassung des Klägers nicht dem § 58 VwGO und der hierzu ergangenen Rechtsprechung zu entnehmen; Voraussetzung ist vielmehr eine individuelle, fehlerhafte „Rechtsberatung“ durch das Gericht bzw. die Widerspruchsbehörde. Diese hatte der Kläger nicht hinreichend geltend gemacht. Damit fehlt es sowohl an einem Gehörsverstoß des Verwaltungsgerichts als auch an einem möglichen „Beruhen“ im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).