Sozialgericht Lüneburg
v. 02.06.2014, Az.: S 2 U 35/11

Gewährung einer höheren Rente bei Verschlimmerung der Unfallfolgen

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
02.06.2014
Aktenzeichen
S 2 U 35/11
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2014, 22929
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2014:0602.S2U35.11.0A

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Eine Verschlimmerung des Unfallfolgenzustandes ist nur dann eine wesentliche Änderung, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 % verändert. Entscheidend für die Feststellung, ob eine wesentliche Änderung i.S.d. § 48 Abs. 1 SGB X vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den objektiven Verhältnissen, d. h. den objektiven Befunden im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidsmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung.

  2. 2.

    Die Unfallfolgen können im Einzelfall eine wesentliche Teilursache für die Entwicklung einer reaktiv depressiven Symptomatik beim Versicherten sein. Nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung erfordert die Feststellung einer wesentlichen Ursache dabei nicht, dass die schädigende berufliche Einwirkung die alleinige oder überwiegende Bedingung ist. Haben mehrere Ursachen gemeinsam zum Gesundheitsschaden beigetragen, sind sie nebeneinander stehende Teilursachen. Kein Faktor hebt die Mitursächlichkeit des anderen auf. Dabei kann sogar eine verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung für den Erfolg rechtlich wesentlich sein. Als Faustregel lässt sich dabei festhalten, dass ein Faktor jedenfalls dann noch als wesentlich für den Eintritt des Gesundheitsschadens anzusehen ist, wenn er neben anderen Bedingungen daran mit einem Drittel beteiligt war. Unwesentlich für den Eintritt eines Gesundheitsschadens ist danach eine Bedingung nur dann, wenn sie nur einen Anteil von 10 % an der Entstehung erreicht hat.

  3. 3.

    Zwar ist eine schematische Addierung der Einzel-MdE-Werte zur Feststellung der Gesamt-MdE grundsätzlich nicht zulässig. Ebensowenig ist allerdings eine pauschale Kürzung der Einzel-MdE-Werte bei der Bildung der Gesamt-MdE vorzunehmen. Entscheidend ist vielmehr eine "Gesamtschau der Gesamteinwirkung aller einzelnen Schäden auf die Erwerbsfähigkeit" vorzunehmen. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, inwieweit sich die auf den einzelnen Fachgebieten festgestellten Unfallfolgen überschneiden.

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Beklagten vom 03.07.2009 und der Widerspruchsbescheid vom 24.02.2011 werden aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger aufgrund des Unfalls vom 4.07.1984 entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen ab dem 01.08.2008 eine Rente nach einer MdE i. H. v. 60 % zu gewähren.

  3. 3.

    Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer höheren Rente.

Der im Jahr 1959 geborene Kläger erlitt am 24.07.1984 während einer beruflich veranlassten Fahrt mit dem Motorrad einen schweren Unfall, als er auf einen Pkw prallte. Danach wurde er mit dem Rettungshubschrauber in das Allgemeinen Krankenhaus (= AKH) A. eingeliefert. Nach dem Durchgangsarztbericht von D., ebenda, vom 27.07.1984 zog er sich dabei "ein Schädel-Hirn-Trauma (= SHT) und beidseitige Knieverletzungen" zu (Bl. 2 der Akte des Be-klagten (= UA)). Im weiteren Verlauf des stationären Aufenthalts kam es zur Ausbildung einer Atelektase der rechten Lunge. Im Bericht vom 13.12.1084 wurden so-dann als Diagnosen "ein SHT mit contusioneller Hirnschädigung, eine Ruptur der Kreuzbänder und des Außenbandes rechts, ein Hämatopyothorax rechts nach Pneumothorax und Ate-lektase" angegeben (Bl. 54 UA).

Mit dem Bescheid vom 27.08 1987 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (= MdE) i. H. v. 50 %. Als Unfallfolgen wurden aner-kannt:

- Belastungsinsuffizienz des rechten Beines mit Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenks, - Muskelminderung des rechten Beines mit Kalksalzgehaltsminderung des rechten Knieskelettes, - Instabilität des rechten Kniegelenks mit Reizerscheinungen und liegenden Schrauben im Knieskelett, - Zustand nach contusioneller Hirnschädigung.

Dabei stützte sich die Beklagte auf ein neurologisches Zusammenhangsgutachten der E. und F. vom 02.02.1987 (Einzel-MdE: 40 %, Bl. 262 ff. UA), ein unfallchirurgisches Zusammen-hangsgutachten der G., H. und I. vom 22.07.1986 (Ein-zel-MdE: 20 %, Bl. 234 ff. UA) und deren Stellungnahme zur Gesamt-MdE vom 18.02.1987 (Bl. 279 UA).

Mit dem Bescheid vom 04.01.1990 wurde die Rente mit Wirkung ab dem 01.03.1990 zu-nächst nur noch nach einer MdE i. H. v. 40 % gezahlt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der psychische Zustand stabilisiert habe (Bl. 586 UA). Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 26.01.1990 zurückgewiesen (Bl. 597 UA). Im darauf folgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (= SG) Lüneburg (S 2 U 30/90) hob die Beklagte den Bescheid vom 04.01.1990 und den Widerspruchsbescheid vom 26.01.1990 auf und gewährte weiter eine Rente nach einer MdE i. H. v. 50 % (Bl. 685 UA). Die medizinische Grundlage hierfür war das nervenärztliche Gutachten von J. vom 17.10.1990. Darin wies er insbesondere darauf hin, dass im Gutachten der E. und F. vom 02.02.1987 zwar bestimmte psychische Auffälligkeiten genannt worden seien, jedoch keine validen Testergebnisse vorliegen würden, die zu den jetzt erhobenen Befunden quantitativ in Beziehung gesetzt werden könnten. Daher könne eine Besserung nicht nachgewiesen werden.

Die Verschlimmerungsanträge vom 21.08.1991 (Bl. 739 UA), vom 28.11.1994 (Bl. 912 UA) und vom 06.01.1999 (Bl. 992 UA) hatten keinen Erfolg (Bescheid vom 24.02.1993 und Wider-spruchsbescheid vom 27.04.1993 (Bl. 851, 866 UA); Bescheid vom 18.04.1995 (Bl. 937 UA); Bescheid vom 25.03.1999, Widerspruchsbescheid vom 27.09.1999, Klagerücknahme im Ver-fahren vor dem SG Lüneburg S 2 U 173/99 (Bl. 1010, 1026, 1030 UA)).

Am 13.10.2008 machten die Prozessbevollmächtigten des Klägers erneut eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen geltend und stützten sich hierbei auf den Bericht des behan-delnden Neurologen und Psychiaters, K., vom 08.09.2008 (Bl. 1154 ff. UA). Mit dem Be-scheid vom 03.07.2009 lehnte die Beklagte die Erhöhung der Rente ab (Bl. 1218 UA). Dabei stützte sich die Beklagte auf ein unfallchirurgisches Gutachten der L., M. und N. vom 12.01.2009 (Bl. 1176 ff. UA) und ein neurologisch-psychiatri-sches Gutachten der O. und P. vom 24.03.2009 (Bl. 1094 ff. UA). Aufgrund des hiergegen erhobenen Widerspruchs haben die Q. und R. unter dem 16.06.2010 ein neuro-psychologisches Gutachten erstattet. Darin gelangten Sie zu dem Ergebnis, dass

- eine verringerte psychophysische Belastbarkeit, - Vigilanzstörungen, - leichtgradige Störungen der Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsteilung, - mäßiggradige verbal-mnestische Defizite sowie - Versagensängste, Zukunftssorgen und eine verstärkte Irritabilität

Folgen des angeschuldigten Ereignisses seien (Bl. 1288 UA). In der Stellungnahme vom 12.08.2010 vertraten die O. und P. die Ansicht, dass sich hierdurch die MdE nicht geändert habe (Bl. 1293 UA). Der Widerspruch wurde durch den Widerspruchsbescheid vom 24.02.2011 zurückgewiesen (Bl. 1315 UA).

Hiergegen hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers am 17.03.2011 beim SG Lüneburg Klage erhoben (S 2 U 35/11) und sich hierbei auf einen Bericht der behandelnden Psychiaterin S. vom 12.07.2011 gestützt (Bl. 15 SG-Akte). Unter dem 10.02.2012 hat J. ein weiteres nervenärztliches Gutachten erstattet. Darin ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass eine wesent-liche Verschlimmerung im Unfallfolgenzustand - insbesondere im Hinblick auf den hirnorgani-schen Befund - nicht eingetreten sei. Zwar sei nunmehr eine chronische depressive Verstim-mung hinzugetreten, welche den psychischen Befund insgesamt verschlechtern würde. Diese könnten jedoch nicht mit dem ausreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit dem streitgegen-ständlichen Unfall zugeordnet werden. Unter dem 02.08.2012 hat dar-aufhin T. ein neuro-psychologisches Gutachten gem. § 109 SGG erstattet. Darin ist sie zu dem Ergebnis gelangt, dass zu den hirnorganischen Störungen, die insgesamt mit einer MdE i. H. v. 50 % einzu-schätzen seien, eine unfallbedingte Anpassungsstörung i. S. einer reaktiven Depression mit einer MdE i. H. v. 20 % getreten sei. Auf neurologisch-psychiatri-schem Fachgebiet sei somit von einer Einzel-MdE i. H. v. 60 % und insgesamt von einer MdE i. H. v. 70 % auszugehen (Bl. 106 ff. SG-Akte). Demgegenüber hat U. in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 19.09.2012 die Ansicht vertreten, dass eine Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht nachge-wiesen werden könne (Bl. 126 ff. SG-Akte). In der ergänzenden Stellungnahme vom 02.11.2012 hat T. an ihrem Votum festgehalten, jedoch eingeräumt, dass die von ihr verwen-dete Diagnose "Anpassungsstörung" unzutreffend sei. Vielmehr würde beim Kläger eine "mit-telgradige depressive Episode" bestehen. Sie habe jedoch durch ihr Gutachten nachgewiesen, dass der Kläger tatsächlich schlechtere Leistungen erbringen würde. Aufgrund der damit verbundenen Überforderung seien emotionale Probleme und eine chronische Depression hin-zugekommen, die eine Neubewertung der MdE rechtfertigen würden (Bl. 131 ff., 134 SG-Akte). V. hat sich in der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 22.11.2012 wiederum dem Gutachten von J. angeschlos-sen (Bl. 137 ff. SG-Akte).

Unter dem 18.10.2013 hat W. im Auftrag der Beklagten ein lungenfachärztlich-internistisches Gutachten erstattet. Darin ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass auf diesem Fachgebiet kein krankhafter Befund zu erheben gewesen und somit eine Verschlechterung nicht nachzuweisen sei (Bl. 102 ff. SG-Akte).

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

  1. 1.

    den Bescheid der Beklagten vom 03.07.2009 und den Widerspruchsbescheid vom 24.02.2011 aufzuheben,

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Rente nach einer MdE i. H. v. mindestens 60 % zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und waren aufzuheben, da dem Kläger ab dem 01.08.2008 Rente nach einer MdE i. H. v. 60 % zusteht.

Aus den §§ 212, 214 Abs. 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VII) ergibt sich, dass auf den vorliegenden Rechtsstreit hinsichtlich der Rentenhöhe noch die Vorschriften der Reichs-versicherungsordnung (= RVO) anzuwenden sind. Die Vorschriften des SGB VII gelten im Hinblick auf Rentenleistungen nur dann, wenn die Leistungen für Versicherungsfälle vor dem 01.01.1997 erstmals nach diesem Zeitpunkt festzustellen sind. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Anwendbar ist im vorliegenden Fall allerdings § 73 SGB VII (§ 214 Abs. 3 S. 3 SGB VII).

Gem. § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO erhält ein Verletzter, dessen Erwerbsfähigkeit zwar nicht voll-ständig, aber mindestens zu einem Fünftel gemindert ist, den Teil der Vollrente, der dem Grad seiner MdE entspricht. Bei der Frage einer Verschlimmerung von Unfallfolgen ist zusätzlich die Vorschrift des § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB X) zu beachten. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Verschlimmerung des Unfallfolgenzustandes war und ist allerdings nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (= BSG) nur dann eine wesent-liche Änderung i. S. der obigen Vorschrift, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 % verändert (§ 73 Abs. 3 SGB VII). Entscheidend für die Feststellung, ob eine wesentliche Änderung i. S. des § 48 Abs. 1 SGB X vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den objektiven Ver-hältnissen, d. h. den objektiven Befunden im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidsmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand im Zeitpunkt der Neu-feststellung (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar zu gesetzlichen Unfallversicherung, § 48 SGB X, Rz. 3.1; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 110, m. w. N.).

Bei Anwendung dieser Kriterien ist auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine wesent-liche Änderung in den Verhältnissen dergestalt eingetreten, dass sich aufgrund der zusätzlich als Unfallfolge festgestellten "mittelgradigen depressiven Episode" eine Erhöhung der MdE ergibt. Im Vergleichsgutachten der E. und F. vom 02.02.1987 wurde seinerzeit festgestellt, dass beim Kläger im Wesentlichen "ein hirnorganisches Psychosyndrom mit einer herabge-setzten Hirnleistung i. S. v. Konzentrationsstörungen, vorzeitiger Ermüdbarkeit, herabgesetzter Gedächtnis- und Merkfähigkeit bei einem Zustand nach contusio cerebri mit einer compu-tertomographisch gesicherten subkortikalen Substanzminderung" vorliegt (Bl. 274 UA). Diese Gesundheitsstörungen liegen auch heute noch in unveränderter Ausprägung vor. Die Kammer folgt dabei der Argumentation von J. im Gutachten vom 17.10.1990, nach der im Gutachten der E. und F. vom 02.02.1987 keine validen Testergebnisse enthalten sind, die zu den später erhobenen Befunden quantitativ in Beziehung gesetzt werden können. Daher kann insoweit weder eine Verbesserung noch eine wesentliche Verschlimmerung nachvollziehbar dargestellt werden. Auch im Gutachten vom 10.02.2012 hat J. insoweit überzeugend dargelegt, dass mit den zu diesem Zeitpunkt erhobenen Befunden eine wesentliche Verschlimmerung der direkten Folgen des hirnorganischen Psychosyndroms nicht festgestellt werden kann (Bl. 53 ff. des Gutachtens). Dieses Ergebnis wird schließlich auch durch die Expertise der Q. und R. bestätigt (Bl. 1287 UA). T. ist demgegenüber insoweit die Ableitung einer wesentlichen Verschlim-merung gegenüber dem im Gutachten vom 02.02.1987 genannten hirnorganischen Befund nicht überzeugend gelungen, so dass sich die Kammer ihrer Auffassung, dass es diesbezüglich zu einer wesentlichen Verschlimmerung gekommen ist, nicht anschließen kann.

Allerdings folgt die Kammer T. darin, dass zusätzlich als mittelbare Unfallfolge eine "mittelgra-dige depressive Episode" vorliegt. Die Ausbildung einer solchen depressiven Symptomatik wird dabei von keinem der gehörten Sachverständigen in Abrede gestellt. Zwar hat J. im Gut-achten vom 10.02.2012 die Ansicht vertreten, dass sich die depressive Symptomatik aufgrund der immer wieder erlebten veränderten sozialen Situation entwickelt habe. Die von ihm hierfür angeführten Beispiele bzw. Begründungen können jedoch nicht als vom Unfallgeschehen völlig losgelöste äußere Einflüsse - wie etwa der Tod eines nahen Angehörigen - angesehen werden. Sie sind vielmehr ihrerseits direkt oder zumindest indirekt auf die anerkannten Folgen des streitgegenständlichen Unfalls zurückzuführen, sei es, dass der Kläger aufgrund der Un-fallfolgen nicht mehr in seinem Beruf als Kellner arbeiten oder den Betrieb der Eltern über-nehmen konnte, sei es, dass er deswegen immer weniger in der Lage war, die Probleme am Arbeitsplatz und im Freundeskreis zu kompensieren. Auch die Q. und R. haben daher im Gut-achten vom 16.06.2010 insbesondere auch "die verringerte psychophysische Belastbarkeit, die Versagensängste, die Zukunftssorgen und die verstärkte Irritabilität" eindeutig als Unfall-folgen ausgewiesen (Bl. 1288 UA). Die Kammer zieht hieraus den Schluss, dass die Unfallfol-gen zumindest eine wesentliche Teilursache für die Entwicklung der reaktiv depressiven Symptomatik waren (vgl. hierzu Schönberger/Mehr-tens/Valentin, a. a. O., S. 146, Nr. 5.1.6., m. w. N.). Nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Theorie der we-sentlichen Bedingung erfordert die Feststellung einer wesentlichen Ursache dabei nicht, dass die schädigende berufliche Einwirkung die alleinige oder überwiegende Bedingung ist. Haben mehrere Ursachen gemeinsam zum Gesundheitsschaden beigetragen, sind sie nebeneinander stehende Teilursachen. Kein Faktor hebt die Mitursächlichkeit des anderen auf. Dabei kann sogar eine verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung für den Erfolg rechtlich wesentlich sein. Als Faustregel lässt sich dabei festhalten, dass ein Faktor jedenfalls dann noch als wesentlich für den Eintritt des Gesundheitsschadens anzusehen ist, wenn er neben anderen Bedingungen daran mit einem Drittel beteiligt war. Unwesentlich für den Eintritt eines Gesundheitsschadens ist danach eine Bedingung nur dann, wenn sie nur einen Anteil von 10 % an der Entstehung erreicht hat (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 25 f., m. w. N). Den Anteil der Unfallfolgen an der Entstehung der depressiven Symptomatik bzw. an der De-kompensation ist im vorliegenden Fall jedoch deutlich höher einzuschätzen, zumal eine ein-schlägige vor dem Unfall bestehende Erkrankung bzw. Anlage von allen Gutachtern ausge-schlossen wurde. Bei Anwendung dieser Grundsätze muss somit dem angeschuldigten Ereig-nis ein wesentlicher Beitrag - zumindest i. S. einer wesentlichen Teilursache - an der reakti-ven depressiven Entwicklung zugebilligt werden. Der Auffassung der X. und der von der Be-klagten konsultierten Sachverständigen konnte sich die Kammer daher insoweit nicht an-schließen.

Die Kammer hält auch insoweit eine Einzel-MdE i. H. v. 20 % für zutreffend, da sie den Be-reich einer reinen Verstimmung überschritten hat und deutlich über eine rein psychovegetative Symptomatik hinausgeht (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 156). T. hat schlüssig dargestellt, dass die depressive Symptomatik zu deutlichen Einschränkung geführt hat. Darüber hinaus bedarf die depressive Symptomatik auch der ständigen Behandlung. Wei-terhin ist zu beachten, dass T. diejenige Sachverständige ist, die den Kläger zuletzt auf diesem Fachgebiet persönlich untersucht hat und daher auch der aktuellste Eindruck vom Kläger in deren Expertise eingeflossen ist.

Bei der Gesamtwürdigung des beim Kläger vorliegenden Unfallfolgenzustandes besteht eine Gesamt-MdE i. H. v. 60 % (§ 128 SGG), wobei von Einzel-MdE-Werten auf unfallchirurgi-schem Fachgebiet i. H. v. 20 % und auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet i. H. v. 50 % auszugehen ist. Auf internistisch-lungenärztlichem Fachgebiet liegt demgegenüber ent-sprechend dem Gutachten von W. keine MdE vor. Zwar ist eine schematische Addierung der Einzel-MdE-Werte zur Feststellung der Gesamt-MdE grundsätzlich nicht zulässig (Schönber-ger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 103). Ebensowenig ist allerdings eine pauschale Kürzung der Einzel-MdE-Werte bei der Bildung der Gesamt-MdE vorzunehmen. Entscheidend ist viel-mehr eine "Gesamtschau der Gesamteinwirkung aller einzelnen Schäden auf die Erwerbsfä-higkeit" vorzunehmen (vgl. BSGE 48, 82). Dabei ist besonders zu berücksichtigen, inwieweit sich die auf den einzelnen Fachgebieten festgestellten Unfallfolgen überschnei-den. Im vorlie-genden Fall bestehen nach den insoweit überzeugenden Ausführungen von J. zwischen den Unfallfolgen auf chirurgischem Fachgebiet und der depressiven Entwicklung Überschneidun-gen insbesondere auf dem Gebiet der Schmerzwahrnehmung. Weiterhin bestehen Über-schneidungen zwischen den Folgen der depressiven Symptomatik und den Folgen des hirn-organischen Psychosyndroms (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 146, Nr. 5.1.6.), so dass eine Gesamt-MdE i. H. v. 60 % angemessen ist.

Eine wesentliche Verschlimmerung lässt sich entsprechend dem Bericht von K. vom 08.09.2008 ab Juli 2008 feststellen (Bl. 1155 UA). Darin wurde ausgeführt, dass sich bei der letzten Konsultation eine rasch progrediente allgemeine Erschöpfung gezeigt hatte, die Kon-zentration, die Aufmerksamkeitsdauer und die gedankliche Wendigkeit zunehmend reduziert und auch die reaktiv depressiven Komponenten feststellbar waren (Bl. 1155 UA). Zwar erge-ben sich anamnestisch schon Hinweise für ein früheres Entstehen der depressiven Sympto-matik. Eine ärztlich fundierte Befunderhebung ist jedoch erst durch K. erfolgt. Die erhöhte Rente steht daher ab dem 01.08.2008 zu (§ 73 Abs. 1 SGB VII).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.