Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 08.04.2002, Az.: 1 A 135/98

Aufenthaltsbefugnis; Ausreisepflicht; Dauerduldung; Ermessensreduzierung; freiwillige Ausreise; Härteklausel; Rechtsgrundverweisung; Rückübernahmeabkommen; Unzumutbarkeit; Vietnam

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
08.04.2002
Aktenzeichen
1 A 135/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 43452
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur Vermeidung und Reduzierung von Dauerduldungen ist das Ermessen im Rahmen der Abs. 3 und 4 des § 30 AuslG möglichst und grundsätzlich zugunsten der ausländischen Staatsangehörigen auszuschöpfen.

2. Können aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus humanitären, persönlichen oder rechtlichen Gründen oder aber aus Gründen des öffentlichen Interesses nicht vollzogen werden, so ist aus diesen Gründen regelmäßig zugleich auch eine freiwillige Ausreise unmöglich.

3. Die nachhaltige Weigerung Vietnams, einige seiner Staatsangehörigen zurückzunehmen, ist ein Fall der Unmöglichkeit freiwilliger Rückkehr.

4. Auch die bloße Unzumutbarkeit der Rückkehr aus persönlichen und familiären Gründen ist regelmäßig ein Grund, der einer freiwilligen Rückkehr entgegensteht.

Gründe

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2. Da der Kläger bisher nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG also nicht zum Zuge kommt, kann der Kläger jedoch eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG beanspruchen. Diese Vorschrift kann ebenso wie die anderen Absätze als allgemeine Härteklausel neben § 70 AsylVfG betrachtet werden (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 30 AuslG Rdn. 2), die u.a. dann eingreift, wenn Abschiebungshindernisse vorliegen und die Abschiebung (aus rechtlichen oder auch nur tatsächlichen Gründen) für einige Zeit - nicht nur vorübergehend - unmöglich ist. Dabei ist der gesetzlich bestehende Ermessenspielraum zwecks Reduzierung von "Dauerduldungen" - möglichst auszuschöpfen, insbesondere in den Fällen, in denen sich eine Rückkehrmöglichkeit weiterhin nicht abzeichnet - (so ganz ausdrücklich der Erlass des Nds.MI v. 21.1.2002 - 45.2-12230/ 1-1 , § 30).

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2.1 Der Kläger ist ohne Frage unanfechtbar ausreisepflichtig: Hierfür reicht es aus, dass er kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig iSv § 42 AuslG ist (VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423 [VG Stuttgart 07.10.1996 - 5 K 3183/95]). Hier kommt hinzu, dass der Kläger aufgrund des Bescheides v. 25.2.1993 - nach Rechtskraft des Asylurteils - ausreisepflichtig ist und sein Antrag v. 28.8.1997 wg. § 69 Abs. 2 Nr. 2 AuslG (sonstiger Verwaltungsakt) keine Fiktionswirkung mehr entfalten kann. Er ist grundsätzlich ausreisepflichtig und nach der eigenen Einschätzung des Beklagten wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nur fortlaufend - über viele Jahre - geduldet worden.

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2.2 Für einen Anspruch aus § 30 Abs. 3 AuslG kommt es auf die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 AuslG an, nämlich u.a. auf die Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen. Insoweit enthält § 30 Abs. 3 AuslG eine Rechtsgrundverweisung (Nds. OVG v. 19.4.1996 - 4 M 625/96 -, NVwZ-Beilage 1996, 87 m.w.N.; Nds. OVG v. 20.1.1997 - 4 M 7062/96 -, NVwZ-Beilage 1997, 28 = AuAS 1997, 154-155; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Bd. 1, Loseblattsammlung/Std. Juli 2001, § 30 Rdn. 107), deren Voraussetzungen hier gegeben sind, zumal es bei § 55 Abs. 2 AuslG gar nicht darauf ankommt, ob der Ausländer auch - worauf der Beklagte abzustellen versucht - freiwillig ausreisen könnte (BVerwG, NVwZ 1998, 297 [BVerwG 25.09.1997 - BVerwG 1 C 3/97]). Im Übrigen ist es nach dem gen. Erlass des Nds.MI v. 21. Januar 2002 so, dass dann,

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"wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen, ...diese Gründe regelmäßig auch einer freiwilligen Ausreise entgegen(stehen). Dies ist auch der Fall, wenn die Rückkehr unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation unzumutbar ist " - Pkt. 3 letzter Absatz d. Erl.

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Hierbei ist der Ermessenspielraum "grundsätzlich zugunsten der ausländischen Staatsangehörigen auszuschöpfen, um langjährige Duldungszeiten möglichst zu vermeiden" (Pkt. 3 vorletzter Abs. d. Erl.). Damit ist im Gegensatz zum angefochtenen Bescheid v. 12.9. 1997, demzufolge die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis "zwingend" ausgeschlossen sei, solange (noch) eine freiwillige Ausreise möglich sei, mit dem gen. Erlass vielmehr davon auszugehen, dass schon bei Vorliegen entsprechender Gründe (s.o.) oder aber bei Unzumutbarkeit einer Rückkehr eine Rückkehrmöglichkeit für den betreffenden Ausländer nicht mehr angenommen werden kann. Seine Rückkehr ist damit im vorausgesetzten Sinne unmöglich. Nachdem der Kläger hier bisher keine Ausweispapiere von der vietnamesischen Botschaft hat erhalten können, obwohl Anträge auf Rückübernahme seitens des Beklagten gestellt worden sind (Bl. 118 Rs d. VerwVorgg.), liegt es so, dass aus tatsächlichen Gründen - dem Verweigern seitens der vietnamesischen Behörden bzw. dem Fehlen von Ausweispapieren - sowohl eine Ausreise wie auch eine Abschiebung derzeit unmöglich sind. Damit liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis vor. Denn diese kommt gem. § 30 Abs. 3 AuslG

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"vorrangig dann in Betracht, wenn die Abschiebung ... aus rechtlichen Gründen auf einen längeren Zeitraum gesehen unmöglich erscheint. Denn mit Hilfe einer Duldung kann die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden...; auch kommt ihr nicht die Funktion .... eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu" (OVG Bautzen, InfAuslR 2000, 76/77).

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2.2.1 Es fehlt hier an der Aufnahmebereitschaft des vietnamesischen Staates, so dass eine Ausreise des Klägers insgesamt nicht möglich ist. Nach Auffassung des BMI v. 30.9. 1997 (Az. A 2b - 125 610 VIE / 1) fallen auch vietnamesische Staatsangehörige, die freiwillig nach Vietnam zurückkehren wollen, in den Anwendungsbereich des mit Vietnam geschlossenen Rückübernahmeabkommens, "sofern sie nicht im Besitz von gültigen Heimreisedokumenten (einschließlich Heimreisevisum) sind". In Art. 1 dieses Abkommens ist ein Übernahmeermessen festgelegt, dem sich ein mehrstufiges Verfahren nebst Überprüfung der einschlägigen Unterlagen anschließt (Art. 2 ff. des Protokolls). Von ca. 20.000 an das vietnamesische Innenministerium weitergeleiteten Anträgen auf Rückübernahme sollen so über 5000 zurückgegeben worden sein (Stand 1997, Sitzung der Arbeitsgemeinschaft "Rückführung" am 29./30. Juli 1997 in Düsseldorf). Nach Auskunft der Grenzschutzdirektion Koblenz sind verschiedene Rückführungsanträge (u.a. in der Sache 1 A 135/97) von der vietnamesischen Seite "ohne Einzelfallbegründung" und lediglich mit allgemeinen Ausführungen abgelehnt worden.

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Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge stellt jedoch der vietnamesische Staat auch außerhalb des gen. Abkommens die erforderlichen Reisedokumente (u.a. Heimreisevisum) nicht aus, u.zw. vor allem dann nicht, wenn klar wird, dass der Antragsteller früher als Vertragsarbeitnehmer in der CSFR, in Bulgarien, Ungarn usw. tätig war. In diesen Fällen verneint die jeweilige vietnames. Botschaft ihre "Zuständigkeit". Dabei schützt der vietnamesische Staat nach den Informationen der Kammer auch einmal vor, der Name oder das Geburtsdatum des zurückzuführenden vietnamesischen Staatsbürgers seien nicht korrekt angegeben, oder aber er benennt die Gründe seiner Weigerung erst gar nicht im einzelnen (s.o.). Es mag sein, dass die vietnames. Regierung so "den Einfluß westlicher Werte über die RückkehrerInnen unter Kontrolle halten" will (so TAZ v. 22.9. 1998). Auch für eine Rückführung durch die Intern. Organization for Migration - IOM - werden Pässe und Rückreisevisa benötigt, bei deren Beantragung IOM lt. Schreiben vom 21.4.1997 nicht behilflich sein könne. Bei dieser Gesamtlage ist weder eine freiwillige Rückkehr im Rahmen des Rückübernahmeabkommens noch aber eine solche außerhalb dieses Abkommens - mangels Visum bzw. Genehmigung der vietnamesischen Seite - tatsächlich möglich (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 7.2.1994, InfAuslR 1994, 236). Die Möglichkeit, über Bestechungsgelder Zutritt zur vietnames. Botschaft und letztlich auch zu Heimreisepapieren zu erlangen, hat hier außer Betracht zu bleiben. Von dieser Unmöglichkeit einer Rückkehr nach Vietnam wird auch im Widerspruchsbescheid (S. 3) ausgegangen:

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"Der Staat Vietnam hat sich über mehrere Jahre geweigert, die große Zahl der in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen Vietnamesen, d.h. seine eigenen Staatsangehörigen, zurückzunehmen. Diese Weigerung war völkerrechtswidrig."

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Das Motiv für diese Weigerung des vietnamesischen Staates und dessen "Völkerrechtswidrigkeit" ist im Rahmen von § 30 Abs. 3 AuslG ohne jede Bedeutung: Es geht nur um tatsächliche Hindernisse, die entgegen stehen; ihre rechtliche Bewertung ist bedeutungslos. Die Weigerung Vietnams ist belegt durch die nachhaltigen Bemühungen des Beklagten in einer Reihe von Fällen, die jedoch nicht zu einem Rückführungserfolg geführt haben (vgl. dazu VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423/424).

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Unter diesen Umständen gehört es nicht mehr zu den Obliegenheiten des Klägers, eine Einreise nach Vietnam tatsächlich zu versuchen. Denn solche Versuche sind dann nicht mehr zumutbar, wenn sie von vorneherein aussichtslos sind (BVerwG, Urt. v. 15.2. 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - ). So liegt es jedoch angesichts der Gesamtumstände hier, wie die im Juni 1996 fruchtlos gestellten Anträge auf Rückübernahme des Klägers und die sog. "N-Liste" aufzeigen, welche in einer Reihe von Fällen die Unmöglichkeit einer Rückführung nach Vietnam nachhaltig belegt hat (vgl. dazu Urteile der Kammer v. 20.2.02 - 1 A 141/98, 1 A 144/98, 1 A 137/97, 1 A 377/99).

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2.2.2 Diese tatsächlichen wie rechtlichen Hindernisse für eine freiwillige Ausreise bzw. Abschiebung hat der Kläger auch nicht etwa zu vertreten: Es ist gerichtsbekannt, dass vom vietnamesischen Staat Heimreisepapiere an "Renegaten" nicht ausgegeben werden, dieser Staat die Rückreise solcher Personen nicht wünscht bzw. behindert, was angesichts der bekannt gewordenen "N-Liste" plausibel ist. Art und Umfang einer - freiwilligen - Mithilfe des Klägers haben dabei kein Gewicht, da die Grenzschutzdirektion Koblenz die Angaben in allen Rückübernahmeanträgen selbständig noch in die Form des Selbstangabe-Vordrucks umsetzt (so Antwort des Staatssekretärs Schapper auf Frage 13 der Kl. Anfrage gem. Presseinformation des Nds. MI v. 5.8.1997), um eine Bearbeitung durch die vietnamesische Seite sicher zu stellen. So dürfte auch mit den hier gestellten Rückübernahmeanträgen verfahren worden sein (Bl. 118 Rs der VerwVorgg.). Alle diese Hindernisse hat der Kläger nicht zu vertreten, da sie objektiver Art sind.

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Die konkrete Möglichkeit der Rückführung/Abschiebung des Klägers ist damit z.Z. nicht gegeben - wenngleich es immer noch nicht ausgeschlossen zu sein scheint, dass der Zielstaat Vietnam sich (ohne rechtliche Verpflichtung) zu einer Aufnahme entschließt, was dann ausreichte (Renner, Ausländerrecht, Komm. 7. Aufl. 2000, § 55 Rdn. 8). Derzeit jedenfalls gibt es dafür keinerlei Anzeichen, so dass eine entsprechende Prognose (vgl. Renner, aaO.) negativ ausgeht und damit zu Gunsten des Klägers ausschlägt.

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2.3 Selbst dann, wenn man mit dem Beklagten davon ausgehen wollte, für den Kläger, dessen Abschiebung nicht möglich ist, sei eine freiwillige Ausreise noch irgendwie denkbar und auch tatsächlich möglich, so wäre sie ihm als solche jedenfalls nicht zuzumuten. Denn § 30 Abs. 3 AuslG fungiert auch als Auffangvorschrift in Fällen, in denen - etwa mit Blick auf Art. 3, 6 od. Art. 8 EMRK - dem Ausländer die Ausreise rechtlich nicht möglich (vgl. Nds. OVG in InfAuslR 2001, S. 333) bzw. sie für ihn aus entsprechenden Gründen nicht zumutbar ist (Renner, aaO. § 30 Rdn. 9; BVerwG, EZAR 021 Nr. 6; Erlass des Nds. MI v. 21.1.2002 / Pkt. 3 letzter Absatz). Solche Unzumutbarkeit liegt hier vor.