Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 23.04.2002, Az.: 3 A 1/01

Gewohnheitsrecht; Interessentenschaft; Mitgliedschaft; Realgemeinde; Trennbarkeit vom Hof

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
23.04.2002
Aktenzeichen
3 A 1/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 42364
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Mitgliedschaftsrechte an einer echten Realgemeinde und an einer Interessentenschaft konnten in der preußischen Provinz Hannover in aller Regel aufgrund Gewohnheitsrechtes nicht vom Hof getrennt werden

Tatbestand:

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Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Klägerin Mitglied beim beklagten Realverband ist.

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Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin des Landwirtes B.. Dieser war Mitglied des Beklagten. Der Beklagte hatte sich 1901 ein Statut gegeben, was 1971 durch eine Satzung abgelöst wurde.

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Nachdem B. am 17. August 1965 verstorben war, verkauften dessen Witwe und ihr inzwischen ebenfalls verstorbener Sohn - der Lebensgefährte der jetzigen Klägerin - die Ländereien. Mit getrennten notariellen Verträgen vom 14. Oktober 1965 wurde der Landbesitz an den Fischermeister C. und den Landwirt D. verkauft. Die Realgemeindeanteile wurden ausdrücklich vom Verkauf ausgenommen (§ 10 Abs. 3 des Notarvertrages E., § 4 Abs. 3 des Notarvertrages F.). Nach dem Verkauf der Grundstücke bemühten sich die Witwe und ihr Sohn weiter um den Verkauf der Realgemeindeanteile. In einem Schreiben des Versuchs- und Beratungsrings Gartow vom 8. Juni 1966 an die Witwe heißt es hierzu:

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"Mit Herrn G. habe ich wegen der Realgemeindeanteile gesprochen. Er glaubt nicht mehr an einen Verkauf, da der bisherige Interessent abgesprungen ist und als Käufer nur die Realgemeinde auftreten kann. Und diese bietet nichts mehr".

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Mit Schreiben vom 30. September 1997 an den Realverbandsvorsitzenden stellte sich der verstorbene Lebensgefährte der Klägerin auf den Standpunkt, er sei immer noch Mitglied des Realverbandes und bitte um entsprechende Bestätigung. Der Realverband antwortete, aufgrund der Nachforschungen ergebe sich keine Mitgliedschaft.

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Der Lebensgefährte hat am 21. September 1998 Klage erhoben, die nach seinem Tode von der Klägerin, die Alleinerbin ist, weitergeführt wird.

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Die Klägerin beantragt

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festzustellen, dass sie Mitglied des Beklagten ist.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er hält die Klage für unzulässig, da sich die Erben nach B. erst 1997 um die Realgemeindeanteile gekümmert hätten. Rechte seien deshalb verwirkt. Die Klage sei auch unbegründet, weil nach dem Statut von 1901 die Hofstelle nicht ohne den Realgemeindeanteil hätte verkauft werden dürfen. Der Verbandsanteil sei entgegen dem notariellen Vertrag auf den Erwerber übergegangen.

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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsak-ten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung, dass sie Mitglied des beklagten Realverbandes ist.

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1. Es bleibt offen, ob dies bereits aus dem Gesichtspunkt der Verwirkung folgt.

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Seit dem Inkrafttreten des Niedersächsischen Realverbandsgesetzes von 1969 - RVG - ist in § 16 ausdrücklich geregelt, dass ein Mitglied im Aufgebotsverfahren ausgeschlossen werden kann, wenn das Mitglied oder sein Aufenthaltsort unbekannt ist und das Mitglied seit 10 Jahren weder Rechte aus dem Verbandsanteil ausübt, noch Leistungen an den Realverband erbracht hat. Zuständig für das Ausschlussverfahren ist dann das Amtsgericht, welches durch Urteil zu entscheiden hat. - Ein solches Ausschlussverfahren ist hier nicht durchgeführt worden.

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Ob neben dem Ausschlussverfahren der Gesichtspunkt der Verwirkung anwendbar ist und bleibt, ist offen. Allgemein wird eine Verwirkung von Rechten nach 30 Jahren anzunehmen sein. Dieser Zeitrahmen ist hier überschritten. Indes ist zu beachten, dass aus dem Realgemeindeanteil nicht nur Rechte folgen, sondern auch Pflichten. So ist etwa in § 8 des Status des Beklagten von 1901 die Pflicht festgeschrieben, sich an den Kosten für die Instandhaltung der Wege und Gräben zu beteiligen. Nach §§ 29 Abs. 1 und 5 RVG kann der Realverband Beiträge zur Deckung seiner Ausgaben erheben, die als öffentliche Last auf dem Grundstück ruhen und wie Gemeindeabgaben beigetrieben werden. Nach § 30 RVG kann die Mitgliederversammlung beschließen, dass die Mitglieder herkömmliche Dienstleistungen auf den Grundstücken oder Anlagen des Verbandes zu erbringen haben. - Ob diese Pflichten, die objektives Recht bilden, der Verwirkung durch einseitige Untätigkeit eines Mitglieds unterliegen, ist zweifelhaft und bleibt von der Kammer unentschieden.

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2. Die Klage hat jedenfalls deshalb keinen Erfolg, weil die Mitgliedschaftsrechte am beklagten Realverband mit dem Abschluss der Kaufverträge und dem Eigentumsübergang der Hofstelle untergegangen sind.

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Es ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Beklagten um eine echte Realgemeinde handelt (a). Bei dieser ist ein Gewohnheitsrecht festzustellen, nach dem bis zum Inkrafttreten des Realverbandsgesetzes 1969 ein Mitgliedschaftsrecht nicht ohne Hofstelle bestehen konnte (b). Mitgliedschaftsrechte sind daher 1965 mit Verkauf und Eigentumsübergang des Hofes untergegangen (c).

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a) Es ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Beklagten um eine echte Realgemeinde handelt. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und nicht näher problematisiert worden.

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Realgemeinden sind Überreste der alten deutschen Markgenossenschaften. Ursprünglich war alles Land gemeinschaftlicher Besitz sämtlicher Dorfbewohner. Nachdem Höfe und Ackerland in Sondereigentum der Bauern übergegangen waren, blieben doch vielfach Wald, Weide, Steinbrüche, Sandgruben usw. gemeinsam und wurden auch gemeinsam benutzt. Das war die Allmende oder Gemeine Mark. An der Allmende hatten die Dorfbewohner bestimmte, fest umrissene Nutzungsrechte, die der Bewirtschaftung der Höfe dienen sollten. Die Nutzungsrechte lieferten den Bauern Brenn- und Bauholz, Sand, Mergel usw. Durch Zuzug besitzloser Leute veränderte sich die Dorfgemeinschaft der Bauern. Lehrer, Pastoren, Mieter, Handwerker, Tagelöhner, Knechte und Mägde hatten keinen Besitz in der Gemeinde. Die Kreise der alten landbesitzenden Bewohner und der Gesamtheit der Einwohner waren nicht mehr deckungsgleich und verschoben sich. Hofbesitzer und Dorfbewohner konnten nicht mehr einheitlich verwaltet werden. Neben die Realgemeinde trat durch die Vermehrung und Änderung der Aufgaben für die Gesamtheit der Dorfbewohner die sogenannte politische Gemeinde, die alle Dorfbewohner ohne Ausnahme umfasste. Diese tatsächliche Entwicklung wurde durch die Landgemeindegesetze begleitet und abgeschlossen. Für das Gebiet des noch existenten Königreichs Hannover (die Schlacht bei Langensalza war noch nicht geschlagen), zu dem damals auch das Fürstentum Lüneburg gehörte, wurde schließlich 1852 das erste Landgemeindegesetz erlassen, das 1859 erneuert wurde. Stimmrecht in der politischen Gemeinde hatten nicht nur die Hofeigentümer, sondern auch alle Männer, die wohnberechtigt waren und einen eigenen Haushalt führten. Diese Männer durften allerdings nicht zu schweren Strafen verurteilt worden sein, sie mussten unbescholten und selbständig sein, was für diejenigen, welche in Kost und Lohn standen, nicht zutraf (vgl. insbesondere § 8 - 10 des Gesetzes von 1859, Gesetzsammlung für das Königreich Hannover 1859 S. 393). Viele Realgemeinden sind im 19. Jahrhundert untergegangen und die gemeinschaftlichen Flächen wurden auf die politischen Gemeinden übertragen. Dort, wo das Vermögen der ursprünglichen Gemeinde nicht völlig aufgelöst oder auf die politische Gemeinde übergegangen ist, liegt eine Realgemeinde vor, die eine besondere Gemeinschaft mit eigener Verwaltung und eigenem Recht bildet.

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Realgemeinden konnten sich nach dem Realgemeindegesetz vom 5. Juni 1888 eine eigene Verfassung geben, das sogenannte Statut. Das Statut musste unter anderem Namen der Realgemeinde enthalten, die Bezeichnung der Teilnahmerechte und Vorschriften über die Verteilung der Lasten im Falle einer Veräußerung oder Teilung von Berechtigungen. Die Realgemeinden werden in § 1 und 2 des Gesetzes als "Genossenschaften" bezeichnet.

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Von den echten Realgemeinden zu unterscheiden sind Interessentengemeinden (Teilungs- und Verkoppelungsgemeinschaften). Dies sind Gebilde besonderer Art, die ihre Entstehung der Gemeinheitsteilungs - und Verkoppelungsgesetzgebung verdanken, namentlich den Gesetzen vom Juni 1842 und von 1856.   Die Teilung wurde in Rezessen niedergelegt. Diese Miteigentümergemeinschaften haben später durch das Gesetz vom 2. April 1887 eine Rechtsordnung erhalten; die Interessenten bekamen einen gemeinsamen Vertreter und wurden unter die Aufsicht der Auseinandersetzungsbehörde gestellt. Die Unterscheidung zwischen echten Realgemeinden und Interessengemeinschaften ist deshalb von Bedeutung, weil sich nur die echten Realgemeinden nach dem Gesetz von 1888 ein Statut geben durften. Auf die Interessengemeinschaften war das Gesetz von 1888 nicht an-wendbar, sondern nur das Gesetz von 1887. Haben sich Interessentengemeinschaften ein Statut gegeben, ist dieses nichtig (Preußisches OVG, Entsch. v. 1.7.1915 in PrOVGE, Bd. 69 S. 133).

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Allerdings ist nicht stets dort, wo ein Auseinandersetzungsverfahren stattgefunden hat und ein Rezess vorliegt, das Vorhandensein einer Realgemeinde ausgeschlossen: Ist der gesamte Grundbesitz der Realgemeinde Gegenstand der Teilung unter den Genossen und ist das Verfahren auf die Auflösung der Realgemeinde gerichtet gewesen, ist sie mit der Gemeinheitsteilung untergegangen. Zu verneinen ist eine Auflösung dann, wenn ein Teil der Gemeinheit von der Verteilung ausgeschlossen und den bisher Berechtigten ausdrücklich vorbehalten blieb. In einem solchen Fall wurde zwar die ursprüngliche Gemeinheit verringert, aber die Realgemeinde nicht beseitigt. Eine Auflösung lag aber dann vor, wenn zwar eine Gemeinheit erhalten blieb, diese aber aus der gesamten Verkoppelungsmasse ohne Rücksicht auf deren Ursprung gebildet wurde und Sonderrechte für die bisherigen Realgemeindeberechtigten hieran nicht gebildet wurden  (so ausdrücklich Preußisches OVG, Entsch. v. 20.10.1913 in PrOVGE 65, Seiten 124, 129 und 132). War eine Realgemeinde an einem Auseinandersetzungsverfahren beteiligt, ist im Zweifel die Vermutung gerechtfertigt, dass sie erhalten blieb: Die besonderen Verhältnisse in der Provinz Hannover und die Existenz der Markgenossenschaften in den Realgemeinden sollten "geschont" werden (a.a.O. S. 132).

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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Beklagten um eine echte Realgemeinde handelt. Die Realgemeinde hat ein Statut von 1901, das sich nur echte Realgemeinden, nicht aber Interessengemeinschaften geben konnten. § 1 des Statuts spricht von "Genossenschaftsangehörigkeit", wobei dieser Begriff auf §§ 1 und 2 des Gesetzes von 1888 und das Vorliegen einer echten Realgemeinde hinweist. Das Oberlandesgericht Celle geht in einem Beschluss vom 14. Mai 1968 - der dem Gericht vorliegt und den Beklagten betrifft - ohne weiteres vom Vorliegen einer (echten) Realgemeinde und nicht vom Vorliegen einer Interessentenschaft aus. - Der Umstand, dass in § 1 des Status Bezug genommen wird auf den Rezess über die Spezialteilung und Verkoppelung der Feldmark Gorleben von 1854, spricht schließlich im Ergebnis ebenfalls nicht gegen das Vorliegen einer echten Realgemeinde, weil diese - wie ausgeführt - Teilnehmer an Auseinandersetzungsrezessen sein kann, ohne dass hiermit ein Untergang verbunden ist. Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, den ursprünglichen Rezess heranzuziehen und aus dem Blickwinkel der Interessen von 1854 gleichsam ungefragt zu untersuchen, ob das Auseinandersetzungsverfahren zur Auflösung der Realgemeinde hat führen sollen und auch geführt hat. Im Übrigen gelten die im Folgenden niedergelegten Grundsätze für echte Realgemeinden im Hinblick auf Interessengemeinschaften entsprechend.

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b) Bei der Realgemeinde Gorleben ist ein Gewohnheitsrecht festzustellen, nach dem bis zum Inkrafttreten des Realverbandsgesetzes 1969 ein Mitgliedschaftsrecht nicht ohne Hofstelle bestehen konnte.

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aa) Handelt es sich bei der Realgemeinde Gorleben um eine echte Realgemeinde, gilt:

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In § 10 des Statuts von 1901 ist ein örtliches Gewohnheitsrecht festgeschrieben worden, das bis zum Erlass der Satzung 1971 aufgrund des Realverbandsgesetzes Gültigkeit hatte.

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§ 10 des Statuts hat folgenden Wortlaut:

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"Die Mitgliedschaft in der Realgemeinde erlischt, sobald die in der Anlage A. aufgeführten Personen aufhören, Eigentümer ihrer Hofstellen zu sein.

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Im Falle einer Veräußerung der gesamten Grundstücke eines Hofes durch Erbfall oder ein Geschäft unter Lebenden, geht die Mitgliedschaft in der Realgemeinde gleichzeitig mit dem Eigentum auf den neuen Erwerber über. Wird ein Hof in einzelnen Teilen oder werden einzelne Teile von einem Hofe veräußert, so wird oder bleibt der Eigentümer der alten Hofstelle im Dorfe Mitglied der Realgemeinde.

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Neue Teilnehmerrechte werden nicht verliehen.

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Eine Veräußerung der Teilnehmerrechte an sich ohne die Hofstelle kann nur an die Realgemeinde als solche geschehen."

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Diese Vorschrift lässt sich nicht beanstanden, sie ist rechtmäßig. Das Statut beruht auf dem bereits genannten Realgemeindegesetz vom 5. Juni 1888 für die Provinz Hannover, welches für echte Realgemeinden Anwendung findet.

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Die Regelung in § 10 Abs. 1 des Statuts, wonach das Mitgliedschaftsrecht nicht ohne Hofstelle existieren kann, verstößt auch nicht gegen sonstigeres höherrangiges Recht.

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(1). Allerdings: Vom Oberlandesgericht Celle ist in seiner grundlegenden Entscheidung vom 8. Mai 1914 (abgedruckt bei: Linckelmann/Fleck/Wiedemann, Das Hannoversche Privatrecht, 1930, S. 62) ausgeurteilt worden, das grundsätzlich die Realgemeindeanteile getrennt von den Höfen veräußert werden konnten und hat dazu ausgeführt: Übertragungen von Gemeindeberechtigungen von einem Hof auf den anderen waren bereist seit dem 12. Jahrhundert üblich. Es gab jedoch den Grundsatz, dass die Anteilsberechtigung durch gleichzeitiges Eigentum an einem Bauernhofe bedingt war. Im 19. Jahrhundert drängte die wirtschaftliche Entwicklung mehr und mehr auf eine freie Trennbarkeit der Realgemeindeanteile, so dass der tatsächlich vorzufindende Rechtszustand in den verschiedenen Regionen Deutschlands bunt und verworren war. Grundlegend hat sich dann die Rechtslage 1873 geändert, und zwar durch § 8 des Gesetzes über das Grundbuchwesen in der Provinz Hannover. Danach wurden Rechtsnormen, die die Teilung eines Bauernhofes und die Veräußerung einzelner Teile verbieten, aufgehoben. Auch § 1 des Höfegesetzes für die Provinz Hannover von 1874 enthielt eine ähnliche Formulierung mit dem Ziel der Aufhebung des Parzellierungsverbotes. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten dadurch alle Beschränkungen, welche die Bauern in der freien Verfügung über ihr Eigentum hindern, beseitigt werden; an die Stelle eines bevormundeten und eingeengten Bauernstandes sollte ein völlig freier Bauernstand treten. Die Bauern sollten Bauplätze veräußern können, ohne Realgemeindeanteile abgeben zu müssen. - Konsequenz der Rechtsprechung ist es, dass Realgemeindeanteile grundsätzlich getrennt von den Höfen veräußert werden konnten, umgekehrt aber auch Höfe veräußert werden konnten ohne Realgemeindeanteile.

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(2). Jedoch: Der Grundsatz der freien Trennbarkeit von Hofstelle und Realgemeindeanteilen gilt nicht stets und starr, vielmehr hat das Oberlandesgericht Celle Ausnahmen zu-gelassen. 1923 hat das Oberlandesgericht Celle in zwei Urteilen entschieden, dass durch örtliches Gewohnheitsrecht die Untrennbarkeit der Realgemeindeanteile von der Hofstelle bei gehalten oder wieder eingeführt werden konnte (Linckelmann/u.a., a.a.O., S. 44). Diese Rechtsprechung und die Maßgeblichkeit abweichenden Gewohnheitsrechts ist später beibehalten und verstärkt worden (vgl. OLG Celle in RdL 1954, S. 197). Die Bildung eines solchen Gewohnheitsrechts kommt vor allem dort in Betracht, wo die wirtschaftliche Entwicklung noch nicht zu einer Auflösung der alten bäuerlichen Verhältnisse und im Bauernstande herrschenden Rechtsüberzeugungen geführt hat und der Gedanke der Gebundenheit des Hofes und aller mit ihm zusammenhängenden Berechtigungen noch Allge-meingut der bäuerlichen Kreise war.

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(3). Daraus folgt für den vorliegenden Fall: Für die Realgemeinde Gorleben ist ein Gewohnheitsrecht festzustellen, dass Realgemeindeanteile und Hofstelle vor Inkrafttreten des Realverbandsgesetzes 1969 untrennbar verbunden waren.

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Das Oberlandesgericht Celle hat bereits in einer Entscheidung vom 22. Juni 1907 ausgeführt, dass in der Provinz Hannover "im Zweifel" die Realgemeindeberechtigungen kraft Gewohnheitsrechtes mit dem Hof und dem darauf stehenden Gebäude untrennbar ver-bunden waren, dies habe "ständiger Rechtsprechung" entsprochen (zitiert bei Molsen, die politischen und die Realgemeinden in den Hannoverschen Teilungs- und Verkoppelungsrezessen und die Reiheberechtigungen in Hannover, 1928, S. 64). Speziell für den Amtsgerichtsbezirk Dannenberg ist vom Oberlandesgericht Celle dann mit Urteil vom 18. Dezember 1908 ein entsprechendes Gewohnheitsrecht festgestellt worden, wonach Realgemeindeberechtigungen nicht ohne Hofstellen existieren konnten (zitiert bei Linckel-mann/u. a., a. a. O., S. 43 in der Fußnote).

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Wenn auch zu beachten ist, dass Gorleben, das nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1905 insgesamt 386 Einwohner hatte (davon 185 männliche, 379 evangelische Personen - ein Katholik, sechs andere Christen -, vgl. Gemeindelexikon für die Provinz Hannover 1908), im Amtsgerichtsbezirk Lüchow lag, ist doch wegen der Lage der Gemeinde in der Provinz Hannover und wegen der unmittelbaren Nachbarschaft zum Amtsgerichtsbezirk Dannenberg ohne weiteres ein Gewohnheitsrecht gegeben, wonach Hof und Anteil an der Realgemeinde untrennbar verbunden waren. Anhaltspunkte für eine gegenteilige Annahme liegen nicht vor.

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Damit handelt es sich bei der in § 10 des Statuts von 1901 hervorgehenden Verbindung zwischen Realgemeindeanteilen und Hofstelle um nichts weiter als die verfassungsmäßige Festschreibung des örtlichen Gewohnheitsrechts. Es begegnet deshalb keinen Rechtsbedenken, wenn § 10 Abs. 1 des Statuts bestimmt, dass bei dem Realverband Gorleben die Mitgliedschaft erlischt, wenn das Eigentum an der Hofstelle aufgegeben wird. Eine Trennung dahingehend, dass das Anteilsrecht allein in den Händen des bisherigen Berechtigten verbleibt, während der Grundbesitz weiter veräußert wird und der Veräußerer auch nicht Eigentümer eines anderen Hofes ist, mit dem das Anteilsrecht verbunden werden kann, ist danach überhaupt nicht zulässig. Mag auch die Rechtsüberzeugung, dass die Anteilsrechte untrennbar sind, durch die Entwicklung im 19. Jahrhundert, die Gesetze von 1873 und 1874 und das Urteil des Oberlandesgerichts Celle von 1914 teilweise ins Schwanken gekommen seien, so ist die Rechtsüberzeugung bei der Realgemeinde Gorleben doch nie aufgegeben, vielmehr durch die Formulierung des § 10 des Statuts voll und ganz aufrecht erhalten worden.

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bb) Sollte  es sich bei der Realgemeinde Gorleben nicht um eine echte Realgemeinde handeln, sondern um eine Interessentenschaft, gilt: 

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Das Statut wäre nichtig, weil sich - wie oben dargelegt - nur Realgemeinden, nicht aber auch Interessengemeinschaften ein Statut geben konnten. Dies würde in Hinblick auf das gebildete Gewohnheitsrecht nichts ändern. Im Gegenteil ist die Bindung des Hofgrundstückes an den Anteil einer Interessentenschaft aufgrund Gewohnheitsrechts genau so eng wie bei einer echten Realgemeinde. Denn:

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Der einzelne Hof kann in seiner Nutzung nicht losgelöst werden von der Nutzung auch der gemeinschaftlichen Wege, Gräben, Sandgruben und ähnlichem. Würde man das Anteils-recht an den gemeinschaftlichen Wegen von den nutzbaren Grundstücken trennen, so erhielte man Grundstücke ohne Zuwegung. Würde man das Anteilsrecht am Grabennetz, das die notwendige Entwässerung verschafft, von dem nutzbaren Grundstück trennen, hätte man ein Grundstück, welches überflüssiges Wasser nicht in die Entwässerungsgräben leiten darf und daher versumpfen müsste. Umgekehrt hätte man ein persönliches Recht zur Benutzung des Entwässerungsgrabens ohne einen angrenzenden Ackerbesitz. Inhaltslos wäre auch ein Recht, aus der gemeinschaftlichen Mergelgrube Mergel zur Verbesserung der Felder zu entnehmen, ohne solche zu haben. Ebenso wie das Anteilsrecht an den gemeinschaftlichen Zweckgrundstücken untrennbar ist von dem einzelnen nutzbaren Hof, so ist auch die sich aus dem Rezess ergebende Pflicht, die gemeinschaftlichen Wirtschaftseinrichtungen mit zu unterhalten, untrennbar mit dem Hof und seinen Wirtschaftsflächen verbunden. Denn es ist wirtschaftlich widersinnig und rechtlich unzulässig, die Unterhaltungspflicht etwa für die Person des Verkäufers bestehen zu lassen, welcher kein nutzbares Grundstück in der Mark und daher auch keinen Anteil an den Wirtschaftseinrichtungen mehr hat. Dies wird deutlich, wenn es nicht um Geldleistungen als Pflicht gegenüber der Interessentenschaft geht, sondern um Dienstleistungen oder die Ablieferung von Naturalien - etwa Holz für Wege- oder Gewässerbefestigung -. Die Rücksicht auf die übrigen Mitglieder der Interessentenschaft verbietet deshalb eine Trennung der Unterhaltungspflicht vom Grundbesitz am Hof. Denn die übrigen Mitglieder haben ein rechtliches Interesse daran, dass die ihnen allen gleichermaßen obliegende Pflicht zur Unterhaltung nicht ihrer sicheren gemeinschaftlichen und auf den Hof und seine Wirtschaftsflächen gegründeten Grundlage beraubt wird. Im Kern gehören die Höfe mit ihren bewirtschafteten eigenen Flächen wesensmäßig zusammen mit der Gesamtheit der nutz-baren Wege, Gewässer u. s. w. der Interessentenschaft. Die Hofgrundstücke der Interessenten und Anteilsrechte an der Interessentenschaft  sind untrennbar verbunden, nicht isolierbar und können nicht Gegenstand besonderer Rechte sein (vgl. allgemein Linckel-mann/u.a., a.a.O., S. 46 ff.; grundlegend aber Kluckhuhn, Das Recht der Wirtschaftswege 1904, S. 25 ff., 68 f).

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Die oben dargestellte Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Celle im Hinblick auf die  Trennbarkeit der Anteile an der Realgemeinde von dem Grundbesitz  lässt sich nicht übertragen auf Interessengemeinschaften. Die Interessengemeinschaften aufgrund der Gesetze von 1887 und 1842 und aufgrund rezessrechtlicher Regelungen sind von einer echten Realgemeinde wesensverschieden, wie das Preußische Oberverwaltungsgericht mehrfach entschieden hat (PrOVGE 65, 117 und 69 S. 116 und 133). Einer Interessentenschaft ist es wesensgemäß, dass das Mitgliedschaftsrecht - die Anteile an der Interessentengemeinschaft - ein für alle Mal an den Grundsbesitz im Gebiet gebunden ist, so dass die Rechtsprechung des OLG Celle nicht auf Interessengemeinschaften übertragen werden kann (Linckelmann/u. a., a.a.O., S. 47 f). - Selbst wenn man diesem Ansatzpunkt nicht folgen und die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Celle auch auf die Interessengemeinschaften übertragen wollte, würde dies im Ergebnis nichts ändern: Denn die Trennbarkeit von Hof und Mitgliedschaftsrecht ist nicht mehr als ein Grundsatz, der - wie ausgeführt - durch Gewohnheitsrecht eine Ausnahme erfährt. Ein solches Gewohnheits-recht mit dem Inhalt, Hof und Gemeinschaftsanteil als untrennbare Einheit zu behandeln, ist  für das Gebiet der Gemeinde Gorleben festzustellen, wie bereits ausgeführt worden ist.

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c) Mitgliedschaftsrechte der Rechtsvorgänger der Klägerin sind 1965 mit Verkauf und Eigentumsübertragung des Hofes untergegangen.

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Dies folgt aus § 10 Abs. 1 des Statuts von 1901 unmittelbar, der - wie ausgeführt - örtliches, festes Gewohnheitsrecht verfassungsmäßig festschreibt, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um Gewohnheitsrecht einer echten Realgemeinde oder um Gewohnheitsrecht einer Interessentenschaft handelt. Die Rechtsvorgänger der Klägerin haben 1965 aufgehört, Inhaber der Hofstelle zu sein.

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Aus § 10 Abs. 4 des Statuts - der ebenfalls örtliches Gewohnheitsrecht festschreibt - ist nicht zu folgern, dass die Klägerin Inhaberin von Anteilsrechten an dem Beklagten ist. Wenn in dieser Vorschrift vorgesehen ist, dass eine Veräußerung der Teilnehmerrechte an sich ohne die Hofstelle nur an die Realgemeinde erfolgen kann, folgt daraus nicht, dass das Anteilsrecht nach Aufgabe des Hofes immer noch frei handelbar ist und der Klägerin zusteht. Der in § 10 Abs. 1 des Statuts genannte Grundsatz, wonach die Mitgliedschaft in der Realgemeinde erlischt, sobald das Eigentum an der Hofstelle untergeht, wird durch § 10 Abs. 4 des Statuts nicht tangiert: Eine Veräußerung von Teilnehmerrechten nach Abs. 4 der Vorschrift ist nur möglich, solange der Betreffende noch Inhaber der Teilnehmerrechte ist, d. h. solange er noch Eigentümer der Hofstelle ist. Versäumt es ein Mitglied der Realgemeinde, vor Eigentumsübergang des Hofes die Teilnehmerrechte an die Realgemeinde zu übertragen, gehen diese Rechte entweder unter sie folgen dem Hof (ob die Realgemeindeanteile im vorliegenden Fall entgegen der Regelungen in den Kaufver-trägen auf einen der Käufer übergegangen sind nach § 10 Abs. 2 des Statuts, bedarf keiner Entscheidung, da dies für die Rechtsposition der Klägerin unerheblich ist). Mit Eigentumsübergang des Hofes jedenfalls erlöschen die Mitgliedschaftsrechte für den bisherigen Inhaber nach dem in § 10 Abs. 1 des Statuts niedergelegten Gewohnheitsrecht, und die Teilnehmerrechte können von diesem ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nach § 10 Abs. 4 des Statuts übertragen werden.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vor-läufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.