Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.11.2006, Az.: 2 NB 448/06

Anspruch auf vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin; Statthaftigkeit der Erweiterung oder Änderung eines Streitgegenstandes im Beschwerdeverfahren; Statthaftigkeit einer Antragserweiterung aufgrund einer Überraschungsentscheidung der Vorinstanz; Anspruch auf Änderung des Ausbildungsangebots im Studiengang Humanmedizin; Auslastung der Ausbildungskapazität als Grenze der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.11.2006
Aktenzeichen
2 NB 448/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 32056
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2006:1122.2NB448.06.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 25.01.2006 - AZ: 6 C 6938/05

Amtlicher Leitsatz

Zur fehlenden Statthaftigkeit einer Antragsänderung in Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.

Gründe

1

Die Antragsteller wenden sich mit ihren Beschwerden gegen sie betreffende Beschlüsse des Verwaltungsgerichts, mit denen dieses die Verpflichtung der Antragsgegnerin abgelehnt hat, die Antragsteller vorläufig zum Studium der Humanmedizin im ersten Fachsemester außerhalb der durch die festgesetzte Zulassungszahl bestimmten Ausbildungskapazität zuzulassen. Nachdem die Antragsteller ihr Begehren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf eine (Teil-)Zulassung zum Studium im vorklinischen Ausbildungsabschnitt beschränkt hatten, hat das Verwaltungsgericht ihr Begehren bereits mit der Begründung abgelehnt, dass es für ein Studium der Humanmedizin im ersten Fachsemester angesichts der Einführung des Modellstudiengangs HannibaL zum Wintersemester 2005/06 auf den vorklinischen Ausbildungsabschnitt beschränkte Studienplätze nicht mehr gebe, so dass der geltend gemachte Anordnungsanspruch von vornherein ins Leere gehe.

2

Gegen diese Entscheidung richten die Antragsteller ihre Beschwerden mit den jeweiligen Anträgen, die Antragsgegnerin zu verpflichten,

  1. 1.

    die Antragsteller zum Studium der Humanmedizin (Modellstudiengang HannibaL), erstes Fachsemester, gemäß der Sach- und Rechtslage des Wintersemesters 2005/2006 vorläufig zuzulassen;

  2. 2.

    die Antragsteller zum Studium der Humanmedizin (Regelstudiengang), erstes Fachsemester, beschränkt auf den vorklinischen Ausbildungsabschnitt, gemäß der Sach- und Rechtslage des Wintersemesters 2005/2006 vorläufig zuzulassen, wobei der auf die Teilzulassung beschränkte Antrag nach den weiteren Ausführungen der Antragsteller als Hilfsantrag verstanden werden soll.

3

Mit beiden Antragsbegehren sind die Beschwerden als unzulässig zu verwerfen, weil mit ihnen nunmehr verfahrensrechtlich nicht statthafte Antragserweiterungen oder -änderungen verfolgt werden. Während sich die auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteten Anträge in erster Instanz ausschließlich auf die Zulassung zu dem vorklinischen Studienabschnitt beschränkt haben, zielen sie nunmehr auf eine Zulassung zum Vollstudium und damit nicht nur auf einen erweiterten, sondern sogar auf einen gänzlich anderen Streitgegenstand ab. Denn bei Teilstudienplätzen handelt es sich nicht nur um abgestufte oder geringerwertige Vollstudienplätze, sondern um ein sog. "aliud" (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21.10.1981 - 1 BvR 1250/78 -, BVerfGE 59, 172 = NVwZ 1982, 303 [BVerfG 21.10.1981 - 1 BvR 802/78]; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 23.02.1999 - NC 9 S 113/98 -, KMK-HSchR/NF 41 C Nr. 22 = NVwZ-RR 2000, 23; ferner dazu Zimmerling/Brehm, Hochschulkapazitätsrecht, RdNr. 381 f.).

4

Wie der Senat bereits in seinen Beschlüssen vom 7. Juni 2006 - 2 ME 661/06 - und vom 5. Oktober 2006 - 2 NB 410/06 u.a. - ausgeführt hat, ist eine Erweiterung oder Änderung des Streitgegenstandes im Beschwerdeverfahren bei im Wesentlichen gleichbleibender Sach- und Rechtslage nicht statthaft. Das folgt aus der auf die Entlastung des zweiten Rechtszuges abzielenden Regelung des § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO und gilt jedenfalls dann, wenn wie hier mit der Antragserweiterung eine wesentliche Änderung der zu prüfenden Gesichtspunkte einhergeht, das Verwaltungsgericht in dem ersten Rechtszug die dort gestellten Anträge vollständig beschieden hat und das Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, nichts anderes gebietet (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 18.01.2006 - 11 S 1455/05 -, VBlBW 2006, 285; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 01.09.2004 - 12 S 1750/04 -, VBlBW 2004, 483; OVG Saarl., Beschl. v. 10.11.2004 - 1 W 37/04 -; Hamb. OVG, Beschl. v. 02.10.2002 - 4 Bs 257/02 -, NVwZ 2003, 1529; OVG NRW, Beschl. v. 25.07.2002 - 18 B 1136/02 -, NVwZ-RR 2003, 72; ferner Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Stand: April 2006, § 146 RdNr. 13c; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 146 RdNr. 33; Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/v.Albedyll, VwGO, 3. Aufl., § 146 RdNr. 34; offen gelassen Hess. VGH, Beschl. v. 05.01.2004 - 9 TG 2872/03 -, DÖV 2004, 444; a.A. Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 146 RdNr. 93).

5

Derartige Umstände, die es ausnahmsweise geboten erscheinen lassen, eine Antragsänderung im Beschwerderecht zuzulassen, sind vorliegend nicht ersichtlich. Das nunmehr durch die Antragserweiterung verfolgte Begehren würde mit Blick auf die Erörterung der materiellen Rechtslage zu einem deutlich erhöhten Prüfungsumfang führen. Auch hat das Verwaltungsgericht das Begehren der Antragsteller im Hinblick auf die im ersten Rechtszug gestellten Anträge vollständig gewürdigt, und schließlich hätten die Antragsteller effektiven Rechtsschutz gegenüber dem Verwaltungsgericht von vornherein in Anspruch nehmen können, wenn sie die nunmehr verfolgten Anträge in der Vorinstanz gestellt hätten; im Hinblick auf diesen zuletzt genannten Aspekt haben sich die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse nicht geändert. Abweichendes folgt im Übrigen auch nicht aus dem Beschluss des Senats vom 30. November 2004 - 2 NB 430/03 u.a. -, in dem es unter anderem um einen erweiterten und zusätzlichen Tatsachenvortrag der Beteiligten im Beschwerdeverfahren ging, in dem sich darüber hinaus die Frage einer Antragsänderung oder -erweiterung indes nicht stellte.

6

Ohne Erfolg wenden die Antragsteller gegen die fehlende Statthaftigkeit ihrer Beschwerden ein, die angefochtenen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts erwiesen sich für sie als Überraschungsentscheidungen der Vorinstanz. Abgesehen davon, dass es insoweit an jeder weiteren Darlegung von Umständen fehlt, die eine mögliche Überraschung der Antragsteller, das heißt eine erstmalige und unvorhersehbare Kenntnisnahme durch die angefochtenen Beschlüsse über die ausschließliche Vergabe von Vollstudienplätzen begründen könnten, müssen sich die Antragsteller entgegenhalten lassen, dass die Antragsgegnerin in § 1 Abs. 1 ihrer Studienordnung den Aufbau des vorliegend umstrittenen Modellstudiengangs beschrieben und ausdrücklich auf den künftigen Wegfall der Teilung zwischen einem vorklinischen und klinischen Abschnitt hingewiesen hat. Das Verwaltungsgericht konnte gegenüber den Antragstellern daher voraussetzen, dass sie die Zulassung zu einem Studiengang begehrten, dessen Struktur ihnen bekannt war. Das gilt umso mehr, als auch die Antragsgegnerin im Rahmen der prozessualen Korrespondenz ebenfalls noch einmal Zielsetzung, Aufbau und Organisation des Modellstudiengangs erläutert hatte (vgl. etwa Schriftsatz vom 15.11.2005).

7

Darüber hinaus müssen auch die hilfsweise verfolgten Anträge auf Teilzulassung verworfen werden, da sich auch diese als im Beschwerdeverfahren nicht zulässige Antragserweiterungen erweisen. Während die Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin noch beantragt hatten, sie zum Studium der Humanmedizin im ersten Fachsemester des Modellstudienganges zum Wintersemester 2005/06 zuzulassen und dieses Begehren im ersten Rechtszug - wie vorstehend ausgeführt - auf eine Teilzulassung für den vorklinischen Ausbildungsabschnitt beschränkt hatten, zielt ihr mit dem jeweiligen Hilfsantrag verbundenes Begehren im zweiten Rechtszug nunmehr darauf ab, sie auf einen Teilstudienplatz im Regelstudiengang Humanmedizin zuzulassen, zu einem Studiengang mithin, den die Antragsgegnerin in dem hier maßgeblichen Bewerbungssemester gar nicht anbietet.

8

Damit ist desweiteren das Begehren zugleich auf eine nicht mögliche Rechtsfolge gerichtet, da die Antragsgegnerin für das vorliegend streitige Bewerbungssemester einen Regelstudiengang für das Studium der Humanmedizin nicht eingerichtet hat, sondern die Studienanfänger des Wintersemesters 2005/06 ausschließlich in einem integrierten Studiengang ausbildet und folglich - wie vom Verwaltungsgericht zutreffend betont - keine auf den vorklinischen Ausbildungsabschnitt beschränkten Studienplätze (vgl. § 18 KapVO) mehr bereit hält. Das Begehren der Antragsteller liefe daher darauf hinaus, dass die Antragsgegnerin ihr Ausbildungsangebot im Studiengang Humanmedizin gänzlich zu ändern hätte mit der Folge, dass der Senat sie quasi im Wege der Folgenbeseitigung zu einer Rückkehr zu dem herkömmlichen Ausbildungskonzept verpflichten müsste. Angesichts dessen, dass sich der aus Art. 12 Abs. 1 GG abzuleitende Teilhabeanspruch der Studienbewerber auf die erschöpfende Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazität erstreckt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.10.1991 - 1 BvR 393, 610/85 -, BVerfGE 85, 36, 54), fehlt es seitens der Antragsteller an der Glaubhaftmachung eines Anspruchs, der auf die Wiedereinrichtung eines aufgegebenen Studiengangs, hier des Regelstudiengangs Humanmedizin, sei es als alleinigem, sei es als zweitem Studiengang neben dem Modellstudiengang HannibaL gerichtet ist. Im Mittelpunkt der maßgeblichen Kapazitätsprüfung steht vielmehr die Frage, ob die Ausbildungskapazität der Antragsgegnerin im Hinblick auf den von ihr eingerichteten und mit Modellcharakter konzipierten Studiengang Humanmedizin hinreichend erschöpft ist oder ob dies nicht der Fall ist. Sollte eine solche Prüfung zu der Annahme einer nicht ausgeschöpften Kapazität führen, müsste die vom Senat im Rahmen seines Gestaltungsermessens nach § 123 Abs. 1 VwGO zu treffende Anordnung auf eine Aus- oder Auffüllung der Kapazitätsressourcen, also zu einer Zulassung weiterer Studienbewerber zu dem als nicht ausgelastet angesehenen Studiengang führen. Für eine im Wege der einstweiligen Anordnung zu verfolgende vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur (Wieder-)Einrichtung von Teilstudienplätzen in einem Regelstudiengang ist daher kein Raum.