Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.11.2006, Az.: 10 ME 217/06

Ausweisung eines Ausländers wegen erheblicher strafrechtlicher Verurteilungen; Ausweisungsschutz aus familiären Gründen; Verhältnismäßigkeit der Ausweisung eines in zweiter Generation in Deutschland lebenden straffällig gewordenen Ausländers; Zumutbarkeit der Eingliederung im Heimatland; Bindung des Gerichts an eine negative Feststellung des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.11.2006
Aktenzeichen
10 ME 217/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2006, 31894
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2006:1127.10ME217.06.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 13.09.2006 - AZ: 5 B 24/06

Amtlicher Leitsatz

Schutz des Familien- und Privatlebens nach Art. 8 EMRK bei Ausweisung wegen Straffälligkeit.

Redaktioneller Leitsatz

Die Ausweisung eines Ausländers, der in Deutschland mehrfach straffällig geworden ist und zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt ist, verstößt nicht gegen Art. 8 der EMRK.

Gründe

1

Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.

2

Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf derenÜberprüfung sich die Entscheidung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts.

3

Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung, den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ausweisungsverfügung des Antragsgegners abzulehnen, darauf gestützt, dass die Klage voraussichtlich ohne Erfolg bleiben werde. Die Ausweisung finde in § 53 Nr. 1 Alt. 1 AufenthG ihre rechtliche Grundlage, deren Voraussetzungen aufgrund der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren vorlägen. Auf einen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG könne sich der volljährige und ledige Antragsteller nicht berufen. Es lägen im Hinblick auf Art. 8 EMRK keine Gründe vor, von der Ausweisung abzusehen. Der Antragsteller sei in Deutschland in vielfältiger Hinsicht straffällig geworden und habe sich seine früheren Verurteilungen nicht zur Warnung gereichen lassen. Seine Straftaten hätten sich im Laufe der Zeit immer mehr gesteigert. Es bestehe die Gefahr erneuter Straffälligkeit. Der Antragsteller sei weder familiär noch beruflich stabilisiert.

4

Der Antragsteller macht mit seiner Beschwerde dagegen geltend, das Verwaltungsgericht habe die Reichweite des Art. 8 EMRK verkannt. Es habe zu Unrecht einen außergewöhnlichen Einzelfall verneint, der hinsichtlich des gesteigerten Gewichts der Schutzgüter des Privat- und Familienlebens eine Ausweisung als rechtswidrig erscheinen lasse. Er sei als Kleinkind in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, habe keinerlei verwandtschaftliche Bindungen in den Libanon und kenne weder die Lebensumstände, sozialen Gegebenheiten und Regeln seines Herkunftslandes noch spreche er die dortigen Sprachen. Er wäre dort völlig auf sich allein gestellt und hätte keinerlei Möglichkeit, sich in die Gesellschaft des Libanon zu integrieren. Er könne sich dort eine tragfähige Lebensgrundlage nicht schaffen. Hinzu komme die gegenwärtige angespannte Situation im Libanon.

5

Das Vorbringen des Antragstellers zur Begründung seiner Beschwerde rechtfertigt nicht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die angefochtene Ausweisungsverfügung des Antragsgegners. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Klage aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen für eine Ausweisung des Antragstellers nach § 53 Nr. 1 Alt. 1 AufenthG aufgrund der Verurteilung des Landgerichts D. vom 1. März 2005 - Az.: E. - bejaht. Ferner liegt ein Fall des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 AufenthG beim Antragsteller nicht vor. Da die ihm vom Landkreis F. am 3. Januar 2002 erteilte Aufenthaltsbefugnis infolge ihrer Befristung mit Ablauf des 2. Januar 2004 unwirksam geworden ist und er seither nicht mehr über einen Aufenthaltstitel verfügt, liegen die Voraussetzungen eines Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3, Abs. 2 und 3 AufenthG nicht vor. Auch kann sich der Antragsteller aus den vom Verwaltungsgericht angeführten Gründen, auf die der Senat verweist, nicht auf einen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und 5 AufenthG berufen.

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Die Ausweisung des Antragstellers steht auch im Einklang mit Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002, BGBl. II S. 1054 - EMRK -). Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens; Art. 8 Abs. 2 EMRK regelt die Zulässigkeit von Eingriffen öffentlicher Stellen in die Ausübung dieses Rechts. Wesentliches Ziel der Vorschrift ist der Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Einmischung der öffentlichen Gewalt in das Privat- und Familienleben. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hängt die Zulässigkeit der Ausweisung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nach Art. 8 Abs. 2 EMRK von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab (vgl. dazu im Einzelnen BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, NVwZ 2004, 852). Als solche Umstände gelten insbesondere die Schwere der Straftaten, die in erster Linie durch die Höhe der verhängten Strafen gekennzeichnet wird (EGMR, Urteil vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 [Mehimi ./. Frankreich] -, Inf-AuslR 1997, 430, 432; Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/ 940 [Boujlifa ./. Frankreich] -, InfAuslR 1998, 1, 2; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 [Baghli ./. Frankreich] -, InfAuslR 2000, 53, 55; Entscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 [Adam ./. Deutschland] -, NJW 2003, 2595, 2396; Urteil vom 31. Oktober 2002 - 37295/97 [Yildiz ./. Österreich] -, InfAuslR 2003, 126, 129) [EGMR 31.10.2002 - - 37295/97], die Art der Straftat (Urteil vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 896 [Mehimi ./. Frankreich] -, a.a.O.; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/97 [Baghli ./. Frankreich] -, a.a.O.), die Beharrlichkeit straffälligen Verhaltens (Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/ 191/291 [Moustaquim ./. Belgien] -, InfAuslR 1991, 149, 150; Entscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 [Adam ./. Deutschland] -, NJW 2003, 2595, 2396), das Alter des Betroffenen bei der Begehung der Straftat (Urteil vom 18. Februar 1991 - 31/1989/ 191/291 [Moustaquim ./. Belgien] -, a.a.O.; Entscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 -, a.a.O.), die Aussetzung der verhängten Strafe zur Bewährung (Urteil vom 31. Oktober 2002 - 37295/97 [Yildiz ./. Österreich] -, a.a.O.), die familiäre Situation, insbesondere, ob der Ausländer - mit einer deutschen Staatsangehörigen - verheiratet ist oder ob er Kinder - mit deutscher Staatsangehörigkeit - hat (vgl. Urteil vom 26. März 1992 - 55/1990/246/ 317 [Beldjoudi ./. Frankreich] -, InfAuslR 1994, 86, 88; Urteil vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 [Mehimi ./. Frankreich] -, a.a.O.; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/99 [Baghli ./. Frankreich] -, a.a.O.; Entscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 [Adam ./. Deutschland] -, a.a.O.; Urteil vom 31. Oktober 2002 - 37295/97 [Yildiz ./. Österreich] -, a.a.O.), bzw. ob er auf die Unterstützung und Hilfe von im Inland lebenden Eltern und Geschwistern angewiesen ist (vgl. Urteil vom 13. Juli 1995 - 18/1994/465/564 [Nasri ./. Frankreich] -, InfAuslR 1996, 1, 3), der Bezug des Ausländers zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, wobei den Sprachkenntnissen im Hinblick auf die Zumutbarkeit einer Integration in die dortigen Lebensverhältnisse eine gewisse, wenngleich nicht in jedem Fall ausschlaggebende Bedeutung zukommt (vgl. Urteil vom 26. März 1992 - 55/1990/246/317 [Beldjoudi ./. Frankreich] -, a.a.O.; Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/940 [Boujlifa ./. Frankreich] -, a.a.O.; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/99 [Baghli ./. Frankreich] -, a.a.O.; Entscheidung vom 4. Oktober 2001 - 43359/98 [Adam ./. Deutschland] -, a.a.O.) und schließlich, ob der Ausländer die Staatsangehörigkeit seines Herkunftslandes behalten und nicht die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltslandes erwerben wollte (vgl. Urteil vom 26. März 1992, - 55/1990/246/317 [Beldjoudi ./. Frankreich] -, a.a.O.; Urteil vom 21. Oktober 1997 - 122/1996/741/940 [Boujlifa ./. Frankreich] -, a.a.O.; Urteil vom 30. November 1999 - 34374/99 [Baghli ./. Frankreich] -, a.a.O.).

7

Unter Berücksichtigung der angeführten Rechtsprechung des EGMR zur Ausweisung von straffälligen Ausländern der zweiten Generation kann nicht festgestellt werden, dass die Ausweisung des Antragstellers unverhältnismäßig ist.

8

Er hat seit 1996 fortlaufend eine Vielzahl erheblicher Straftaten begangen, vornehmlich Eigentums-, Vermögens- und Gewaltdelikte. Von den zwischenzeitlich erfolgten Verurteilungen hat sich der Antragsteller aber nicht von weiteren Straftaten abhalten lassen. Auch die Warnungen der Ausländerbehörde im Hinblick auf ausländerrechtliche Konsequenzen seines strafbaren Verhaltens - etwa die Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung vom 23. Juni 2000 sowie der Hinweis vom November 2001 (Bl. 251 R der Beiakte B) - haben bei dem Antragsteller nicht zu einer nachhaltigen Änderung seines Verhalten dahin geführt, nunmehr die Strafgesetze zu beachten. Vielmehr hat die Schwere der Straftaten mit zunehmendem Alter des Antragstellers deutlich zugenommen. Zuletzt hat das Landgericht D. den Antragsteller wegen mehrerer Taten, nämlich der gemeinschaftlichen schweren räuberischen Erpressung in zwei Fällen, der versuchten schweren räuberischen Erpressung in einem Fall, des gemeinschaftlichen schweren Raubes in zwei Fällen und der gemeinschaftlichen räuberischen Erpressung sowie in einem weiteren Fall der schweren räuberischen Erpressung verurteilt (Urteil vom 1. März 2005 - E. unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts G. vom 27. April 2004 - H. -). Die letztgenannten Taten sind - dies kommt in der Höhe der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren zum Ausdruck - besonders schwerwiegend.

9

Bezogen auf seine Person ist entgegen dem Vorbringen des Antragstellers davon auszugehen, dass er im Alter von acht Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Soweit er gegenüber dem Antragsgegner erstmals in der Anhörung zur Ausweisung vorgetragen hat, er sei bereits im Zusammenhang mit einer drohenden Blutrache von seinem Onkel B. C. 1982 in die Bundesrepublik Deutschland zu einem Cousin geschickt worden und er habe seit 1989 als Pflegekind bei seinem Onkel gelebt, erachtet der Senat dieses Vorbringen als nicht glaubhaft. Dem Vortrag des Antragstellers steht entgegen, dass er in dem im Juli 1986 ausgestellten libanesischen Pass des B. C. als Sohn (mit Foto) aufgeführt ist. Ebenso ist der Antragsteller im Pass seiner (Pflege-)Mutter I. J. K. vom 1. August 1992 als deren Sohn aufgeführt. In Übereinstimmung damit ist im libanesischen Pass des Antragstellers der Name J. als Name der Mutter eingetragen. Weiter haben die vermeintlichen Pflegeeltern bei ihrer Einreise gegenüber der Ausländerbehörde und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge übereinstimmend angegeben, dass der Antragsteller ihr Sohn sei, der mit ihnen gemeinsam im Januar 1989 nach Deutschland eingereist sei. Demgegenüber hat der Antragsteller sein hiervon abweichendes Vorbringen nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr steht sein jetziges Vorbringen zudem im Widerspruch zu seinen Angaben in den Strafverfahren vor dem Landgericht G. (Az.: H.) und vor dem Landgericht D. (Az.: E.). Dort hat er jeweils vorgetragen, er sei von seiner Tante und seinem Onkel, die er als Eltern angesehen habe, großgezogen worden und er sei mit ihnen und deren leiblichen Kindern zusammen im Jahre 1988 nach Deutschland gekommen (vgl. Seite 3 des Urteils des Landgerichts G. und Seite 29 des Urteils des Landgerichts D.). Hiernach ist weiter davon auszugehen, dass der Antragsteller bis zu seinem achten Lebensjahr im Libanon aufgewachsen ist und allein arabisch gesprochen hat, bevor er in der Folgezeit zumindest zweisprachig aufgewachsen ist, sodass er die arabische Sprache hinreichend beherrscht sowie mit den sozialen und kulturellen Gegebenheiten in seinem Heimatland zumindest in den Ansätzen vertraut ist. Es ist daher für den Antragsteller auch in Anbetracht seines Alters von nahezu 26 Jahren nicht unzumutbar, sich in seinem Heimatland wieder einzugliedern.

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Von einer gefestigten Integration des Antragstellers in Deutschland kann nicht ausgegangen werden. Zwar hat er in Deutschland die Schule besucht und beherrscht die deutsche Sprache. Die schulische Ausbildung hat er jedoch ohne Abschluss beendet und eine Berufsausbildung abgebrochen. Ihm ist es nicht gelungen, seinen Lebensunterhalt durch eine Beschäftigung nachhaltig sicherzustellen. Gegen eine Integration spricht sein langjähriges straffälliges Verhalten. Nach seinem eigenen Vorbringen bestehen für den ledigen und nahezu 26jährigen Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland keine besonders geschützten familiären Bindungen. Auch hat der Antragsteller seine libanesische Staatsangehörigkeit beibehalten und hält sich derzeit ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland auf. Er hat sich nicht bemüht, die vom Landkreis F. erteilte und bis zum 2. Januar 2004 befristete Aufenthaltsbefugnis zu verlängern, so dass er seit nahezu drei Jahren ausreisepflichtig ist.

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Soweit der Antragsteller geltend macht, er könne sich im Libanon eine tragfähige Lebensgrundlage nicht schaffen und die angespannte politische Situation im Libanon stehe einer Rückkehr dorthin entgegen, beruft er sich sinngemäß auf das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dass ein entsprechendes Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG nicht gegeben ist, hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) mit bestandskräftigem Bescheid vom 9. Januar 1990 festgestellt. Solange diese negative Feststellung des Bundesamts Bestand hat, sind der Antragsgegner und auch der Senat daran gebunden ( § 42 Satz 1 AsylVfG; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 22. November 2005 - BVerwG 1 C 18.04 -, BVerwGE 124, 326 mit weiteren Nachweisen und Urteil vom 27. Juni 2006 - BVerwG 1 C 14.05 -, juris; Beschluss des Senats vom 17. November 2006 - 10 ME 222/06 -, veröffentlicht in der Entscheidungsdatenbank der nds. Verwaltungsgerichtsbarkeit mit weiteren Nachweisen der Rechtsprechung).