Landessozialgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.08.2001, Az.: L 3 P 12/01
Erstattung der Kosten eines Privatgutachtens ; Erstattung von Kosten im Vorverfahren; Erstattungsfähigkeit von Kosten im vorausgegangenen Verwaltungsverfahren ; Rückstufung der Pflegestufe
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 22.08.2001
- Aktenzeichen
- L 3 P 12/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2001, 15919
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0822.L3P12.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 08.02.2001 - AZ: S 10 SF 53/00
Rechtsgrundlagen
- § 63 SGB X
- § 48 SGB X
- § 14 SGB XI
- § 15 SGB XI
Prozessführer
XXX
Prozessgegner
Deutsche Angestellten Krankenkasse - Pflegekasse -, C...,
Redaktioneller Leitsatz
Kosten für ein Privatgutachten, das vor dem Erlass des durch Widerspruch angegriffenen Bescheides in Auftrag gegeben wurde, sind nicht im Vorverfahren erstattungsfähig. Bereits die gesetzliche Überschrift des § 63 SGB X "Erstattung von Kosten im Vorverfahren" macht deutlich, dass diese Vorschrift allein die im Laufe eines Vorverfahrens entstanden Aufwendungen betrifft. Eine Erstattungsfähigkeit von Kosten im vorausgegangenen Verwaltungsverfahren sieht weder § 63 SGB X noch sonst eine gesetzliche Kostenregelung vor.
Kosten für ein im Rahmen des Widerspruchsverfahrens eingeholtes Privatgutachten sind erstattungsfähig, wenn das Gutachten im Zeitpunkt seiner Einholung aus der Sicht einer verständigen, auf eine sparsame Verfahrensführung bedachten Partei geboten und geeignet erschien, das Verfahren unter entscheidungserheblichen Gesichtspunkten zu fördern. Abzustellen ist insbesondere darauf, ob die Einholung zur Vorbereitung des weiteren Verfahrens und/oder zur Erlangung der erforderlichen Sachkunde geboten war.
hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
am 22. August 2001
durch
die Richterin am Landessozialgericht D. - als Vorsitzende - ,
den Richter am Landessozialgericht E. und
den Richter am Landessozialgericht Schreck
beschlossen:
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten für ein von ihr im Verwaltungsverfahren in Auftrag gegebenes Privatgutachten in Höhe von 2.232,86 DM.
Die Klägerin bezog Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Maßgabe der Pflegestufe II. In einem Wiederholungsgutachten vom 27. Januar 1999 gelangten die Gutachter Wolfgang Vogel und Annette Schaefer aufgrund eines am 02. Dezember 1998 durchgeführten Hausbesuches zu der Einschätzung, dass die Klägerin nur die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe I erfüllte.
Nach vorheriger Anhörung der Klägerin stufte die Beklagte mit Bescheid vom 02. Juni 1999 sie mit Wirkung zum 01. Juli 1999 gestützt auf § 48 Sozialgesetzbuch Buch X Verwaltungsverfahren (SGB X) in die Pflegestufe I zurück.
Noch vor Erlass des in der Folgezeit angefochtenen Bescheides vom 02. Juni 1999 hatte die Klägerin auf eigene Kosten bei der Pflegefachkraft Bocklage ein Pflegegutachten in Auftrag gegeben. Im Rahmen der Begutachtung führte sie im Mai 1999 Hausbesuche durch, und zwar am 10. (so die Angabe auf S. 3 ihres Gutachtens) oder 20. Mai (so die Angabe in ihrer Kostenrechnung) und am 22. Mai 1999. Ihr vom 10. Juni 1999 datierendes Gutachten wurde der Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 15. Juni 1999 übermittelt.
Mit Schreiben vom 05. November 1999 ordnete die Hauptverwaltung der Beklagten an, dass dem Widerspruch der Klägerin abzuhelfen sei, da sich eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X nicht feststellen lasse. Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 22. November 1999 mit, dass die Prüfung der Sach- und Rechtslage ergeben habe, dass ihrem Widerspruch abzuhelfen sei. Der Bescheid vom 02. Juni 1999 werde zurückgenommen. Die Klägerin habe Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten im Vorverfahren gemäß § 63 SGB X, wobei die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes als notwendig angesehen werde.
Daraufhin beantragte die Klägerin neben der Erstattung der im Widerspruchsverfahren angefallenen Rechtsanwaltskosten auch die Erstattung der Kosten für das Pflegegutachten vom 10. Juni 1999, die sich ausweislich der vom 08. September 1999 datierenden Rechnung der Pflegefachkraft Bocklage auf 2.232,86 DM beliefen. Mit Bescheid vom 23. Dezember 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2000 lehnte die Beklagte jedoch die Erstattung der Gutachtenkosten insbesondere mit der Begründung ab, dass das Gutachten bereits vor Erlass des angefochtenen Bescheides in Auftrag gegeben worden sei.
Zur Begründung ihrer am 18. August 2000 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dass nur die Vorlage des Gutachtens zu der für sie günstigen Widerspruchsentscheidung geführt habe. Das Gutachten sei auch erst während des Widerspruchsverfahrens verfasst worden. Zwar seien die maßgeblichen Besuche der Gutachterin bereits vor Erlass des angefochtenen Bescheides erfolgt, das Gutachten selbst sei jedoch erst nach Vorlage des Bescheides vom 02. Juni 1999 erstellt worden.
Mit Urteil vom 08. Februar 2001, der Klägerin zugestellt am 21. Februar 2001 hat das Sozialgericht Oldenburg die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es dargelegt, dass im Widerspruchsverfahren grundsätzlich die Einholung von Privatgutachten als nicht notwendig anzusehen sei, weil die Verwaltungsbehörde im Rahmen der Amtsermittlung nach den §§ 20 ff. SGB X verpflichtet sei, den Sachverhalt von Amts wegen umfassend zu ermitteln. Nur in Ausnahmefällen käme ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für ein Privatgutachten in Betracht, wenn dessen Einholung zur Vorbereitung des Verfahrens und zur Erlangung der erforderlichen Sachkunde geboten gewesen sei. Ein solcher Ausnahmefall sei im vorliegenden Verfahren jedoch schon deshalb nicht gegeben, weil die Klägerin das Gutachten schon vor Erlass des ablehnenden "Widerspruchsbescheides" in Auftrag gegeben habe.
Mit ihrer am 07. März 2001 eingelegten Berufung macht die Klägerin geltend, dass ohne das von ihr eingeholte Privatgutachten im Widerspruchsverfahren voraussichtlich überhaupt kein weiteres Gutachten eingeholt worden wäre. Ohne die Sachkunde der Gutachterin Bocklage habe sie sich auch nicht in der Lage gesehen, im Anhörungsverfahren zu den von der Beklagten eingeholten Verwaltungsgutachten sachkundig Stellung zu nehmen. Schon aufgrund der anzustrebenden "Waffengleichheit" müsse ihr daher die Beiziehung einer Privatgutachterin gestattet werden.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 08. Februar 2001 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 23. Dezember 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Juli 2000 zu ändern und
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, die Kosten des von der Gutachterin Bocklage erstatteten Gutachtens in Höhe von 2.232,86 DM nebst 4 % Zinsen seit Fälligkeit für erstattungsfähig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
II.
Über die vorliegende Berufung entscheidet der Senat nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet.
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Gutachterkosten in Höhe von 2.232,86 DM, so dass erst recht kein Raum für eine Verzinsung dieses Anspruches besteht.
Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Der von der Klägerin gegen den Rückstufungsbescheid vom 02. Juni 1999 sinngemäß mit Anwaltsschreiben vom 15. Juni 1999 unter gleichzeitiger Vorlage des Gutachtens der Pflegefachkraft Bocklage vom 10. Juni 1999 erhobene Widerspruch war erfolgreich. Dementsprechend hat die Beklagte zu Recht in ihrem bestandskräftigen Bescheid vom 22. November 1999 ihre Kostentragungspflicht aus § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X dem Grunde nach anerkannt.
Die streitigen Kosten des Privatgutachtens zählen jedoch nicht zu den nach dieser Vorschrift allein erstattungsfähigen notwendigen Aufwendungen zu einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung.
Eine Erstattungsfähigkeit der Gutachtenkosten steht bereits entgegen, dass diese nicht im Widerspruchsverfahren entstanden sind. Bereits die gesetzliche Überschrift des § 63 SGB X"Erstattung von Kosten im Vorverfahren" macht deutlich, dass diese Vorschrift allein die im Laufe eines Vorverfahrens entstanden Aufwendungen betrifft. Eine Erstattungsfähigkeit von Kosten im vorausgegangenen Verwaltungsverfahren sieht weder § 63 SGB X noch sonst eine gesetzliche Kostenregelung vor.
Dementsprechend sind von vornherein nicht solche Aufwendungen zu erstatten, die der spätere Widerspruchsführer bereits im Ausgangsverfahren veranlasst hat (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 05. Juni 1991 - 5 S 923/91 - NVwZ - RR 1992, 53). Im vorliegenden Fall hat die Klägerin das Gutachten bereits vor Erlass des angefochtenen Bescheides in Auftrag gegeben, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die Gutachterin bereits im Mai 1999 die Hausbesuche durchgeführt hat. Da die Klägerin den Gutachtenauftrag insgesamt bereits vor Erlass des angefochtenen Bescheides erteilt hatte, ist es auch unerheblich, inwieweit einzelne Teile des Gutachtens erst nach Erlass des Bescheides fertig gestellt worden sind.
Bei dieser Sachlage ist nur ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Kosten des Gutachtens auch dann nicht erstattungsfähig wären, wenn der entsprechende Auftrag erst im Widerspruchsverfahren erteilt worden wäre. Es handelte sich nicht um Aufwendungen, die zu einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung notwendig waren. Unter welchen Voraussetzungen die Kosten für ein vorprozessuales Privatgutachten erstattungsfähig sind, kann nicht generell, sondern nur nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden. Maßgeblich ist, ob das Gutachten im Zeitpunkt seiner Einholung aus der Sicht einer verständigen, auf eine sparsame Verfahrensführung bedachten Partei geboten und geeignet erschien, das Verfahren unter entscheidungserheblichen Gesichtspunkten zu fördern. Abzustellen ist insbesondere darauf, ob die Einholung zur Vorbereitung des weiteren Verfahrens und/oder zur Erlangung der erforderlichen Sachkunde geboten war (vgl. Stelkens/Kallerhoff in Stelkens/Bonk, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl., § 80 Rd.Nr. 67; Schroeder-Printzen, Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren SGB X, 3. Aufl., § 63 Rd.Nr. 11 m.w.N.).
Ein verständiger, auf eine sparsame Verfahrensführung bedachter Beteiligter hätte jedoch im vorliegenden Fall zunächst einmal substantiiert aus eigener Sicht zu den ihm unterbreiteten Verwaltungsgutachten Stellung genommen, anstatt sogleich ein kostenaufwendiges Privatgutachten in Auftrag zu geben. Hiervon ist im vorliegenden Fall umso mehr auszugehen, als die Klägerin anwaltlich vertreten war und ihr Bevollmächtigter ausdrücklich von der Beklagten zur Abgabe einer entsprechenden Stellungnahme aufgefordert worden war.
Die im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachten des MDK waren auch so detailliert und verständlich verfasst, dass der Klägerin eine substantiierte Stellungnahme, zumal mit anwaltlicher Hilfe, auch ohne die Hinzuziehung des besonderen Sachverstandes einer Pflegefachkraft ohne Weiteres zuzumuten war. So wäre es der Klägerin beispielsweise ohne Weiteres möglich gewesen, auch ohne Hinzuziehung einer Privatgutachterin der Beklagten mitzuteilen, dass die ausweislich etwa des Gutachtens vom 01. März 1999 seinerzeit noch nicht bestehende Inkontinenz (unter Zugrundelegung der späteren Angaben der Klägerin) in der Folgezeit ab Mai 1999 eingetreten war. Auch enthielten die Gutachten vom 27. Januar und 01. März 1999 zu jeder einzelnen Grundpflegeverrichtung detaillierte Angaben, welcher konkreter Hilfebedarf aus der Sicht des jeweiligen Gutachters erforderlich war. Auch ohne Hilfe einer Sachverständigen hätte die Klägerin konkret darlegen können, inwieweit die dort aufgeführten Zeitansätze aus ihrer Sicht ausreichend oder aber unzureichend bemessen waren. Da sich die Klägerin die Rechtskunde des sie vertretenen Anwaltes zurechnen lassen muss, war für sie auch erkennbar, dass für die Frage der Pflegestufeneinteilung eine konkrete Auseinandersetzung mit den einzelnen Zeitansätzen für die jeweiligen Verrichtungen der Grundpflege von entscheidender Bedeutung war.
Gleichwohl ließen ihre bis zur Vorlage des Gutachtens Bocklage eingereichten Stellungnahmen eine detaillierte Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Zeitansätzen vermissen, wohingegen in diesen ein ganz erhebliches Gewicht auf den Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung gelegt worden ist.
Darüber hinaus können die Aufwendungen für das Gutachten Bocklage auch deshalb nicht als notwendig angesehen werden, weil im Gutachtenauftrag die Beweisfrage unzutreffend formuliert worden ist, was der sie beratende Rechtsanwalt ebenfalls hätte erkennen müssen: Eine Rückstufung war nicht bereits deshalb zulässig, weil die Klägerin aufgrund einer erneuten Beurteilung nicht die Voraussetzungen für die Pflegestufe II erfüllte, vielmehr hätte diese nach der gesetzlichen Regelung des § 48 SGB X weiter verlangt, dass insoweit eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen stattgefunden hätte. Mit dieser entscheidenden Frage setzt sich das Gutachten Bocklage jedoch überhaupt nicht auseinander. Die Beklagte hat demgegenüber unabhängig von diesem Gutachten im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die vorstehend erläuterten Voraussetzungen des § 48 SGB X nicht gegeben waren. Hieraus hat sie die Konsequenz gezogen, indem sie mit Abhilfebescheid vom 22. November 1999 den angefochtenen Rückstufungsbescheid aufgehoben hat.
Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass das Gutachten Bocklage ohnehin keine geeignete Grundlage für eine Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II geboten hätte. Insbesondere ist bezüglich des dort festgehaltenen zusätzlichen Hilfebedarfes aufgrund einer offenbar erst wenige Tage zuvor aufgetretenen Inkontinenz nicht ersichtlich, dass dieser zusätzliche Bedarf entsprechend § 14 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Buch XI Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) voraussichtlich für mindestens sechs Monate bestand. Überdies ist insbesondere nicht erkennbar, dass der geltend gemachte Hilfebedarf bei der Verrichtung Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung dem Bereich der Grundpflege zuzurechnen ist.