Landessozialgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.08.2001, Az.: L 8 AL 469/00

Minderung der Anspruchsdauer von Arbeitslosengeld in Folge einer zwölfwöchigen Sperrzeit; Wichtiger Grund i.S. der Sperrzeitvorschrift; Besondere Härtegesichtspunkte

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
06.08.2001
Aktenzeichen
L 8 AL 469/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 15857
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0806.L8AL469.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 13.09.2000 - S 7AL 379/97

Prozessführer

A.

Prozessgegner

Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover

der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen

in Celle hat

am 6. August 2001

gemäß § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz

durch die Richter

C. - Vorsitzender -, D. und E.

beschlossen:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 13. September 2000 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

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Zwischen den Beteiligten streitig ist die Minderung der Anspruchsdauer von Arbeitslosengeld (Alg) in Folge einer zwölfwöchigen Sperrzeit.

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Die 1951 geborene Klägerin war von Mai 1984 bis zum 31. Dezember 1996 bei der G. bzw ihrer Rechtsvorgängerin als Arbeiterin mit einer Wochenarbeitszeit von 30,5 Stunden beschäftigt. Bis Ende 1995 war sie in H. in der Organisationsstelle tätig. Ihr oblag die Eingangsbearbeitung von Schriftstücken einschließlich der Verteilung und Zuführung zu den Bearbeiterplätzen sowie die Erledigung hausinterner Druck- und Kopieraufträge. Im Zuge einer Neuorganisation wurde dieses Postamt aufgelöst und mit anderen Organisationseinheiten zu der "Niederlassung I.” zusammengeführt. Seit dem 1. Januar 1996 arbeitete die Klägerin in I., ohne dass sie hier einen festen Arbeitsplatz erhielt. Nach der Zusammenlegung war die Niederlassung I. personell überbesetzt. Zu diesem Zweck führte der Arbeitgeber mit mehreren Arbeitern Gespräche im Hinblick auf eine einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindungszahlung auf der Grundlage des Tarifvertrages Nr 444. Betriebsbedingte Kündigungen waren - und sind bis heute noch - tarifvertraglich ausgeschlossen. Ansonsten war das Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber mit einer Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Schluss eines Kalenderjahres kündbar.

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Ende Oktober 1996 teilte der Abteilungsleiter J. der Klägerin mit, dass eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Innendienst nicht mehr bestand und für die Klägerin eine Tätigkeit als Briefzustellerin in Betracht käme, falls sie nicht einem Auflösungsvertrag zustimmen würde. Mit Schreiben vom 13. November 1996 beantragte die Klägerin die Aufhebung ihres Arbeitsvertrages mit Aufhebungsvertrag und Abfindung zum 31. Dezember 1996. Ein solcher wurde am 29. November 1996 unterschrieben. Danach endete das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31. Dezember 1996 gegen Zahlung der Abfindung aus dem Tarifvertrag Nr 444 in Höhe von 54.535,60 DM.

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Am 10. Dezember 1996 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg ab 1. Januar 1997. Mit Bescheid vom 1. September 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Oktober 1997 stellte die Beklagte den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit vom 1. Januar 1997 bis zum 25. März 1997 sowie eine Minderung der Anspruchsdauer um 143 Tage fest, weil die Klägerin ihr Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund aufgegeben habe. Hiergegen erhob die Klägerin am 13. Oktober 1997 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig.

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Die Beklagte stellte gleichzeitig einen Ruhenszeitraum vom 1. Januar bis zum 7. September 1997 wegen der erhaltenen Abfindung ohne Einhaltung der Kündigungsfrist des Arbeitgebers gemäß § 117 Abs 2 und 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sowie einen weiteren Ruhenszeitraum bis zum 9. Oktober 1997 gemäß § 117a AFG fest (Bescheide vom 2. und 3. September 1997). Diese Regelungen hat die Klägerin widerspruchslos akzeptiert. Ab 10. Oktober 1997 erhielt die Klägerin Alg in Höhe von 211,20 DM. Diesen Anspruch erschöpfte die Klägerin am 22. Juli 1999.

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Im Klageverfahren machte die Klägerin geltend, für sich keine andere Möglichkeit gesehen zu haben, als dem Auflösungsvertrag zuzustimmen. Die angebotene Weiterbeschäftigungsmöglichkeit als Briefzustellerin in Vollzeit und im Schichtdienst sei unzumutbar gewesen. Die Verhängung einer Sperrzeit nach § 119 AFG scheide aus, weil die vorgezogene Arbeitslosmeldung zum 1. Januar 1997 keine Leistungspflicht der Beklagten ausgelöst habe. Die

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Klägerin müsste zumindest im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so gestellt werden, als ob sie sich erst zum 1. Mai 1997 arbeitslos gemeldet hätte. Auf jeden Fall sei die Sperrzeit auf sechs Wochen zu reduzieren.

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Das SG hat von der G. Auskünfte vom 9. November 1999 und vom 30. Dezember 1999 eingeholt sowie den Abteilungsleiter J. und den Personalsachgebietsleiter K. als Zeugen vernommen und mit Urteil vom 13. September 2000 die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe verschuldet das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 1996 aufgegeben, obwohl eine arbeitgeberseitige Kündigung frühestens zum 31. Dezember 1997 möglich gewesen wäre. Für dieses Verhalten könne sich die Klägerin nicht auf einen wichtigen Grund berufen, weil überlagernde Sachzwänge in der betrieblichen Situation des Arbeitnehmers nicht gegeben seien. Eine mögliche Arbeitslosmeldung erst zum 1. Mai 1997 hätte den Eintritt der Sperrzeit ab 1. Januar 1997 nicht verhindern können. Aus diesem Grunde scheide auch die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches aus.

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Gegen das am 26. Oktober 2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23. November 2000 Berufung eingelegt. Sie wiederholt das erstinstanzliche Vorbringen und rügt, das SG habe unberücksichtigt gelassen, dass der Arbeitgeber Ende Oktober 1996 eine Änderungskündigung zum 31. Dezember 1996 ausgesprochen habe. Sie macht vertiefend Ausführungen zu der Rechtsentwicklung der Sperrzeitvorschrift seit Einführung des § 97 AVAVG unter Berücksichtigung des dokumentierten gesetzgeberischen Willens und der dazu ergangenen Rechtsprechung.

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Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 13. September 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. September 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Oktober 1997 aufzuheben

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab 23. Juli 1999 Arbeitslosengeld für weitere 167 Tage zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Die Beklagte erwidert, von der L. sei im erstinstanzlichen Verfahren ausdrücklich bestätigt worden, dass bei Umbesetzungen der Klägerin ein zumutbarer Arbeitsplatz iS des Tarifvertrages Nr 444 angeboten worden wäre, nämlich mit unveränderter Arbeitszeit und Bezahlung sowie im Tagesdienst. Ein Irrtum der Klägerin über das Vorliegen der Sperrzeitvoraussetzungen begründe keine besondere Härte iS des § 119 Abs 2 AFG.

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Wegen des umfassenden Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie auf den Leistungsvorgang des Arbeitsamtes I. (Stamm-Nr: M.) Bezug genommen. Der Senat hat ferner die bei der G. geführte Personalakte Nr 2 beigezogen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat entscheidet gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden. Die Klägerin hat dieser Vorgehensweise widersprochen. Eine Zustimmung der Beteiligten für den gewählten Verfahrensweg ist jedoch nicht erforderlich.

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Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, weil die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtmäßig sind. Die Klägerin kann über den 22. Juli 1999 hinaus kein weiteres Alg verlangen.

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Streitgegenstand ist allein die Minderung der Anspruchsdauer von Alg in Folge einer zwölfwöchigen Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe (§ 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG) um ein Viertel gemäß § 110 Satz 1 Nr 2 AFG, weil der Leistungsanspruch für die Dauer der Sperrzeit aus anderen Gründen ruht. Gemäß § 106 Abs 1 Satz 3 AFG hätte der Anspruch der Klägerin auf Alg am 1. Januar 1997 entsprechend ihrem Lebensalter und der Dauer der beitragspflichtigen Beschäftigung 572 Tage betragen. Die sperrzeitbedingte Minderung der Anspruchsdauer um ein Viertel ist daher zum Zeitpunkt der Leistungsbewilligung mit 143 Tagen, ab 1. Januar 1998 gemäß § 427 Abs 4 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit 167 Tagen zu beziffern. An diese Vorgaben hat sich die Beklagte gehalten.

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Im Falle der Klägerin ist ab 1. Januar 1997 eine zwölfwöchige Sperrzeit gemäß § 119 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG eingetreten. Sie hat nämlich zum 31. Dezember 1996 ihren Arbeitsplatz bei der G. aufgegeben, obwohl dies ohne ihre Zustimmung zum Auflösungsvertrag vom 29. November 1996 nicht möglich gewesen wäre. Eine Änderungskündigung durch den Arbeitgeber zum 31. Dezember 1996 hat es nicht gegeben. Dieser hat in seiner Auskunft vom 9. November 1999 unmissverständlich klargestellt, dass keine Änderungskündigung ausgesprochen wurde, sondern dass der Klägerin in einem Personalgespräch nur mitgeteilt worden ist, dass es mit der Inbetriebnahme des Briefzentrums keine weitere Beschäftigungsmöglichkeit in I. geben werde. Auch die Klägerin selbst ist nicht von einer Änderungskündigung von Ende Oktober 1996 ausgegangen. Vielmehr hat sie mit Schreiben vom 13. November 1996 um vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Aufhebungsvertrag zum 31. Dezember 1996 gebeten. Insoweit ist die Arbeitslosigkeit ab 1. Januar 1997 kausal nicht durch eine unwirksame arbeitgeberseitige Kündigung ausgelöst worden, die in der Tat keine Sperrzeit begründet hätte.

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Ein wichtiger Grund iS der Sperrzeitvorschrift liegt nicht vor. Ein solcher ist anzunehmen, wenn dem Arbeitslosen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung seiner Interessen mit den Belangen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten nicht zugemutet werden kann. Die jeweiligen Umstände müssen sich so nachhaltig auswirken, dass nach verständigem Abwägen dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann, weil sonst sein Interesse in unbilliger Weise geschädigt würde (Bundessozialgericht - BSG - SozR 4100 § 119 Nr 28). Der wichtige Grund muss sich nicht nur auf die Beendigung überhaupt oder auf die Art der Beendigung beziehen, sondern sich auch auf die Wahl des Zeitpunktes für die Beendigung erstrecken (BSG SozR 4100 § 119 Nr 17; BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 12).

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Der Senat teilt die Auffassung der Klägerin, dass ein wichtiger Grund vorliegen könnte, wenn ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer nach einer Umstrukturierung des Betriebes nur noch unterqualifiziert beschäftigt werden kann und auf Dauer eine vertragsgemäße Verwendung ausscheidet. Vorliegend ist eine derartige Sachlage jedoch nicht gegeben. Die Klägerin war bei der G. als Arbeiterin, zuletzt in der Lohngruppe VIII (entspricht der Besoldungsgruppe A5) eingestellt. Sie hat einfache Arbeiten ausgeführt und war folglich einzelvertraglich breit verweisbar. Dazu gehört auch die Tätigkeit als Briefzustellerin, was die Klägerin im Grundsatz nicht bestreitet. In diesem Zusammenhang hat der Arbeitgeber mit seiner Auskunft vom 9. November 1999 bestätigt, dass der Klägerin eine zumutbare Beschäftigung im Briefzustelldienst in H. entsprechend dem Rationalisierungstarifvertrag angeboten worden wäre. Da die Klägerin nicht nur für den Innendienst eingestellt wurde, war der beabsichtigte Einsatz im Briefzustellungsdienst allein kein wichtiger Grund, um die Beschäftigung aufzugeben.

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Nichts anderes ergibt sich aus dem Einwand der Klägerin, das Änderungsangebot sei unzumutbar gewesen, weil sie als Briefverteilerin entweder 20 oder 40 Wochenstunden im Schicht- oder Wechseldienst, beginnend ab 4.00 Uhr morgens, hätte arbeiten müssen. Wäre nämlich der alternativ angebotene Arbeitsplatz nach § 5 des Tarifvertrages Nr 444 unzumutbar, hätte die Klägerin dieses Änderungsangebot, ohne rechtliche Nachteile befürchten zu müssen, ablehnen können. Da eine betriebsbedingte Kündigung nicht möglich war, schon gar nicht zum 31. Dezember 1996, wäre die Klägerin, wie bereits ab 1. Januar 1996 nach der Zuordnung zum Briefzentrum I. als überzählige Mitarbeiterin mit zusätzlichen Tätigkeiten beauftragt worden, falls ihr Arbeitgeber für sie nicht doch einen zumutbaren Arbeitsplatz im Briefzustellungsdienst hätte einrichten können.

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Das Verhalten der Klägerin ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt nicht zu billigen, dass der wichtige Grund sich auch auf den Zeitpunkt der Beendigung erstrecken muss. Gerade unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Sperrzeitregelung, wie dies von der Klägerin in der Berufungsbegründung ausführlich dargelegt worden ist, nämlich Manipulationen der Arbeitsvertragsparteien bei der Herbeiführung des Versicherungsfalles auszuschließen, wäre von der Klägerin unter Abwägung ihrer Interessen mit den berechtigten Belangen der Versichertengemeinschaft die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zu dem Zeitpunkt zu verlangen gewesen, zu dem der Arbeitgeber frühestens das Arbeitsverhältnis hätte kündigen können. Nach ihrem erstinstanzlichen Vorbringen ist die Klägerin davon ausgegangen, dass das Arbeitsverhältnis frühestens zum 30. April 1997 kündbar gewesen wäre. Es ist aber dann nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen sie den Eintritt der Arbeitslosigkeit um vier Monate vorgezogen hat.

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Das SG hat schließlich zutreffend festgestellt, dass besondere Härtegesichtspunkte im Falle der Klägerin nicht ersichtlich sind. Diese sind nicht darin zu sehen, dass während der Dauer der Sperrzeit kein Alg verlangt wird. Denn als zusätzliche Rechtsfolge der Sperrzeit hat der Gesetzgeber die hier streitige Minderung der Anspruchsdauer vorgesehen, um bei Zunahme längerfristiger Arbeitslosigkeit mit regelmäßiger Ausschöpfung der Anspruchsdauer die Solidargemeinschaft der Beitragszahler zusätzlich vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme zu bewahren. Es darf ferner nicht übersehen werden, dass die Klägerin gemäß § 5 des Aufhebungsvertrages über etwaige Nachteile beim Bezug von Alg in Folge der einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist belehrt worden ist. Sie hat ferner am 29. November 1996 unterschrieben, ein Merkblatt der G. sowie vor Abschluss des Auflösungsvertrages die Gelegenheit erhalten zu haben, mit dem Personalrat und mit ihrer Gewerkschaft die Angelegenheit zu beraten (Blatt 476 Personalakte).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.