Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.08.2001, Az.: L 8 AL 190/01

Abzweigung eines angemessenen Teiles von den laufenden Geldleistungen (Arbeitslosenhilfe) wegen bestehender Unterhaltspflicht für zwei Kinder; Fehlende Ermessensausübung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
30.08.2001
Aktenzeichen
L 8 AL 190/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15940
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0830.L8AL190.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 14.03.2001 - AZ: S 3 AL 196/00

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg,

den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover,

Sonstige Beteiligte

XXX

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

auf die mündliche Verhandlung vom 30. August 2001

durch

die Richter E. - Vorsitzender -, F. und G. sowie

die ehrenamtlichen Richter H. und I.

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 14. März 2001 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte und die Beigeladene haben je zur Hälfte die außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Instanzen zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen die Abzweigung von seiner Arbeitslosenhilfe (Alhi) durch die Beklagte an die Beigeladene gemäß § 48 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) für die Zeit ab 1. April 2000.

2

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 3. Februar 2000 dem 1969 geborenen Kläger Alhi ab 18. Januar 2000 in Höhe von 249,13 DM wöchentlich (täglich 35,59 DM). Gemäß Beschlüssen des Amtsgerichts (AG) K. vom 11. März 1996 ist der Kläger zur Unterhaltszahlung an seine Kinder L. und M. (geb. am 11. April 1991 und 12. Oktober 1992) in Höhe von 378,00 DM monatlich je Kind verpflichtet. Während des Leistungsbezuges kam der Kläger seinen Unterhaltspflichten nicht nach. Mit Schreiben vom 28. Februar 2000 beantragte die Beigeladene als Beistand der Kinder des Klägers gemäß § 55 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) bei der Beklagten die Abzweigung eines angemessenen Teiles von den laufenden Geldleistungen.

3

Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 3. März 2000 den Kläger zu der beabsichtigten Abzweigung unter Fristsetzung bis zum 19. März 2000 an. Nachdem der Kläger sich nicht äußerte, teilte die Beklagte mit Schreiben vom 24. März 2000 mit, dass ab 1. März 2000 von den laufenden Leistungen ein Betrag von 24,92 DM täglich einbehalten und an die Beigeladene ausgezahlt werde. Tatsächlich nahm die Beklagte die beabsichtigte Abzweigung erst mit Wirkung ab 1. April 2000 vor. Der Widerspruch des Klägers, mit dem er geltend machte, dass ihm nach der Abzweigung nur noch 324,55 DM monatlich verblieben, die nicht einmal zur Zahlung der Miete ausreichten, blieb erfolglos. Im Widerspruchsbescheid vom 28. April 2000 führte die Beklagte aus, dem rechtskräftigen Unterhaltstitel komme im Rahmen der Ermessensausübung die Indizwirkung zu, grundsätzlich den Betrag an den berechtigten Dritten auszuzahlen, der als Unterhaltsbetrag im Titel festgelegt sei, wenn der Unterhaltsverpflichtete nicht vorgebracht habe, dass seine Einkommensverhältnisse sich zu seinen Lasten wesentlich geändert hätten.

4

Mit der am 2. Juni 2000 erhobenen Klage rügte der Kläger, dass nach Sozialhilfekriterien ihm ein Betrag von mindestens 1.000,00 DM verbleiben müsse, zumal der pfändbare Betrag sich auf eine Summe von mindestens 1.220,00 DM belaufe. Im Übrigen habe der Kläger für die Monate Mai und Juni 2000 Sozialhilfe in Höhe von 103,27 DM bezogen und für die Unterkunft 380,00 DM monatlich gezahlt. Demgegenüber erwiderte die Beklagte, sie habe diese Umstände nicht berücksichtigen können, weil der Kläger sich auf das Anhörungsschreiben nicht geäußert habe.

5

Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat durch Urteil vom 14. März 2001 der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide wegen fehlerhafter Ermessensausübung aufgehoben. Die Beklagte habe zwar in den titulierten Unterhaltsansprüchen der Kinder die Obergrenzen des Abzweigungsbetrages gesehen. Sie habe jedoch nicht die Untergrenze beachtet, weil die dem Kläger nach den Abzweigungen ausgezahlte Alhi seinen Bedarf nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) unterschritten habe. Die Beklagte habe hierzu keine Ermittlungen angestellt und müsse diese nachholen. Den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "angemessene Höhe" der Abzweigungen habe die Beklagte auf der Grundlage einer unzureichenden Berücksichtigung der Untergrenze des Mindestbehaltes des Klägers nicht eingehalten.

6

Gegen das am 26. März 2001 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 23. April 2001. Sie trägt vor, sie habe eine signifikante Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers gegenüber den für die festgesetzten titulierten Unterhaltsbeträge seinerzeit maßgeblichen wirtschaftlichen Verhältnissen schon deshalb nicht berücksichtigen können, weil der Kläger diesbezüglich keine Angaben gemacht habe.

7

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 14. März 2001 aufzuheben sowie die Klage abzuweisen.

8

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Der Kläger trägt vor, die Beklagte habe die Pfändungsfreigrenze und den Selbstbehalt des Klägers gegenüber den unterhaltsberechtigten Kindern nicht beachtet.

10

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

11

Sie verweist auf ihre erstinstanzlichen Ausführungen, dass eine Erstattungsforderung der Beklagten allenfalls gegenüber den unterhaltsberechtigten Kindern bestehe, nicht aber gegen die Stadt K., die nur als Vormund aufgetreten sei und den abgezweigten Anteil der Sozialleistungen des Klägers nur als durchlaufenden Posten behandelt habe.

12

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13

Die einen Beschwerdegegenstand im Werte von mehr als 1.000,00 DM betreffende Berufung ist statthaft (§ 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG ?) und auch sonst zulässig (§ 151 SGG). Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Insbesondere wurde die einmonatige Klagefrist (§ 87 Abs 1 SGG) eingehalten. Den Widerspruchsbescheid vom 28. April 2000 hat die Beklagte mit einfachem Brief am selben Tage zur Post abgegeben. Dieser ist am 2. Mai 2000 bei den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers eingegangen. Die am 2. Juni 2000 erfolgte Klageerhebung war rechtzeitig.

14

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das SG der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben.

15

Streitgegenstand ist die von der Beklagten ab 1. April 2000 vorgenommene Abzweigung an die Beigeladene in Höhe von 24,92 DM täglich, die von der Beklagten durch Bescheid vom 24. März 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2000 verfügt worden ist, soweit der Alhi-Anspruch des Klägers nicht schon mit der Zahlung von Sozialhilfe durch die Beigeladene gemäß § 107 Abs 1 SGB X als erfüllt gilt. Diese Regelung kann nur mit einer reinen Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 SGG bekämpft werden (Bundessozialgericht - BSG - SozR 1200 § 48 Nr 11), unabhängig davon, ob und in welcher Höhe eine Abzweigung zu erfolgen hat.

16

Das SG hat zutreffend entschieden, dass die hier streitigen Bescheide der Beklagten wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig und deshalb aufzuheben sind. Diese Entscheidung deckt sich mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG SozR 1200 § 48 Nr 10 Seite 49-51). Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird auf die Ausführungen im sozialgerichtlichen Urteil verwiesen (§ 153 Abs 2 SGG). Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Beteiligten ist Folgendes zu ergänzen:

17

Der Beklagten ist zuzugeben, dass, wenn ein Leistungsempfänger sich im Anhörungsverfahren nicht äußert und ein rechtskräftiger Unterhaltstitel vorliegt, in der Regel keine hiervon abweichenden Umstände zugunsten des Leistungsbeziehers berücksichtigt werden können. Insbesondere spielt die vom Kläger erwähnte Pfändungsfreigrenze in diesem Zusammenhang keine Rolle, weil die Abzweigung in angemessener Höhe im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung festzusetzen ist. Die besonderen Umstände des Einzelfalles hätten jedoch die Beklagte zu einer näheren Überprüfung bzw zu einer umfassenderen Ermessensabwägung veranlassen müssen.

18

Die Beklagte hat mit Anhörungsschreiben vom 3. März 2000 den Kläger darüber informiert, dass der titulierte Unterhaltsbetrag nicht heranzuziehen sei, wenn die seinerzeit maßgeblichen Einkommensverhältnisse sich inzwischen um wenigstens 10 vH zu seinen Lasten verändert haben, was er durch neue Nachweise belegen müsste. Der Kläger hat sich zwar nicht gemeldet und keine Änderung der Verhältnisse geltend gemacht. Die Beklagte konnte jedoch ohne große Rechenoperation davon ausgehen, dass die Unterhaltstitel nicht auf der Basis der vom Kläger aktuell im März 2000 bezogenen Leistungen (ca 1.000,00 DM monatlich) berechnet sein konnten, wenn die Unterhaltsverpflichtungen des Klägers gegenüber seinen zwei Kindern auf 776,00 DM monatlich festgesetzt waren, zudem er für die Unterkunft allein weitere 380,00 DM aufbringen musste. Diese Bedenken werden durch den weiteren Umstand bestärkt, dass die Beschlüsse des AG K. vom 11. März 1996 datierten und somit länger als drei Jahre zurücklagen, wobei die Beklagte anhand der Leistungsakte wusste, dass der Kläger danach höhere Leistungen bezog. Schließlich bestand nach Erhalt des Widerspruchsschreibens vom 30. März 2000 Anlass für die Vermutung, dass der Kläger mit den verbleibenden Leistungen sozialhilfebedürftig werden könnte.

19

Aus den angefochtenen Entscheidungen der Beklagten ist jedoch nicht ersichtlich, wenn sie sich schon für eine Abzweigung entschieden hat, auf Grund welcher Ermessensgesichtspunkte die Wahl für den Abzweigungsbetrag zwischen mehreren rechtlich möglichen Alternativen auf 24,52 DM täglich gefallen ist. Selbst wenn der Kläger sich auf das Anhörungsschreiben der Beklagten nicht gemeldet hat, müsste zumindest aus dem Abzweigungsbescheid der Beklagten hervorgehen, aus welchen Gründen sie dem Kläger nicht einmal als unterste Grenze den Regelbedarf nach § 22 Abs 1 BSHG in Höhe von 438,00 DM monatlich (vgl Sozialhilfebescheid der Beigeladenen vom 23. Mai 2000) belassen wollte.

20

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG. Der Senat hält es für geboten, die Beigeladene mit der Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu belasten, weil sie das gleiche rechtliche Interesse wie die Beklagte am Ausgang des Rechtsstreits hat. Hinzu kommt noch, dass die Beigeladene spätestens seit dem Antrag des Klägers auf Gewährung von Sozialhilfe vom 4. Mai 2000 wusste, dass er infolge der von ihrem Jugendamt beantragten Abzweigung nach § 48 SGB I sozialhilfebedürftig geworden war. Wenn bei dieser Sachlage das Jugendamt nicht veranlasst, das Abzweigungsbegehren zurückzunehmen, sondern Sozialhilfe an den Kläger gewährt und das Prozessrisiko für die Abzweigung allein der Beklagten aufbürdet, entspricht es der Billigkeit, die Beigeladene an der Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu beteiligen.