Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 24.05.2005, Az.: 1 A 916/03

Abschiebungsschutz; Afghanistan; Asyl; inländische Fluchtalternative; Nachfluchtgrund; objektiver Nachfluchtgrund; politische Verfolgung; politisches Asyl; subjektiver Nachfluchtgrund

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
24.05.2005
Aktenzeichen
1 A 916/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50749
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt im Wege des Asylfolgeverfahrens Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise gemäß § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG. Ursprünglich hatte er auch seine Anerkennung als Asylberechtigter angestrebt.

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Der am ... geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger pashtunischer Volkszugehörigkeit und moslemisch-sunnitischen Glaubens. Er reiste nach seinen Angaben im Dezember 1995 zusammen mit seiner Ehefrau sowie seinen minderjährigen Kindern mit Hilfe von Schleppern über Pakistan auf dem Luftweg nach Deutschland. Am 19. Dezember 1995 stellten er und seine Familienangehörigen Asylanträge, die der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 28. Dezember 1995 im Wesentlichen wie folgt begründete: Er habe im Jahr 1988 sein Diplom gemacht und von 1985 bis 1993 der DVPA angehört. Er sei vor der Machtübernahme durch die Mudjaheddin Parteisekretär der DVPA in der Provinz Wardaq gewesen. Sein Vater sei General und Pilot gewesen; im August oder September 1992 sei dieser verhaftet und später getötet worden. Seitdem habe er, der Kläger, unter verschiedenen Adressen gewohnt. Am 21. März 1993 sei er von bewaffneten Mudjaheddin auf der Straße verhaftet worden. Er sei zunächst in Kabul und anschließend in Tscharikar inhaftiert gewesen. Ihm sei vorgeworfen worden, für die Regierung Nadjibullah gearbeitet zu haben. Am 10. August 1995 sei er dank der Zahlung von Lösegeld und weil er den Mudjaheddin von Massud versprochen habe, für sie zu arbeiten und Menschen zu töten, freigelassen worden. Er habe das Herrschaftsgebiet der Mudjaheddin nicht verlassen dürfen und habe sich regelmäßig bei einer Militärdivision in Bagram melden müssen. Mit den Leuten von Dostum habe er sich auch angelegt, weil er als Parteisekretär viele von ihnen entlassen habe.

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Mit Bescheid vom 28. März 1996 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und dass Abschiebungshindernisse vorliegen. Zudem forderte es die Kläger zur Ausreise auf und drohte ihnen die Abschiebung nach Afghanistan an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen an, in Afghanistan bestehe keine staatliche bzw. quasi-staatliche Zentralgewalt mit effektiver Gebietshoheit. Auch Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG könne nicht gewährt werden, weil das Vorbringen des Klägers widersprüchlich und daher unglaubhaft sei.

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Daraufhin haben der Kläger und seine Familienangehörigen vor dem Verwaltungsgericht Hannover am 12. April 1996 Klage erhoben. In diesem Klageverfahren legte er zum einen ein gegen ihn ergangenes Urteil des Militärgerichtes der 1. Instanz in Tscharikar vom 21. März 1993 vor, wonach er als „Staatsdiener des Staatsfeindes“ zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt wurde. Zum anderen legte er einen ihn betreffenden Suchbefehl des Ministeriums für Inneres - 4. Hauptabteilung/Abteilung für Gendarmerie und Polizei/Unterabteilung: Kriminalität - Bereich: Sonderaufgaben vom 22. Oktober 1996 vor, wonach er als ehemaliger Kommunist und früherer stellvertretender Sekretär des Parteikomitees von Meidan-e Shahr zu verhaften sei, sobald er Kabul betrete.

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Mit rechtskräftigem Urteil vom 12. Dezember 1997 - 5 A 2080/96 - wies das Verwaltungsgericht Hannover die Klage des Klägers und seiner Familienangehörigen ab. Zur Begründung führte auch das Gericht die fehlende Staatsgewalt in Afghanistan an und verwies im Übrigen darauf, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht gegeben seien, weil die frühere Tätigkeit des Klägers nicht als herausragende, exponierte, ranghohe Tätigkeit für das frühere kommunistische Regime zu bewerten sei. Zudem sei der Vortrag des Klägers durch zahlreiche Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet.

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Ein weiteres Asylverfahren des am ... in Deutschland geborenen Kindes wurde am 23. Mai 2000 rechtskräftig abgeschlossen.

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Mit Schriftsätzen vom 29. August 2001 und 17. September 2001 ihrer damaligen Bevollmächtigten stellten der Kläger sowie seine Ehefrau und seine Kinder A., B. und C. unter Hinweis auf die geänderte Entscheidungspraxis des Bundesamtes und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens einen Asylfolgeantrag. Er, der Kläger, sei auch Trainer/Leiter der Abteilung für Verteidigung und Recht des Zentralkomitees der Stadt Kabul gewesen. Sein Schwiegervater sei mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 20. Juni 2001 als Asylberechtigter anerkannt worden. Zudem legte er u. a. ein Schreiben eines Herrn D. vom 21. September 2000 sowie eines Herrn E. vom 8. September 2000 und einen Militärausweis vor.

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In seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 6. November 2001 erklärte der Kläger im Wesentlichen Folgendes: Viele Mitglieder der Familie seiner Frau und seiner Familie seien inzwischen in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt worden oder hätten einen gesicherten Aufenthaltsstatus; einige seien bereits eingebürgert. Im Fall einer Rückkehr müssten er und seine Frau wegen ihrer Vergangenheit in der DVPA damit rechnen, getötet zu werden.

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Zudem überreichte er mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 26. November 2003 ein auf sich und seine Ehefrau bezogenes Gutachten von Dr. M. D. vom 13. November 2003. Dieser führt u. a. aus, dass der Kläger einer der bekanntesten Funktionäre der DVPA gewesen sei und sich insbesondere durch seinen großen Einsatz im Kampf gegen die Mudjaheddin sowie deren Drogenhandel die Gegnerschaft der Islamisten zugezogen habe. Sowohl in der derzeitigen Kabuler Regierung als auch in seiner Heimatprovinz und im ganzen Land säßen wieder ehemalige Mudjaheddin wie Fahim, Abdullah Abdullah, Bashir Salangi, Rabbani und Abdul Rasul Sayyaf an den Schalthebeln der Macht, denen der Kläger aus seiner exponierten politischen Tätigkeit heraus persönlich bekannt sei und die ihm mit unversöhnlichem Hass gegenüber stünden. Im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan bestünde für ihn daher akute Lebensgefahr. Auch in Deutschland trete er als einer der aktivsten und engagiertesten Gegner der heutigen Machthaber in Afghanistan auf. Dieses Engagement sei der Regierung in Kabul bestens bekannt.

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Am 8. Mai 2003 stellten der Kläger und seine Ehefrau für ihr am ... 2003 in Deutschland geborenes weiteres Kind F. einen Asylantrag.

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Mit Bescheid vom 3. Dezember 2003 - zugestellt am 10. Dezember 2003 - lehnte das Bundesamt die Anerkennung des Klägers und seiner Ehefrau als Asylberechtigte ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen. Zugleich stellte es aber fest, dass für diese beiden ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistan vorliegt. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen an, von einer politischen Verfolgung könne in Afghanistan nicht ausgegangen werden, weil weder die Regierung Karzai noch eine andere Gruppierung staatliche oder staatsähnliche Gewalt ausübe. Aufgrund ihrer exponierten Stellung in der DVPA bzw. in der früheren kommunistischen Regierung drohe ihnen aber eine landesweite Verfolgungsgefahr.

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Mit weiteren Bescheiden vom 3. Dezember 2003 und 9. Dezember 2003 - zugestellt jeweils ebenfalls am 10. Dezember 2003 - lehnte das Bundesamt die Asylanträge der vier Kinder A., B., C. und F. ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung führte es u. a. an, den Kindern drohe zumindest in Kabul keine sippenhaftähnliche Gefährdungslage.

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Daraufhin haben der Kläger und seine Ehefrau am 22. Dezember 2003 unter dem Aktenzeichen 1 A 916/03 und seine Kinder A., B. und C. unter dem Aktenzeichen 1 A 917/03 sowie sein weiteres Kind F. unter dem Aktenzeichen 1 A 915/03 jeweils Klage erhoben. Mit Schriftsätzen vom 29. November 2004 haben die Ehefrau und die Kinder des Klägers ihre Klagen zurückgenommen, nachdem die Ausländerbehörde ihnen die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen zugesichert hatte. Daraufhin sind die die Kinder betreffenden Klageverfahren 1 A 915/03 und 1 A 917/03 sowie das abgetrennte Verfahren 1 A 406/03 der Ehefrau des Klägers mit Beschlüssen vom 2. Dezember 2004 eingestellt worden.

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Hinsichtlich der Gewährung von Asyl hat der Kläger die Klage in der mündlichen Verhandlung vom 24. Mai 2005 zurückgenommen. Zur Begründung seiner im Übrigen aufrechterhaltenen Klage vertieft und ergänzt er seinen bisherigen Vortrag. Er sei auch in Deutschland exilpolitisch tätig und habe sich dem Rat der Afghanischen Flüchtlinge angeschlossen. Hierbei handele es sich um eine Vereinigung, die überwiegend aus ehemaligen Kommunisten aus Afghanistan bestehe. Ergänzend legt er hierzu eine Bescheinigung der Afghanischen Gemeinschaft e. V., Hamburg, vom 12. März 2004 und eine Bescheinigung des Rates der afghanischen Flüchtlinge e. V., Hamburg, vom 8. Oktober 2004 vor. Die Tätigkeit von kommunistischen Parteien sei auch unter der jetzigen Regierung Karzai verboten. Er habe zudem in der oppositionellen Zeitschrift Azadi, die in Dänemark erscheine, einen Artikel hinsichtlich der Bürgerkriegssituation in Afghanistan und hinsichtlich der gegenwärtigen Situation veröffentlicht. Nach den vorliegenden Gutachten sei die Situation für ehemalige Mitarbeiter der DVPA in Afghanistan weiterhin äußerst problematisch.

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Der Kläger beantragt,

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die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG,

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hilfsweise, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG vorliegen

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und den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3. Dezember 2003 aufzuheben, soweit er ihn betrifft und soweit er diesem Begehren entgegensteht.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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und verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens, der Verfahren 1 A 917/03, 1 A 915/03 und 1 A 406/04 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Soweit der Kläger die Klage - hinsichtlich seiner Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 GG - zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

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Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage hat Erfolg.

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Der Kläger hat im Rahmen seines Asylfolgeantrages Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Der den Kläger betreffende und von diesem angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher hinsichtlich seiner Regelungen zu Ziffer 2., 3. und 4. (zu letzterer Ziffer allerdings nur zum Teil) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Insoweit liegen zum einen eine neue Rechtslage und zum anderen neue Beweismittel vor.

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Das Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift deckt sich in seinen Voraussetzungen im Prinzip mit denen der politischen Verfolgung i. S. d. Art. 16 a Abs. 1 GG; die Vorschrift hat ihre besondere Bedeutung in den Fällen, in denen ein politisch verfolgter Asylsuchender z. B. - wie hier - wegen seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht als Asylberechtigter anerkannt werden kann oder wenn subjektive Nachfluchtgründe vorliegen, die im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG unbeachtlich sind. Seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 kommt hinzu, dass nach § 60 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG die geschlechtsspezifische und nunmehr auch - im Gegensatz zum bisherigen Recht des § 51 Abs. 1 AuslG (vgl. hierzu etwa BVerwG, Urt. v. 20.2.2001 - 9 C 20.00 -, NVwZ 2001, 815 m. w. N.) - die nichtstaatliche Verfolgung als flüchtlingsrechtlich relevante Fluchtgründe anerkannt sind.

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Ein Anspruch auf Gewährung von Asyl nach Art. 16 a Abs. 1 GG und auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht, wenn der betroffene Ausländer selbst in eigener Person politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asyl- und abschiebungsschutzerhebliche Merkmale in seinem Heimatstaat gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind, oder ihm solche Rechtsverletzungen unmittelbar gedroht haben. Die Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie an die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung, die Volkszugehörigkeit oder andere unverfügbare Merkmale des Verfolgten, die sein Anderssein prägen, anknüpft.

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Der Anspruch besteht nur dann, wenn das Asylrecht und der Abschiebungsschutz dazu dienen, dem Verfolgten Zuflucht vor politischer Verfolgung zu gewähren. Dieser Gedanke der Zufluchtgewährung vor politischer Verfolgung setzt einen Kausalzusammenhang zwischen einer bereits erlittenen oder jedenfalls einer drohenden Verfolgung im Heimatland und der Flucht in die Bundesrepublik Deutschland voraus. Fehlt ein solcher Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht, können Umstände, die an sich objektiv geeignet sind, politische Verfolgung auszulösen (sog. Nachfluchttatbestände), nur dann einen Asylanspruch begründen, wenn dies ausnahmsweise durch den Sinn und Zweck der Asylrechtsgewährung gefordert ist. Ein solcher Fall kann dann vorliegen, wenn die Nachfluchtgründe durch Vorgänge oder Ereignisse im Heimatland des Asylsuchenden ohne dessen Zutun hervorgerufen wurden (sog. objektive Nachfluchtgründe). Dagegen sind selbst geschaffene Nachfluchttatbestände, die der Asylbewerber nach Verlassen seines Heimatlandes aus eigenem Entschluss herbeigeführt hat (sog. subjektive Nachfluchtgründe) nur dann asylrelevant, wenn sie sich als Ausdruck und Fortführung einer schon im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen und damit als notwendige Konsequenz einer dauernden, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen Lebenshaltung erscheinen (vgl. § 28 Abs. 1 AsylVfG) oder der Ausländer sich bei Verlassen des Heimatlandes in einer zumindest latenten Gefährdungslage befunden hat.

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Anspruch auf Gewährung politischen Asyls und auf Abschiebungsschutz besteht ferner nur dann, wenn der Asylsuchende zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bei einer Rückkehr in sein Heimatland politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (sog. gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit). Dies ist dann der Fall, wenn dem Asylsuchenden aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen eine Rückkehr in sein Heimatland nach Abwägung aller bekannten Umstände nicht zuzumuten ist. Hierfür hat das Gericht eine Prognose über einen in die Zukunft gerichteten absehbaren Zeitraum anzustellen. Einem Asylbewerber, der bereits in seinem Heimatland verfolgt wurde (sog. Vorverfolgung), kann dagegen die Rückkehr in seine Heimat nur dann zugemutet werden, wenn die Gefahr, erneut mit Verfolgungsmaßnahmen überzogen zu werden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Ihm ist bereits dann politisches Asyl zu gewähren, wenn an seiner Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat ernsthafte Zweifel bestehen. Bei der Prognose über eine drohende Verfolgung im Fall der Rückkehr bereits vorverfolgt ausgereister Asylbewerber ist daher ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden.

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Kein Anspruch auf Gewährung politischen Asyls und auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht des Weiteren dann, wenn die Verfolgung eines Asylbewerbers in seinem Heimatland nur regional begrenzt stattfindet und es ihm zuzumuten ist, in anderen Teilen Zuflucht zu suchen (sog. inländische Fluchtalternative). Das Vorliegen einer solchen Fluchtalternative kann jedoch nur dann bejaht werden, wenn der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten seines Heimatlandes vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm auch keine anderen Nachteile oder Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen.

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Verfolgungsmaßnahmen, die nicht unmittelbar vom Staat selbst ausgehen (unmittelbare Verfolgung), konnten nach der bisherigen Rechtslage als politische Verfolgung angesehen werden, wenn sie dem Staat zuzurechnen waren (mittelbare Verfolgung). Verfolgungshandlungen Dritter waren dem Heimatstaat des Asylsuchenden dann als mittelbare Verfolgung zuzurechnen, wenn er Einzelne oder Gruppen zu Verfolgungsmaßnahmen anregt oder derartige Handlungen unterstützt oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt. In Erweiterung dieser Grundsätze bestimmt § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nunmehr, dass eine Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - neben dem Staat (Buchst. a) sowie Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (Buchst. b) - auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative.

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Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger nach dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Die aktuelle abschiebungsschutzrelevante Gefährdungslage beruht auf den früheren politischen Aktivitäten des Klägers und seinen Funktionen in der Vergangenheit und den gegenwärtigen Verhältnissen in Afghanistan und insbesondere in Kabul.

33

Aufgrund des Vorbringens des Klägers sowie insbesondere des auf u. a. den Kläger bezogenen Gutachtens des Dr. M. D. vom 13. November 2003 lässt sich nach der Überzeugung des Einzelrichters feststellen, dass der Kläger seit 1972 aktives Mitglied der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) war. Zu seinen Mentoren gehörte u. a. der spätere Präsident Najibullah. Diese Tätigkeiten machten ihn als „kommunistischen Aktivisten“ weithin bekannt, u. a. insbesondere auch bei den späteren Mujaheddin-Kommandanten wie etwa Gulbuddin Hekmatyar, Ahmad Schah Masud, Abdul Rasul Sayyaf oder Rabbani. 1981 wurde er auf Beschluss des Zentralkomitees der DVPA in Kabul zu einem der höchsten Funktionäre der Partei in der Provinz Wardak ernannt. Seine Hauptaufgabe dort war u. a. die Bekämpfung der dortigen Mudjaheddin-Gruppen. Zudem war er für die Abteilung „Dokumentation“ der Partei in Wardak verantwortlich. Wardak war - so der Gutachter D. weiter - als südwestliche Nachbarprovinz von Kabul auch deshalb so wichtig, weil die Mudjaheddin-Fraktionen u. a. von Sayyaf und von Hekmatyar dort starke Verbände stehen hatten und von Wardak aus ihre Angriffe auf die Hauptstadt führten. Außerdem war Wardak eine logistische Drehscheibe der Mudjaheddin. Der Kläger als derjenige Parteiverantwortliche, der mit der Bekämpfung dieser Guerillagruppen und ihrer Nachschubwege beauftragt war, nahm daher eine äußerst exponierte Stellung in einer mit großer Härte geführten militärischen Auseinandersetzung ein. Seit 1983 war der Kläger Ausbilder und Sachverständiger in der Abteilung „Verteidigung und Recht“ der Kabuler Parteiorganisation. 1984 wurde er auf Beschluss des Zentralkomitees zum Leiter der lokalen Abteilung „Verteidigung und Recht“ und zudem zum stellvertretenden Parteivorsitzenden in Wardak ernannt. Zudem war es seine Aufgabe, den Drogenschmuggel der Mudjaheddin wie Sayyaf, Hekmatyar, Rabbani und Masud zu unterbinden. Auch in dieser Funktion stand der Kläger an exponierter Stelle, die ihn in der Öffentlichkeit sehr bekannt machte und die ihm die Feindschaft der Mudjaheddin eintrug. Dr. D. konstatiert weiter, dass zurzeit in Afghanistan und auch in der Provinz Wardak wieder genau diejenigen Leute an der Macht sind, die der Kläger seinerzeit bekämpfte. Einer dieser ehemaligen Mudjaheddin-Kommandanten ist Toran Amanullah, der gegenwärtig einer der mächtigsten Lokalfürsten in Wardak ist. Dessen Leute haben den Grundbesitz der Familie des Klägers in der Provinz Wardak mit der Begründung beschlagnahmt, er sei ein „gottloser Kommunist“. Der Gutachter kommt daher zum Schluss, dass die Todfeindschaft der ehemaligen Mudjaheddin gegenüber dem Kläger weiter bis auf den heutigen Tag besteht und dass sein Leben bei einer Rückkehr nach Afghanistan sowohl in der Provinz Wardak als auch in Kabul akut gefährdet ist.

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Dieses Gutachten ist überzeugend und deckt sich sowohl mit den sonstigen in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln als auch mit den vom Kläger vorgelegten schriftlichen Erklärungen. Dass dies auch das Bundesamt so sieht, wird in seinem angefochtenen Bescheid dadurch deutlich, dass es dem Kläger - aus seiner Sichtweise konsequent und in Übereinstimmung mit der seinerzeitigen Rechtslage nach dem Ausländergesetz - auf der Grundlage des auch von ihm als glaubwürdig eingestuften Vortrages des Klägers jedenfalls Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zugebilligt hat. Insgesamt ist das Vorbringen des Klägers daher als glaubwürdig zu bezeichnen mit der Folge, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan als erfüllt anzusehen sind. Bei den angeführten Gegnern des Klägers handelt es sich um „nichtstaatliche Akteure“ i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG. Eine inländische Fluchtalternative hat der Kläger bei dieser Sachlage ebenso wenig wie die erfolgversprechende Möglichkeit einer Schutzgewährung durch „staatliche“ oder sonstige Stellen i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a) und b) AufenthG oder in Afghanistan operierende internationale Organisationen.

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Auf die vom Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid und auch vom Gericht bisher verneinte (vgl. etwa Urt. v. 6.5.2004 - 1 A 283/03 -) Frage, ob und inwieweit in Afghanistan inzwischen ein Staat oder staatsähnliche Organisationen, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (staatliche Herrschaftsmacht), vorhanden sind oder nicht, kommt es im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nicht (mehr) an.

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Da die Beklagte verpflichtet ist, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, bedarf es gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG keiner Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AuslG. Die Abschiebungsandrohung erweist sich gemäß § 59 Abs. 3 AufenthG nur insoweit als rechtswidrig, als dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan angedroht worden ist.

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Die Kostenentscheidung beruht, soweit der Kläger seine Klage zurückgenommen hat, auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO, jeweils i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Quotelung entspricht dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.