Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.03.2002, Az.: 9 LA 120/02

Entsorgungsgebiet; Geschossflächenzahl; Grundflächenzahl; Grundstücksfläche; Kanalbaubeitrag; Kommunalabgabe; Maßstab; Vollgeschoss

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.03.2002
Aktenzeichen
9 LA 120/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43908
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 08.01.2002 - AZ: 3 A 391/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Im Kanalbaubeitragsrecht ist ein Maßstab, wonach pro Vollgeschoss ein bestimmter Anteil der gesamten Grundstücksfläche in Ansatz gebracht wird, grundsätzlich zulässig. Er kann ausnahmsweise unzulässig sein, wenn die im Entsorgungsgebiet zulässigen Grund- und Geschossflächenzahlen erheblich voneinander abweichen.

Gründe

1

Die Kläger sehen als grundsätzlich klärungsbedürftig an, ob der Beitragsberechnung im Bereich eines Bebauungsplans die gesamte Grundstücksfläche "unabhängig von der Größe der baulichen Nutzbarkeit des Grundstücks" zugrunde gelegt werden darf. Sie meinen, das Abstellen auf die gesamte Grundstücksfläche sei nicht vorteilsgerecht, wenn ein außergewöhnlich großes Grundstück baulich nicht stärker ausnutzbar sei, als ein wesentlich kleineres Grundstück.

2

Die von den Klägern aufgeworfene Frage bedarf nicht der Klärung in dem angestrebten Berufungsverfahren. Der vom Beklagten verwendete Beitragsmaßstab berücksichtigt die bauliche Nutzbarkeit der Grundstücke im Entsorgungsgebiet, indem pro Vollgeschoss ein bestimmter Anteil der gesamten Grundstücksfläche in Ansatz gebracht wird. Die Zulässigkeit eines solchen Maßstabs ist durch die Rechtsprechung des beschließenden Senats für das Kanalbaubeitragsrecht bereits im bejahenden Sinn geklärt. Dabei hat der Senat zurückgegriffen auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Beitragsmaßstäben im Erschließungsbeitragsrecht:

3

Das Bundesverwaltungsgericht hat zu den §§ 127 ff. BauGB zunächst - entsprechend den Vorstellungen der Kläger - entschieden, baurechtliche Ausnutzungsbeschränkungen seien durch eine Verminderung der erschlossenen Grundstücksfläche zu berücksichtigen (Urt. v. 9.12.1983 - 8 C 112.82 - DVBl. 1984, 194; Urt. v. 25.1.1985 - 8 C 106.83 -, DVBl. 1985, 621). Diese Rechtsprechung hat es mit Urteil vom 3. Februar 1989 (- 8 C 66.87 -, DVBl. 1989, 421) ausdrücklich aufgegeben. Seitdem geht es in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass grundsätzlich die gesamte im Plangebiet oder im unbeplanten Innenbereich liegende Grundstücksfläche als erschlossen anzusehen und dementsprechend ein Maßstab anzuwenden sei, der neben dem Maß der baulichen Nutzung die gesamte Grundstücksfläche berücksichtige, (so z.B. auch Urt. v. 10.10.1995 - 8 C 12.94 - DVBl. 1996, 376). Diese Rechtsprechung ist zum einen damit begründet worden, dass Reduzierungen bei der Grundstücksfläche in der Praxis häufig zu unvertretbaren Ergebnissen führen würden und im Interesse der Verwaltungspraktikabilität nicht geboten seien (vgl. im Einzelnen Urt. v. 3.2.1989, aaO, S. 422 f.). Zum anderen hat das Bundesverwaltungsgericht auf den engen Zusammenhang zwischen Baurecht und Erschließungsbeitragsrecht verwiesen und in Bezug auf ein Vorbringen, das demjenigen der Kläger entspricht, ausgeführt (vgl. Beschl. v. 29.11.1994 - 8 B 171.94 - ZMR 1995, 223):

4

"Die Erstreckung auf die gesamte Grundstücksfläche rechtfertigt sich, obgleich so gut wie niemals diese gesamte Fläche der baulichen (oder sonstwie beitragsrechtlich relevanten) Nutzung zugeführt werden darf, obgleich also auf diese Weise auch nicht bzw. nicht relevant nutzbare Flächenteile als "erschlossen" behandelt werden. Denn der Erschließungsbegriff in § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB kann nicht an der Rechtstatsache vorbeigehen, daß das Baurecht fast nie die volle Überbauung eines Grundstücks zuläßt, sondern die Zulässigkeit einer Bebauung meist die Freihaltung erheblicher Grundstücksteile voraussetzt, mithin für die Ausführbarkeit eines Bauvorhabens durchweg mehr an Fläche zur Verfügung stehen muß, als für die bauliche Anlage als solche benötigt wird (siehe dazu im einzelnen die §§ 16 ff. BauNVO). Mit Rücksicht auf diesen Zusammenhang zwischen dem Bau- und dem Erschließungsbeitragsrecht ist es auf den Umfang der i.S. des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB erschlossenen Fläche grundsätzlich ohne Einfluß, wenn die überbaubare Fläche eines beplanten Baugrundstücks z.B. durch die Festsetzung von Baulinien, Baugrenzen oder Bebauungstiefen gemäß § 23 BauNVO oder durch Abstands- und Anbauverbotsvorschriften etwa gemäß § 9 Abs. 1 und 2 FStrG beschränkt ist. Regelungen dieser Art sollen nach ihrer Zielsetzung nicht auf das Maß der baulichen Nutzung, sondern auf den Standort der baulichen Anlagen Einfluß nehmen (vgl. u.a. Urteil vom 25.1.1985 - 8 C 106.83 -, ZMR 1985, 243 = Buchholz 406.11, § 131 BBauG Nr. 59 S. 78 [811])."

5

Für eine Berücksichtigung der gesamten Grundstücksfläche spricht angesichts des engen Zusammenhangs zwischen Baurecht und Erschließungsbeitragsrecht ferner, dass das Baurecht bei der Berechnung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung, insbesondere der zulässigen Grund- und Geschossfläche, von der gesamten Grundstücksfläche, also auch der nicht bebaubaren, ausgeht, so dass es systemimmanent und sachgerecht ist, die gesamte Grundstücksfläche auch im - an das Baurecht anknüpfenden - Erschließungsbeitragsrecht zu berücksichtigen. Schließlich spricht gegen die von den Klägern gewünschte Beschränkung, dass die beitragsrelevante Nutzung eines Grundstücks nicht nur dessen bebaubaren Teil, sondern auch denjenigen Teil umfasst, der - wie Gärten und Grünflächen - anlässlich der bestimmungsgemäßen baurechtlichen Nutzung, z.B. zum Wohnen, mitgenutzt wird (so bereits Beschl. des beschließenden Senats vom 10.9.1993 - 9 L 4666/92 - unter Bezugnahme auf VGH Mannheim, Urt. v. 25.4.1991 - NVwZ-RR 1992, 207, 208; ähnlich BVerwG, Beschl. v. 29.11.1994 - 8 B 171.94 -, ZMR 1995, 223).

6

Diese zum Erschließungsbeitragsrecht entwickelte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt für das Kanalbaubeitragsrecht entsprechend. Neben dem Interesse an einer möglichst einheitlichen Rechtsprechung zum Beitragsrecht spricht hierfür vor allem der Gesichtspunkt, dass das Erschlossensein durch eine Straße und die Bevorteilung durch einen Kanal gleichermaßen an die bauliche Nutzbarkeit von Grundstücken anknüpfen und die soeben zum Erschließungsbeitragsrecht angeführten Rechtfertigungsgründe entsprechend auch im Kanalbaubeitragsrecht Geltung beanspruchen. Der beschließende Senat hat folglich Beitragsmaßstäbe, nach denen pro Vollgeschoss ein bestimmter Anteil der gesamten Grundstücksfläche in Ansatz gebracht wird, als grundsätzlich zulässig angesehen (Beschl. v. 2.5.1991 - 9 M 4630/91 -, dng 1991, 230 = Nds.Rpfl. 1992, 60 = NSt-N 1991, 203; Urt. v. 13.8.1991 - 9 L 274/89 - NSt-N 1991, 290 = dng 1991, 341; Urt. v. 27.1.1993 - 9 L 4763/91 -; Beschl. v. 19.10.1993 - 9 M 2240/93 -, Nds. Rpfl. 1994, 80 = KStZ 1994, 77 = dng 1993, 312 = OVGE 44, 371; Urt. v. 29.11.1996 - 9 L 1151/95 -; OVGE 46, 479, Beschl. v. 11.2.1997 - 9 M 3212/96 -). Nur für bestimmte Ausnahmefälle ist das Abstellen auf die Grundstücksfläche und die Zahl der Vollgeschosse als rechtlich bedenklich oder möglicherweise gar fehlerhaft angesehen worden. Dies geschah allerdings nicht wegen der von den Klägern kritisierten Berücksichtigung der gesamten Grundstücksfläche. Insoweit hat sich der Senat vielmehr in vollem Umfang der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angeschlossen. Bedenklich wird die Anwendung des Vollgeschossmaßstabs vielmehr in Entsorgungsgebieten, bei denen die jeweils zulässigen Grund- und Geschossflächenzahlen erheblich voneinander abweichen und daher das bloße Abstellen auf die Zahl der Vollgeschosse dazu führt, dass ein hinreichend enger Bezug zwischen beitragsrelevanter baulicher Nutzbarkeit und ungefährer Beitragshöhe entfällt. Hiervon kann nach der Senatsrechtsprechung allenfalls bei Grundflächenzahlen, die mehr als nur zwischen 0,2 und 0,5 differieren, ausgegangen werden (vgl. etwa Urt. des Senats v. 29.11.1996 - 9 L 1151/95 -, aaO). Das Vorliegen eines solchen Sachverhalts ist von den Klägern nicht entsprechend den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt worden. Denn in ihrer Antragsschrift wird nicht aufgezeigt, dass für das hier in Rede stehende Entsorgungsgebiet in einer nicht vernachlässigbaren Größe auch Grundflächenzahlen von (deutlich) mehr als 0,5 vorgesehen sind.

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Den Klägern kann nicht darin gefolgt werden, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden. Sie meinen, das Abstellen auf die gesamte Grundstücksfläche lasse unberücksichtigt, dass auf Teilen ihres Grundstücks wegen der bestehenden Baulinien und Baugrenzen nicht gebaut werden dürfe und für diese Flächen daher ein Anschlussvorteil nicht bestehe. Diese Kritik beruht auf einem fehlerhaften Verständnis der Vorteilsbemessung im Kanalbaubeitragsrecht. Wie bereits oben dargelegt, gilt regelmäßig nicht nur die baulich nutzbare Teilfläche, sondern die gesamte vom Bebauungsplan erfasste Grundstücksfläche als bevorteilt und damit berücksichtigungsfähig, weil dies wegen des engen Bezugs zum Baurecht und angesichts des Umstands angemessen ist, dass sich regelmäßig die Nutzung des gesamten Grundstücks - bei einer Wohnnutzung beispielsweise auch diejenige als Garten - den baulichen Anlagen zuordnen lässt. Die Kritik der Kläger verkennt darüber hinaus, dass die für ihr Grundstück geltenden Baugrenzen und Baulinien lediglich standortbestimmender und daher bezüglich des Ausmaßes der Nutzbarkeit letztlich untergeordneter Natur sind. Das Maß der auf ihrem Grundstück zulässigen baulichen Nutzung wird entscheidend durch die im Bebauungsplan festgesetzte Grundflächenzahl bestimmt, die nicht nur bei den Klägern, sondern - wie oben dargelegt -  fast immer dazu führt, dass Grundstücke nicht in vollem Umfang, sondern nur hinsichtlich bestimmter Teilflächen baulich nutzbar sind. Für die Grundstücke im Bereich des hier geltenden Bebauungsplans Nr. 12 gilt die Grundflächenzahl von 0,2. Sie bedeutet, dass bei allen von der Festsetzung betroffenen Grundstücken ein Fünftel der Grundstücksfläche bebaubar ist. Je größer ein Grundstück ist, desto größer ist also zugleich die bebaubare Fläche innerhalb des Baufensters. Die Ansicht der Kläger, sie müssten wegen ihrer großen Grundstücksfläche mehr zahlen als gleich oder stärker baulich nutzbare Grundstücke, ist falsch. Sofern die Kläger wegen ihrer verhältnismäßig großen Grundstücksfläche einen vergleichsweise höheren Beitrag zahlen als kleinere Grundstücke, wird dadurch der Vorteil abgegolten, dass sie wegen der Grundstücksgröße eine (bei Zugrundelegung der Grundflächenzahl von 0,2) größere Baulandfläche haben. Anhaltspunkte dafür, dass der Bebauungsplan Nr. 12 gegen das baurechtliche Abwägungsgebot verstoßen könnte, sind weder erkennbar noch substantiiert dargetan.

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Der Argumentation der Kläger liegt auch insofern ein fehlerhaftes Verständnis des Beitragsrechts zugrunde, als sie offensichtlich der Ansicht sind, bei einer Berücksichtigung nur derjenigen Teilflächen ihres Grundstücks, auf denen gebaut werden darf, hätten sie einen deutlich niedrigeren Beitrag zu zahlen. Diese Auffassung ist unzutreffend. Hätte der Beklagte - allerdings in rechtlich unzulässiger Weise - einen Maßstab gewählt, wonach (dann natürlich bei allen Grundstücken) nur bebaubare Grundstücksteilflächen zum Kanalbaubeitrag herangezogen werden, so hätte dies zur Folge, dass die insgesamt bestehende Beitragsfläche deutlich sinken und sich daher wegen des unveränderten Aufwands der pro Quadratmeter Beitragsfläche zu zahlende Beitragssatz stark erhöhen würde. Die Kläger müssten also bei einer geringeren berücksichtigungsfähigen Grundstücksfläche einen deutlich höheren Beitragssatz zahlen und würden folglich zu einem Kanalbaubeitrag herangezogen, der letztlich auf keinen Fall deutlich günstiger, möglicherweise sogar höher ist als der streitige Beitrag. Da dieser bei einer im Bereich eines Bebauungsplans liegenden Grundstücksfläche von über 3.000 qm "nur" 11.276,- DM beträgt, liegt er im Übrigen weit unter dem Beitrag, der in anderen Städten und Gemeinden durchschnittlich selbst für wesentlich kleinere Grundstücke gezahlt werden muss.