Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 29.01.2002, Az.: 8 K 884/98 Kl

Kindergeldanspruch für ein vermögendes behindertes Kind vor Vollendung dessen 27. Lebensjahrs; Auswirkungen eines eigenen Vermögens des Kindes auf den Kindergeldanspruch

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
29.01.2002
Aktenzeichen
8 K 884/98 Kl
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 30191
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2002:0129.8K884.98KL.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - AZ: VIII R 17/02

Fundstellen

  • DStRE 2002, 1174 (Volltext mit amtl. LS)
  • EFG 2002, 1180-1181

Amtlicher Leitsatz

Orientierungssatz: Kindergeld / Einkommensteuer

Vermögen eines behinderten Kindes steht einem Kindergeldanspruch nicht entgegen, wenn das Kind das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht die Festsetzung des Kindergeldes für die am 24.06.1980 geborene Tochter des Klägers mit Ablauf des Monats Juni 1998 aufgehoben und das Kindergeld für dieses Kind ab Juli 1998 auf 0 DM festgesetzt hat.

2

Mit Bescheid vom 7. September 1998 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass die Festsetzung des Kindergeldes für seine Tochter mit Ablauf des Monats Juni 1998 aufgehoben und das Kindergeld ab Juli 1998 auf 0 DM festgesetzt werde. Die Berücksichtigung seiner Tochter als behindertes Kind über das 18. Lebensjahr hinaus sei ausgeschlossen, weil das Kind aufgrund seines Sparguthabens von 130.000 DM in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt zunächst durch Verwertung dieses Vermögens zu bestreiten.

3

Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die vorliegende Klage. Der Kläger trägt vor, dass seine Tochter aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers seit ihrer Geburt schwerstbehindert - völlig bewegungsunfähig, inkontinent, blind etc. - sei, die Betreuung in seinem Haushalt erfolge und zwei Vollzeit-Pflegekräfte tätig seien. Der kommunale Haftpflichtversicherer des für die Behinderung verantwortlichen Krankenhauses habe Schadensersatz in Höhe von insgesamt 225.000 DM geleistet - 100.000 DM Schmerzensgeld und 125.000 DM materiellen Schadensersatz. Daraus resultiere das heutige Sparguthaben. Sofern materieller Schadensersatz geleistet worden sei, seien die Beträge dementsprechend für seine Tochter aufgewandt worden. Die noch vorhandenen 130.000 DM stellten letztlich die Schmerzensgeldzahlung zuzüglich Verzinsung dar. Entgegen der Auffassung der Beklagten müsste dieses Sparguthaben nicht als verwertbares Vermögen in Ansatz kommen.

4

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 7. September 1998 und die Einspruchsentscheidung vom 20. November 1998 aufzuheben.

5

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Sie verweist auf ihre Einspruchsentscheidung und weist lediglich ergänzend darauf hin, dass das Schmerzensgeld im Jahre des Zuflusses nicht als Bezüge im Sinne des EStG angesehen werde. In den Folgejahren wachse es jedoch dem Vermögen zu.

7

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird ergänzend auf die im Einspruchs- und Klageverfahren gewechselten Schriftsätze sowie die Kindergeldakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

8

Die Klage ist begründet.

9

Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird ein Kind, dass das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Das ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegen steht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt und deshalb seinen Lebensunterhalt sich selbst bestreiten kann (ständige Rechtsprechung; vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BStBl II 2000, 72 m.w.N.).

10

Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben. Die am 24.06.1980 geborene Tochter des Klägers ist seit ihrer Geburt aufgrund ihrer Behinderung - ausweislich des vorliegenden Schwerbehindertenausweises mit den Merkzeichen G aG H RF und Bl beträgt der Grad ihrer Behinderung 100% - unstreitig nicht in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Unstreitig verfügt sie auch nicht über andere Einkünfte und Bezüge, aus denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten könnte.

11

Zu Unrecht wendet die Beklagte ein, dass das Kind seinen Lebensunterhalt aufgrund seines Sparguthabens von 130.000 DM zunächst durch Verwertung dieses Vermögens bestreiten könne.

12

Entgegen der Finanzverwaltung in R 180 d Abs. 3 Satz 5 ESt-Handbuch und der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleiches in Bundessteuerblatt I 2000, 669 - DA 63.3.6.3.2 Abs. 6 - vertritt der erkennende Senat die Auffassung, dass das Kindesvermögen - hier das Sparguthaben von 130.203,37 DM - dem Kindergeldanspruch jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn das Kind - wie im Streitfall - das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Das ergibt sich aus dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Grundgesetz.

13

Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG in der ab dem Kalenderjahr 1996 geltenden Fassung wird die Berücksichtigung von Kindern, die noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet haben, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen lediglich davon abhängig gemacht, dass das Kind keine Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, erzielt hat, die die Betragsgrenzen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. Der Kindergeldanspruch für nicht behinderte Kinder, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, entsteht demnach unbeschadet der Höhe etwaigen Kindesvermögens. Ein sachlicher Grund, der eine Ungleichbehandlung behinderter und nicht behinderter Kinder hinsichtlich der Berücksichtigung von Kindesvermögen rechtfertigen würde, ist insoweit nicht erkennbar (vgl. hierzu Schmidt/Glanicker, EStG, 19. Aufl. 2000, § 32 Rdz. 51 am Ende; Jachmann in Kirchhof/Söhn, EStG, § 32 Rdnr. C 35; Kanzler in Hermann/Heuer/Raupach, EStG, § 32 Anm. 118; Finanzgericht Münster, Urteil vom 1. März 2001 - 12 K 5563/00 Kg - in EFG 2001, 759).

14

Soweit in den BFH-Urteilenvom 14. Juni 1996 III R 13/94 (BStBl II 1997, 173) undvom 12. November 1996 III R 53/95 (BFH/NV 1997, 343) ausgeführt wird, dass der Begriff "außer Stande sein, sich selbst zu unterhalten", dem Wortlaut des § 1602 Abs. 1 BGB entspreche, wonach der Unterhaltsberechtigte auch etwa vorhandenes eigenes Vermögen einzusetzen habe, ist dem entgegenzuhalten, das diese Rechtsprechung die Rechtslage nach dem EStG 1990 betrifft, das die Berücksichtigung eigener Einkünfte und Bezüge nicht behinderter Kinder noch nicht vorsah, der BFH mithin über die durch das EStG 1996 insoweit geänderte Rechtslage noch nicht zu entscheiden hatte.

15

Selbst wenn jedoch verwertbares Kindesvermögen bei der Anwendung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG grundsätzlich zu berücksichtigen wäre, wäre dies nach Auffassung des erkennenden Senats im Streitfall unangemessen, weil es sich bei dem Vermögen der Tochter des Klägers um Schadensersatz und Schmerzensgeld handelt, das der kommunale Haftpflichtversicherer des verantwortlichen Krankenhauses für die Behinderung und nicht für den Unterhalt des Kindes geleistet hat. Schadensersatz und Schmerzensgeld sind auf den Ausgleich der Schäden gerichtet, die dem Verletzten zugefügt wurden. Durch das Schmerzensgeld soll der Verletzte in die Lage versetzt werden, sich Erleichterungen und andere Annehmlichkeiten an Stelle derer zu verschaffen, deren Genuss ihm durch die Verletzung unmöglich gemacht wurde und darüber hinaus auch zu einer Genugtuung führen (vgl. Thomas in Palandt, Kommentar zum BGB, 50. Aufl., Rdnr. 4 zu § 847). Sinn und Zweck des Schadenersatzes und des Schmerzensgeldes war damit nicht die Sicherung des Unterhalts der Tochter des Klägers.

16

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

17

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen. Zum einen widerspricht die Auffassung des Senats der Finanzverwaltung in R 180 d Abs. 3 Satz 5 ESt-Handbuch und Ziff. 63.3.6.3.2 Abs. 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleiches. Zum anderen ist höchstrichterlich nicht entschieden, ob und in welcher Höhe im Rahmen des § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG das Vermögen des behinderten Kindes zu berücksichtigen ist.