Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 28.01.2015, Az.: L 11 AS 261/14 B
Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Leistungen für Unterkunft und Heizung; Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren; Eilbedürfnis bei Bedarfsunterdeckung und Mietschulden
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 28.01.2015
- Aktenzeichen
- L 11 AS 261/14 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2015, 13637
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2015:0128.L11AS261.14B.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 07.02.2014 - AZ: S 30 AS 32/14 ER
Rechtsgrundlagen
- Art. 1 Abs. 1 GG
- Art. 20 Abs. 1 GG
- § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
Fundstellen
- Breith. 2015, 801-804
- NZS 2015, 351
- info also 2015, 280
Redaktioneller Leitsatz
1. In Eilverfahren über laufende KdU-Leistungen dürfen keine überhöhten Anforderungen an den Anordnungsgrund gestellt werden. Schließlich verletzt im Bereich der Existenzsicherung jede oberhalb einer etwaigen Bagatellgrenze liegende Bedarfsunterdeckung den Kernbereich des nach Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich geschützten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
2. Wird der einstweilige Rechtsschutz auf die Fallgestaltungen verengt, in denen bereits eine Kündigungslage entstanden bzw. eine Räumungsklage erhoben worden ist, wird hiermit im Ergebnis Rechtsschutz verweigert.
3. Es gibt keinen allgemeinen Rechtssatz, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung über laufende KdU ausnahmslos am Fehlen eines Anordnungsgrundes scheitert, wenn nicht bereits eine Wohnungskündigung droht.
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 7. Februar 2014 wird aufgehoben, soweit die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist.
Den Antragstellern wird für das Verfahren S 30 AS 32/14 ER (Sozialgericht Lüneburg) Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin H., I., bewilligt.
Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beschwerde richtet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das von den Antragstellern vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg geführte Eilverfahren S 30 AS 32/14 ER.
Die Antragsteller hatten zuletzt von Dezember 2005 bis April 2013 (mit kurzzeitigen Unterbrechungen) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) bezogen. Bereits in den letzten Bewilligungsbescheiden hatte der Antragsgegner nicht mehr die gesamten tatsächlichen, sondern nur noch die von ihm als angemessen angesehenen Kosten der Unterkunft (KdU) übernommen.
Für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 2014 bewilligte der Antragsgegner erneut SGB II-Leistungen. Bei der Berechnung des Leistungsbetrags wurde anstelle der tatsächlichen Brutto-Kaltmiete von 820,00 Euro (einschließlich des auf die ebenfalls in der Wohnung lebenden, jedoch nicht zur Bedarfsgemeinschaft zählende Frau J. K. entfallenden Kostenanteils) wiederum lediglich der vom Antragsgegner für eine dreiköpfige Bedarfsgemeinschaft als angemessen angesehene Höchstbetrag von 511,00 Euro berücksichtigt (Bescheid vom 30. Dezember 2013, gegen den die Antragsteller am 29. Januar 2014 Widerspruch einlegten).
Insbesondere wegen der nach Auffassung der Antragsteller zu niedrigen Leistungen für KdU haben sie am 22. Januar 2014 beim SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung haben sie u.a. vorgetragen, dass das dem Bewilligungsbescheid zugrunde liegende Wohnungsmarktkonzept des Antragsgegners nicht den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entspreche. Es sei mindestens eine Bruttokaltmiete in Höhe von 575,30 Euro zu übernehmen (Tabellenwert für einen 3-Personenhaushalt nach § 12 Wohngeldgesetz zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 %).
Das SG hat die Gewährung von PKH mit der Begründung abgelehnt, dass der Rechtsverfolgung keine hinreichende Erfolgsaussicht zukomme. Es fehle an einem Anordnungsgrund, weil keine Wohnungslosigkeit drohe. Bislang habe der Vermieter noch keine Räumungsklage erhoben (Beschluss vom 7. Februar 2014).
Hiergegen richtet sich die von den Antragstellern am 3. März 2014 eingelegte Beschwerde. Sie haben u.a. darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats für die Bejahung eines Anordnungsgrunds nicht erforderlich sei, dass der Vermieter bereits Räumungsklage erhoben habe (Beschluss des Senats vom 21. November 2011 - L 11 AS 1063/11 B ER).
Während des laufenden Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner dem Rechtsschutzbegehren der Antragsteller teilweise Rechnung getragen, indem er die für die Monate Januar bis März 2014 gewährten Leistungsbeträge um 227,45 bis 267,60 Euro pro Monat erhöht hat. Bei dieser Neuberechnung wurden als KdU 712,50 Euro (einschließlich Heizkosten) berücksichtigt (Gesamtkosten der Wohnung einschließlich Heizkosten und Warmwasseranteil i.H.v. 950,00 Euro vermindert um den auf Frau J. K. entfallenden Mietanteil von 237,50 Euro; vgl. im Einzelnen: Teilabhilfebescheid vom 14. April 2014).
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig. Der Wert des Beschwerdegegenstands beträgt 1.619,16 Euro (vgl. hierzu: Schriftsatz der Antragsteller vom 14. März 2014) und liegt damit oberhalb des für die Statthaftigkeit der Beschwerde maßgeblichen Grenzwerts von 750,00 Euro (vgl. hierzu: § 172 Abs 3 Nr 2 Buchstabe b) i.V.m. § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Die Beschwerde ist auch begründet. Die nach wie vor im laufenden SGB II-Leistungsbezug stehenden Antragsteller können die Kosten der Prozessführung weder vollständig noch teilweise oder in Raten selbst tragen. Entgegen der Auffassung des SG durfte PKH auch nicht wegen fehlender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung versagt werden (vgl. zu dieser Voraussetzung für die Gewährung von PKH: § 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Die Erfolgsaussicht der erstinstanzlichen Rechtsverfolgung bestimmt sich nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG. Danach kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist, insbesondere auch ein Eilbedürfnis vorliegt (Anordnungsgrund). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG i.v.m. § 920 Abs 2 ZPO).
Dass den Antragstellern ein Anordnungsanspruch zur Seite stand, ergibt sich bereits aus dem Teilabhilfebescheid vom 14. April 2014, mit dem der Antragsgegner u.a. für KdU deutlich höhere Leistungen gewährt hat. Entgegen der Auffassung des SG bestand auch ein Anordnungsgrund.
In der Rechtsprechung ist umstritten, welche Anforderungen an den Anordnungsgrund in einem Streit um SGB II-Leistungen für laufende KdU zu stellen sind. So hält das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen - wie auch das SG - einen Anordnungsgrund (im Sinne eines Eilbedürfnisses) erst dann für gegeben, wenn Obdachlosigkeit droht bzw. der Vermieter Räumungsklage erhoben hat (etwa: Beschluss vom 10. September 2014 - L 7 AS 1385/14 B ER, Rn 18 - zitiert nach juris (wonach dies die Rechtsprechung aller Senate des LSG Nordrhein-Westfalen ist); ähnlich: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. November 2010 - L 5 AS 2025/10 B ER -; LSG Bayern, Beschluss vom 02. Februar 2012 - L 11 AS 932/11 B PKH -; LSG Hessen, Beschluss vom 28. März 2014 - L 7 AS 802/13 B ER; wohl auch: 18. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Juli 2012 - L 18 AS 1867/12 B ER). Etwas geringere Anforderungen stellt z.B. der 10. Senat des LSG Berlin-Brandenburg, der einen Anordnungsgrund bejaht, wenn aufgrund von Mietrückständen die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung vorliegen, auch wenn eine Kündigung noch nicht ausgesprochen bzw. eine Räumungsklage noch nicht erhoben worden ist (Beschluss vom 22. Juli 2014 - L 10 AS 1393/14 B ER). Demgegenüber hat der erkennende Senat im einstweiligen Rechtsschutz höhere Leistungen für laufende KdU wiederholt auch in Fällen zugesprochen, in denen die Voraussetzungen für eine vermieterseitige Kündigung wegen Mietrückständen noch nicht vorlagen (etwa: Beschluss des Senats vom 21. Oktober 2011 - L 11 AS 1063/11 B ER).
Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsauffassung fest, dass in Eilverfahren über laufende KdU-Leistungen keine überhöhten Anforderungen an den Anordnungsgrund gestellt werden dürfen. Schließlich verletzt im Bereich der Existenzsicherung jede oberhalb einer etwaigen Bagatellgrenze liegende Bedarfsunterdeckung den Kernbereich des nach Art 1 Abs 1, Art 20 Abs 1 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich geschützten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. hierzu: Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 u.a., BVerfGE 125, 175, Rn 133 ff; vgl. zur Diskussion um eine sog. "Bagatellgrenze" in SGB II-Verfahren etwa: BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 - B 14 AS 30/13 R -, SozR 4-4200 § 21 Nr 18; Urteil vom 12. Juli 2012 - B 14 AS 35/12 R -, SozR 4-1500 § 54 Nr 28; LSG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 30. März 2009 und 22. April 2013 - L 5 B 121/08 AS ER und L 5 AS 341/13 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. Februar 2010 - L 7 AS 1446/09 B ER). Versagt ein Leistungsträger zu Unrecht SGB II-Leistungen, so dass es bei dem Betroffenen zu einer Bedarfsunterdeckung kommt, folgt in aller Regel allein hieraus das erforderliche Eilbedürfnis (Anordnungsgrund). Auch beim Anspruch auf Übernahme der angemessenen KdU ist der Rechtsgewährungsanspruch nach Art 19 Abs 4 GG nicht auf den Betrag begrenzt, durch den eine vermieterseitige außerordentliche Kündigung wegen Mietrückständen gerade noch vermieden werden kann, sondern erstreckt sich auf den vollen Betrag der angemessenen KdU i.S.d. § 22 SGB II (als Teil des vom Staat zu gewährleistenden menschenwürdigen Existenzminimums). Wird der einstweilige Rechtsschutz auf die Fallgestaltungen verengt, in denen bereits eine Kündigungslage entstanden bzw. eine Räumungsklage erhoben worden ist, wird hiermit im Ergebnis Rechtsschutz verweigert (so auch: 7. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Juni 2009 - L 7 AS 456/09 B ER, Rn 8 - zitiert nach juris). Es ist den Betroffenen gerade nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund nach §§ 543, 569 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf die nachfolgende Beseitigung der Kündigung gemäß § 569 Abs 3 Nr 2 BGB zu hoffen (16. Senat des LSG Bayern, Beschluss vom 19. März 2013 - L 16 AS 61/13 B ER -, Rn 30 (zitiert nach juris); ähnlich: 7. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen vom 23. Juni 2009, aaO., wonach es einen schwerwiegenden Wertungswiderspruch darstellt, wenn ein Gericht von einem Bürger, der Rechtsschutz gegen eine rechtswidrige Behördenentscheidung sucht, verlangt, dass dieser sich gegenüber einem Dritten vertragswidrig verhält, indem er seine vertraglich geschuldete Miete nicht vollständig zahlt und damit die Kündigung des Mietverhältnisses provoziert; im Ergebnis ebenso: Conradis in: LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, Anhang Verfahren Rn 139).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom SG angeführten Beschluss des 9. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen vom 4. November 2013 - L 9 AS 1121/13 B -. Diese Entscheidung betraf nicht - wie im vorliegenden Fall - laufende KdU, sondern Mietschulden nach § 22 Abs 8 SGB II, deren Übernahme tatbestandlich voraussetzt, dass dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Soweit der 6. und 13. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen in Einzelfallentscheidungen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes u.a. damit begründet haben, dass eine Wohnungskündigung noch nicht gedroht habe und deshalb kein Anordnungsgrund vorliege (etwa: Beschlüsse vom 20. August 2012 - L 6 AS 835/12 B ER - sowie vom 18. April 2014 - L 13 AS 109/13 B ER -), hat es sich hierbei jeweils nur um ein Begründungselement von mehreren gehandelt. Der erkennende Senat kann diesen Entscheidungen nicht den allgemeinen Rechtssatz entnehmen, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung über laufende KdU ausnahmslos am Fehlen eines Anordnungsgrundes scheitert, wenn nicht bereits eine Wohnungskündigung droht. Der neueren Rechtsprechung des 7. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen, wonach allein offene Unterkunftskosten noch keinen Anordnungsgrund begründen sondern erforderlich ist, dass unmittelbar negative Konsequenzen für die Beibehaltung der Unterkunft, z.B. eine Wohnungslosigkeit, drohen (Beschluss vom 22. Mai 2014 - L 7 AS 389/14 B ER), schließt sich der erkennende Senat aus den genannten Gründen nicht an.
Ob bei Zweifeln am Vorliegen eines rechtsverbindlichen bzw. tatsächlich gelebten Mietverhältnisses (insbesondere unter Verwandten) strengere Voraussetzungen an den Anordnungsgrund zu stellen sind (vgl. hierzu etwa: Beschluss des 7. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen vom 23. Juni 2009, aaO.; ähnlich für das Sozialhilferecht: 8. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. September 2012 - L 8 SO 305/12 B ER), kann im vorliegenden Verfahren offen gelassen werden. An der sich aus dem Mietvertrag ergebenden Zahlungspflicht der Antragsteller bestehen keine ernstlichen Zweifel.
Nach alledem lag bei der im erstinstanzlichen Eilverfahren streitbefangen erheblichen Bedarfsunterdeckung (hier: im Bereich der KdU) der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund vor. PKH durfte somit nicht wegen fehlender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung abgelehnt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a SGG i.V.m. § 127 Abs 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).