Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.01.2015, Az.: L 4 KR 99/12
Einbehalt von Krankenhausvergütungen unter Berufung auf Anschubfinanzierungen für integrierte Versorgung; Wirtschaftliche Erforderlichkeit der einbehaltenen Beträge
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.01.2015
- Aktenzeichen
- L 4 KR 99/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 22293
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2015:0127.L4KR99.12.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - AZ: S 67 KR 1363/10
Rechtsgrundlagen
- § 140d SGB V
- §§ 140a ff. SGB V
Redaktioneller Leitsatz
1. In Bezug auf die Prüfung der wirtschaftlichen Erforderlichkeit einbehaltener Beträge ist eine Zuordnung der von der gesetzlichen Krankenkasse geschätzten voraussichtlichen Ausgaben für einen bestimmten abgeschlossenen IV-Vertrag zum Einbehalt gegenüber einem konkreten Krankenhaus erforderlich; denn nur so ist die wirtschaftliche Berechtigung des Einbehalts gegenüber dem Krankenhaus feststellbar.
2. Genauso wie eine gerichtliche Kontrolle der inhaltlichen Vorgaben der §§ 140a ff. SGB V stattfindet, so dass insoweit eine Darlegungs- und Beweislast der gesetzlichen Krankenkassen besteht, muss dies auch für die Prüfung der wirtschaftlichen Erforderlichkeit der Einbehalte in Bezug auf die geschätzte Anschubfinanzierung erfolgen, wobei auch hier die Darlegungs- und Beweislast bei den gesetzlichen Krankenkassen liegt.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 26.628,22 Euro festgesetzt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wehrt sich gegen die Einbehalte von Krankenhausvergütungen, die die Beklagte unter Berufung auf Anschubfinanzierungen für integrierte Versorgung vorgenommen hat.
Die Klägerin betreibt ein nach § 108 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) zugelassenes Krankenhaus, die Beklagte ist eine gesetzliche Krankenkasse. Die Klägerin versorgte Versicherte der Beklagten mit stationärer Krankenhaus-Behandlung, u.a. auch im Kalenderjahr 2006.
Bei Krankenhaus-Vergütungsrechnungen in der Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2006 nahm die Beklagte Kürzungen in einer Gesamthöhe von 26.628,22 Euro vor und machte zur Begründung Einbehalte zur Anschubfinanzierung nach § 140d SGB V (i.d.F. bis zum 31. Dezember 2006; a.F.) geltend.
Die Klägerin forderte die Beklagte vorgerichtlich erfolglos zur Zahlung auf. (Dabei legte die Beklagte keinen der zur Anschubfinanzierung in Bezug genommenen Verträge zur integrierten Versorgung vor, Anm. des Senats).
Am 29. Dezember 2010 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover auf Zahlung rückständiger Krankenhaus-Vergütung erhoben. Zur Begründung hat die Klägerin geltend gemacht, es sei unstreitig, dass in den von den Einbehalten betroffenen Behandlungsfällen jeweils stationäre Behandlungsbedürftigkeit nach § 39 SGB V gegeben, die jeweils vorgenommene Behandlung abrechnungsfähig gewesen sei, der Anspruch auf Krankenhaus-Vergütung daher vollumfänglich entstanden und korrekt abgerechnet worden sei.
Streitig sei hingegen das Vorliegen der Voraussetzungen der Einbehalte nach § 140d SGB V. Die Voraussetzungen der Rechtsnorm lägen nicht vor, da von der Beklagten keine Verträge vorgelegt worden seien, die die gesetzlichen Voraussetzungen der §§ 140a ff. SGB V erfüllten und nicht nachgewiesen sei, dass die einbehaltenen Beträge erforderlich gewesen seien im Sinne der Anschubfinanzierung: Zu den Vertragsinhalten bestreite die Klägerin, dass die Beklagte Verträge mit Dritten geschlossen habe, die entweder eine sektorenübergreifende oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung sicherstellten. Bestritten werde überdies, dass die in diesen (etwaigen) Verträgen vereinbarte Vergütungshöhe den gesetzlichen Anforderungen entspreche. Eine Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140a bis d SGB V in den von der Beklagten behaupteten Verträgen sei der Klägerin überdies nicht möglich, da die Beklagte ihrer Nachweispflicht im Sinne des Vorlegens der Verträge nicht nachgekommen sei. Die Behauptung der Beklagten, sie habe ihrer Nachweispflicht genügt durch die Anmeldung der Verträge bei der BQS (Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH), sei rechtlich unzutreffend. Denn die BQS nehme keine Inhaltsprüfung der Verträge vor, sondern allein eine Plausibilitätsprüfung der von der jeweiligen Krankenkasse beabsichtigten Einbehalte: die Verträge würden auch gar nicht vollumfänglich der BQS vorgelegt.
In wirtschaftlicher Hinsicht sei nicht nachgewiesen, dass die von der Beklagten geltend gemachten Einbehalte erforderlich seien zur Anschubfinanzierung der von der Beklagten in Bezug genommenen (angeblichen) Verträge zur integrierten Versorgung. Unbekannt sei insbesondere, ob die einbehaltenen Geldmittel tatsächlich auch für die Zwecke der Anschubfinanzierung verwendet worden seien. Auch hier genüge die Beklagte ihrer Nachweispflicht nicht, wenn sie sich auf ihre Meldung an die BQS berufe. Denn die Meldung an die BQS löse nicht die notwendige Prüfung durch einen unabhängigen Dritten aus. Zur Glaubhaftmachung ihrer Forderung hat die Klägerin eine Übersicht der einzelnen von der Beklagten vorgenommenen Rechnungskürzungen vorgelegt.
Die Beklagte hat vor dem SG erwidert, dass die Voraussetzungen der Einbehalte nach § 140d SGB V erfüllt seien. Sämtliche der von der Beklagten abgeschlossenen Verträge zur integrierten Versorgung erfüllten die Voraussetzungen nach § 140a ff. SGB V. Eine Vorlage der Verträge sei nicht möglich. Zum einen könnten die Verträge im Original nicht vorgelegt werden, soweit die Beklagte nicht selbst Vertragspartnerin sei, sondern Drittverträgen beigetreten sei. Zum anderen würde die Vorlage der Verträge den berechtigten Wettbewerbsschutz der Leistungserbringer als Vertragspartner verletzen, da Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse Mitwettbewerbern bekannt würden. Entsprechende Beweisantritte der Klägerin seien deshalb als Ausforschungsbeweis zu bewerten. Folgerichtig sähen auch die §§ 140a ff. SGB V keine gesetzlich normierte Vorlagepflicht vor.
In wirtschaftlicher Hinsicht sei der Nachweis der Erforderlichkeit der einbehaltenen Beträge zur Anschubfinanzierung durch die Meldung aller Verträge zur BQS erfolgt. Dabei seien angegeben worden die einbehaltenen Beträge für die Region der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen bzw. für die Krankenhäuser in Niedersachen, die verausgabten Beträge für Verträge der integrierten Versorgung in denselben Zuständigkeitsbereichen sowie sogar das Überschreiten der Ausgaben gegenüber den Einbehalten. Dabei sei ergänzend darauf hinzuweisen, dass den gesetzlichen Krankenkassen bei der Gestaltung der Anschubfinanzierung ein erheblicher Prognosespielraum eingeräumt werde. Ein unwirtschaftliches und damit rechtswidriges Einbehalten von Krankenhaus-Vergütung verbiete sich im Übrigen bereits durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und würde durch die Aufsichtsbehörden auch beanstandet werden. Zur Glaubhaftmachung der Berechtigung ihrer Einbehalte hat die Beklagte eine Übersicht vorgelegt, aus der sich u.a. ergibt o die prozentuale Höhe der Rechnungskürzungen, nämlich o ab 1.Januar 2006: 0,04 % o ab 1. Februar 2006: 0,28 % o ab 1. Juli 2006: 0,30 %, für die jeweils geltend gemachten Verträge (Benennung der Verträge, keine Vorlage) o das geschätzte Vergütungsvolumen in Euro, getrennt für die Jahre 2006, 2007 und 2008, für 2006 nur für 3 von 15 Verträgen, o die tatsächlich verwendeten Finanzmittel in Euro, getrennt für die Jahre 2006, 2007 und 2008.
Dabei ist für den Vertrag BQS 07806 - "Hüft-Knie-TEP Hannover" - ein vorab geschätztes Vergütungsvolumen für die Jahre 2006 bis 2008 angegeben in Höhe von "0,00 Euro" und für den Vertrag tatsächlich verwendete Finanzmittel für das Jahr 2006 in Höhe von "228.673,58 Euro").
Das SG hat die Beklagte zunächst mit zwei Verfügungen (vom 2. Februar 2011 und 10. Februar 2011) zur Vorlage der von der Beklagten geltend gemachten Verträge zur integrierten Versorgung aufgefordert und zur Begründung darauf hingewiesen, dass die Sozialgerichte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei Rechnungseinbehalten zur Prüfung der inhaltlichen Mindestvoraussetzungen der in Bezug genommenen Verträge verpflichtet, wozu diese bei Gericht vorzulegen seien. Daraufhin hat die Beklagte die sog. BKK-Endoprothetik-Vereinbarung/Region Hannover I vorgelegt, ein so bezeichneter "Vertrag zur integrierten Versorgung gemäß § 140a bis d SGB V" (zwischen dem Klinikum J. GmbH, der K. in L. und dem BKK Landesverband Niedersachsen-Bremen). Die Unterschrift der Vertragspartner datierte vom Juni bzw. Juli 2007, die "Beitrittserklärung" der Beklagten datierte vom 6. Juni 2005. Zur Begründung hat die Beklagte ausgeführt, dass der Vertrag bereits im Jahr 2005 geschlossen worden sei und die Fassung seit dem 1. Januar 2007 allein Veränderungen in den Vergütungshöhen betreffe.
Nachdem das SG abermals zur Vorlage der den Streitzeitraum 2006 betreffenden Verträge aufgefordert hatte, hat die Beklagte sodann die sog. BKK-Endoprothetik-Vereinbarung/Region Hannover I vorgelegt, die von den Vertragspartnern im März 2005 unterzeichnet worden ist, sowie die BKK-Endoprothetik-Vereinbarung/Region Hannover I in der Fassung vom 1. Januar 2006, die von den Beteiligten im Mai bzw. Juni 2006 unterzeichnet worden ist. Dabei hat die Beklagte ausdrücklich erklärt, die Vorlage der Verträge erfolge unter Protest gegen die Beweislast.
Die Klägerin hat auf die Vorlage der BKK-Endoprothetik-Vereinbarung/Region Hannover I aus dem Jahr 2005 bzw. 2006 dahingehend Stellung genommen, dass die Beklagte nach einer Auskunft der BQS für die bei der Klägerin vorgenommenen Kürzungen/Einbehalte nicht lediglich einen, sondern drei Verträge zur integrierten Versorgung angegeben habe. Dann aber habe die Beklagte ihrer Nachweispflicht immer noch nicht genügt, die von ihr in Bezug genommenen Verträge zur Rechtfertigung der Rechnungskürzungen vollumfänglich vorzulegen. Darüber hinaus lasse der vorgelegte Vertrag nicht die Kalkulationen des voraussichtlichen Vergütungsumfangs erkennen, der zur Prüfung der Erforderlichkeit des Einbehalts (in Höhe von ca. 26.000,- Euro) nötig wäre.
Das SG hat in einer weiteren Verfügung die Beklagte darauf hingewiesen, dass nach einer jüngeren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH; vom 11. Juni 2009, Az.: C-300/07, Fall M.) Verträge zur integrierten Versorgung ausschreibungspflichtig sein könnten, weshalb ein fehlendes Vergabeverfahren nach § 13 Satz 6 Vergabeverordnung (VgV) in der damals maßgeblichen Fassung zur Nichtigkeit der abgeschlossenen Verträge führen würde.
Die Beklagte hat zum rechtlichen Hinweis des SG dahingehend Stellung genommen, es sei zwar keine öffentliche Ausschreibung des vorgelegten Vertrages zur integrierten Versorgung erfolgt, da im Jahr 2006 die Rechtslage insoweit noch ungeklärt gewesen sei, weil die Klärung erst durch die EuGH-Entscheidung im Jahre 2009 erfolgt sei. Jedenfalls aber führe ein Verstoß gegen § 13 Satz 6 VgV a.F. nicht zu einer Nichtigkeit des Vertrages.
Das SG hat mit Urteil vom 12. Dezember 2011 die Beklagte vollumfänglich zur Zahlung verurteilt (26.628,22 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. Januar 2007) und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt, dass der Einbehalt von Krankenhaus-Vergütung durch die Beklagte gegenüber der Klägerin nicht nach § 140d SGB V berechtigt gewesen sei. Zwar seien die Verträge nicht nichtig nach § 13 Satz 6 VgV in der bis zum 23. April 2009 gültigen Fassung, weil diese Norm insoweit einschränkend auszulegen sei (wird im Einzelnen ausgeführt). Daneben könne das Gericht jedoch nicht feststellen, ob die vorgenommenen Rechnungskürzungen gerade aufgrund des von der Beklagten vorgelegten Vertrages erfolgt seien. Denn das Gericht müsse die Rechnungskürzungen einzelnen Verträgen zuordnen können. Dies sei erforderlich, weil die Gerichte die Wirksamkeit der geschlossenen Verträge bzw. die Voraussetzungen des § 140d SGB V und damit die Berechtigung zur Rechnungskürzung überprüfen müssten. Ergäbe sich bei einer solchen Überprüfung, dass ein Vertrag nicht hätte zur Rechnungskürzung herangezogen werden dürfen, so seien die aufgrund des betreffenden Vertrages einbehaltenen Mittel an das Krankenhaus auszuzahlen. Die Zuordnung der Rechnungskürzungen zu den einzelnen Verträgen sei daher unabdingbare Voraussetzung für die Prüfung des Gerichts. Solange nicht sämtliche Verträge, aufgrund derer Rechnungskürzungen vorgenommen worden seien, vorgelegt und die einzelnen Verträge und Rechnungskürzungen einander zugeordnet würden, könne eine ordnungsgemäße Prüfung nicht erfolgen.
Gegen das ihr am 7. Februar 2012 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. Februar 2012 eingelegte Berufung der Beklagten, mit der sie ergänzend geltend macht, dass nach der bereits dem SG vorgelegten Übersicht der für den in Rede stehenden und vorgelegten Vertrag aufgewendete Mitteleinsatz in Höhe von ca. 228.000,- Euro weit über dem gegenüber der Klägerin vorgenommenen Einbehalt liege, so dass es keiner Vorlage weiterer Verträge bedürfe.
Die Klägerin hat hierauf erwidert, die Beklagte sei nach wie vor nicht ihrer Darlegungs- und Beweislast zur Rechtfertigung der vorgenommenen Einbehalte nachgekommen. Es lägen weder sämtliche, von der Beklagten in Bezug genommenen Verträge zur integrierten Versorgung vor noch habe die Beklagte Kalkulationen vorgelegt, aus denen sich die geschätzten Aufwendungen für die Verträge ergäben, in deren Höhe die Einbehalte hätten vorgenommen werden dürfen. Die Vorlage weiterer Verträge im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens sei inzwischen auch ausgeschlossen, da die Beklagte durch das SG wirksam gemäß § 106a Sozialgerichtsgesetz (SGG) präkludiert worden sei. Daneben habe eine Einsichtnahme in die Verwaltungsakte der Beklagten (im gerichtlichen Verfahren, Akteneinsicht) ergeben, dass die Beklagte nach ihrer eigenen Übersicht für das Jahr 2006 nicht nur einen, sondern insgesamt 15 Verträge für die Region Niedersachsen abgeschlossen habe, die - mit Ausnahme der BKK-Endoprothetik-Vereinbarung/Region Hannover I - weder der Klägerin noch dem Gericht bislang zur Verfügung gestellt worden seien. Auch sei nach der eigenen Übersicht der Beklagten nicht erklärlich, warum die Einbehalte im Jahr 2006 gestuft erfolgt seien, nämlich von 0,04 % (ab 01.01.) über 0,28 % (ab 01.02.) bis hin zu 0,30 % (ab 01.07.2006). Nicht näher erklärlich seien auch die von der Beklagten für den vorgelegten Vertrag notierten tatsächlich verwendeten Finanzmittel in Höhe von ca. 228.000,- Euro. Nachweise hierzu fehlten nach wie vor. Und schließlich und vor allem ergebe sich aus den eigenen Übersichten der Beklagten, dass für die Jahre 2006 bis 2008 ein "vorab geschätztes Vergütungsvolumen in Euro" von "0,00" zugrunde gelegt worden sei, woraus sich gerade nicht eine Rechtfertigung zur Vornahme von Einbehalten zur Anschubfinanzierung ergebe.
Die Beklagte macht mit Schriftsatz vom 2. Januar 2014 geltend, sie "berufe sich nicht mehr länger auf die Endoprothetik-Vereinbarung mit der Klinik J. in Ansehung des Urteils des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20.02.2013 (L 1 KR 33/11)". In dem Urteil hat der 1. Senat des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen Endoprothetik-Verträge des BKK Landesverbandes mit verschiedenen Kliniken inhaltlich überprüft und ist zu der Entscheidung gekommen, dass von den vorgelegten mehreren Verträgen überhaupt nur wenige Verträge den zeitlichen Geltungsrahmen der dort in Rede stehenden Einbehalte erfassten und von diesen wenigen Verträgen keiner den gesetzlichen Voraussetzungen der §§ 140a ff. SGB V entspreche. Denn die Verträge stellten allein eine bloße Ausgestaltung der Regelversorgung dar, beinhalteten aber nicht eine Neuregelung im Sinne der Sektorenüberschreitung oder der interdisziplinär-fachübergreifenden Versorgung, wie sie von der Rechtsprechung des BSG gefordert werde.
Stattdessen beruft sich die Beklagte nunmehr auf insgesamt 17 weitere Verträge, die sie der BQS gemeldet habe. Hierzu legt sie einen Aktenordner mit insgesamt über 650 Seiten vor, die - zwar paginiert, aber ohne detaillierte Inhaltsübersicht - die gegenüber der Klägerin vorgenommenen Einbehalte stützen sollen.
Die Beklagte beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 12. Dezember 2011 aufzuheben, 2. die Klage der Klägerin abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält an ihrem bisherigen Vorbringen fest und macht ergänzend geltend, dass ein Wechsel der zur Begründung der vorgenommenen Einbehalte nach § 140d SGB V in Bezug genommenen Verträge zur integrierten Versorgung unzulässig sei, erst recht im Sinne einer "Rückwirkung" durch Vorlage erst im gerichtlichen Verfahren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte der Beklagten, einen Hefter der Klägerin sowie auf einen von der Beklagten vorgelegten Aktenordner Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von mündlicher Verhandlung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143 ff. SGG statthaft und zulässig.
Die Berufung ist jedoch unbegründet.
Die Klägerin kann von der Beklagten die Zahlung der Streitsumme einschließlich Zinsen beanspruchen.
Der Zahlungsanspruch ist begründet, weil die Beklagte die vorgenommenen Einbehalte in Höhe der Streitsumme nicht auf § 140d SGB V i.V.m. §§ 140a ff. SGB V stützen kann. Die Voraussetzungen der Vorschriften liegen nicht vor.
Das SG hat die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, richtig angewendet, die vorliegende Aktenlage, soweit sie dem SG vorlag, überzeugend gewürdigt und ist nach alledem zu dem richtigen Ergebnis gelangt, dass der Zahlungsanspruch der Klägerin uneingeschränkt besteht, weil die Voraussetzungen der §§ 140a bis d SGB V nicht vorliegen. Wegen der Einzelheiten der Begründung, der sich der erkennende Senat anschließt, wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des SG Bezug genommen und von einer abermaligen Darstellung abgesehen.
Insbesondere tritt der erkennende Senat der rechtlichen Beurteilung des SG bei, wonach in Bezug auf die Prüfung der wirtschaftlichen Erforderlichkeit der einbehaltenen Beträge eine Zuordnung der von der gesetzlichen Krankenkasse geschätzten voraussichtlichen Ausgaben für einen bestimmten abgeschlossenen IV-Vertrag zum Einbehalt gegenüber einem konkreten Krankenhaus erforderlich ist. Denn nur so ist - wie hier im Streitfall - die wirtschaftliche Berechtigung des Einbehalts gegenüber dem - klägerischen - Krankenhaus feststellbar. Nur durch diese konkrete Zuordnung könnte ein Gericht sowohl die inhaltliche Übereinstimmung des konkreten Vertrages mit §§ 140a ff. SGB V überprüfen als auch die wirtschaftliche Erforderlichkeit der Höhe der sich in Bezug aus diesem IV-Vertrag ergebenden voraussichtlichen Kosten und daraus abgeleiteten Einbehalte überprüfen. Würde sich - wie gerade auch vorliegend bzgl. der vor dem SG vorgelegten Endoprothetik-Vereinbarung - die inhaltliche Rechtswidrigkeit des IV-Vertrages ergeben, könnte die Krankenkasse nicht andere Verträge - wie vorliegend im Berufungsverfahren - "ersatzweise" zur Prüfung stellen.
Nur so wäre z.B. auch ausgeschlossen, dass bei gerichtlicher Prüfung etwa eine erhebliche Anzahl der von einer gesetzlichen Krankenkasse geschlossenen IV-Verträge inhaltlich für rechtswidrig erklärt würden und die wenigen verbliebenen rechtmäßigen Verträge zur Rechtfertigung sämtlicher Einbehalte gegenüber Krankenhäusern und Kassenärztlichen Vereinigungen dienen müssten, obwohl der diesen wenigen Verträgen zuzuordnende finanzielle Aufwand der Krankenkassen weit unter den Einbehalten läge, die gegenüber den Krankenhäusern und Kassenärztlichen Vereinigungen (KÄVen) vorgenommen wurden. Nur durch die exakte Zuordnung konkreter Einbehalte zu konkreten IV-Verträgen könnte sichergestellt werden, dass hohen Gesamtsummen an Einbehalten (gegenüber Krankenhäusern und KÄVen) entsprechende Anschubsummen aus IV-Verträgen "zur Deckung" gegenüberstünden. Es könnte - im Extremfall - nicht ein einzelner IV-Vertrag mit einer notwendigen Anschubsumme von z.B. 20.000,- Euro zum Einbehalt gegenüber Krankenhäusern und KÄVen in Höhe von z.B. 200.000,- Euro dienen, nur weil er der einzige IV-Vertrag ist, der als rechtmäßig vor den Gerichten anerkannt wurde. - Dass solche Überlegungen und Beispiele an der bisher zu §§ 140a bis d SGB V beobachtbaren Empirie keineswegs vorbeigehen, wird untenstehend mit Angabe empirischer Werte näher begründet.
Doch selbst dann, wenn man dem SG in seiner Forderung nach konkreter Zuordnung zwischen Einbehalt und IV-Vertrag nicht folgen wollte, wären vorliegend die Voraussetzungen des § 140d SGB V nicht erfüllt, also selbst dann nicht, wenn - wie es die Beklagte vertritt - die im Berufungsverfahren geltend gemachten 17 weiteren IV-Verträge als Grundlage der Einbehalte angesehen würden und die inhaltliche Wirksamkeit gemäß §§ 140a ff. SGB V unterstellt würde.
Denn die Beklagte hat nach der vorliegenden umfangreichen Aktenlage weder vorgerichtlich noch vor dem SG noch vor dem erkennenden Senat dargelegt und bewiesen, in welcher Höhe Anschubfinanzierungen für das Kalenderjahr 2006 (ggf. auch für Folgejahre) kalkulatorisch nachvollziehbar entstanden sind, so dass sie als erforderlich im Wege von Einbehalten gegenüber der Klägerin und anderen Krankenhäusern sowie KÄVen hätten geltend gemacht werden dürfen:
Genauso wie - nach der Rechtsprechung des BSG - eine gerichtliche Kontrolle der inhaltlichen Vorgaben der §§ 140a ff. SGB V stattfindet, so dass insoweit eine Darlegungs- und Beweislast der gesetzlichen Krankenkassen besteht, muss dies auch für die Prüfung der wirtschaftlichen Erforderlichkeit der Einbehalte in Bezug auf die geschätzte Anschubfinanzierung erfolgen, wobei auch hier die Darlegungs- und Beweislast bei den gesetzlichen Krankenkassen liegt. Dass bei beiden Prüfungsschritten nur eine eingeschränkte gerichtliche Prüfdichte gegeben ist - so das BSG für die inhaltliche Kontrolle -, entbindet die gesetzlichen Krankenkassen nicht davon, ein Mindestmaß an Vortrag und Nachweis zu führen, so dass die vorgenommenen Einbehalte jedenfalls kalkulatorisch nachvollziehbar sind.
Nach bisheriger Rechtsprechung des BSG erfolgt eine inhaltliche Kontrolle der IV-Verträge anhand §§ 140a ff. SGB V dahingehend, ob die Verträge eine sektorenübergreifende bzw. eine interdisziplinär-fachmedizinische Versorgung vorsehen, also über die bisherige Regelversorgung hinausgehen bzw. Alternativen hierzu regeln. Die inhaltliche Kontrolle findet durch die (Sozial)Gerichte statt, wobei die Prüfintensität reduziert ist auf eine überschlägige, die Grundvoraussetzungen der IV-Verträge einbeziehende Prüfung. Die Darlegungs- und Beweislast liegt bei den gesetzlichen Krankenkassen (s. zu alledem nur: BSG, Urteil vom 2. November 2010, B 1 KR 11/10 R).
Die empirische Berechtigung dieser gerichtlichen Überprüfung der Beachtung der §§ 140a ff. SGB V in IV-Verträgen ergibt sich u.a. daraus, dass bis Ende 2008 ca. 6.400 IV-Verträge bei der BQS gemeldet waren und hieraus ein geschätztes Vergütungsvolumen von ca. 810 Millionen Euro erwuchs (s. nur: Leber/Pfeiffer, Krankenhausfinanzierung 2011, S. 12, 13).
Genauso wie eine gerichtliche Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der in Bezug genommenen IV-Verträge nach §§ 140a ff. SGB V, die nach der Rechtsprechung des BSG stattzufinden hat, hat ebenso eine gerichtliche Kontrolle stattzufinden hinsichtlich der wirtschaftlichen Erforderlichkeit der von den gesetzlichen Krankenkassen gemäß § 140d SGB V vorgenommenen Einbehalte.
Die Notwendigkeit einer solchen gerichtlichen Kontrolle folgt nicht nur aus dem gesetzlichen Wortlaut des § 140d SGB V (in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung) - "soweit erforderlich" -, sondern u.a. auch aus dem von der Rechtsprechung des BSG stets zugrunde gelegten dauerhaften Rechtsverhältnis zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Krankenhäusern, die ein Mindestmaß an gegenseitiger Rücksichtnahme fordert (s. etwa: BSG, Urteil vom 28. November 2013, B 3 KR 33/12 R; BSG, Urteil vom 16. Mai 2012, B 1 KR 14/11 R; BSG, Urteil vom 13. November 2012, B 1 KR 24/11 R). Zu wechselseitiger Rücksichtnahme gehört auch, dass die gesetzlichen Krankenkassen die ihnen durch den Gesetzgeber ermöglichten Einbehalte nachvollziehbar begründen, um die Krankenhäuser (und KÄVen) nicht entgegen der gesetzgeberischen Regelungsintention über Gebühr zu belasten.
Ebenso hat das BSG in den genannten Entscheidungen von Krankenhäusern und Krankenkassen die Beachtung des sog. kompensatorischen Beschleunigungsgebots verlangt, das durch die Zeitnähe der Geltendmachung von Rechnungen und Überprüfungen/Kürzungen Liquiditätsverluste auf beiden Seiten, insbesondere auch bei den Krankenhäusern, vermeiden soll. Zwar verkennt der Senat nicht, dass dem Liquiditätsrisiko der Krankenhäuser durch Einbehalte nach § 140d SGB V dadurch im Grundsatz vorgebeugt gewesen sein mag, dass die maximale Höhe der Einbehalte auf 1 % der Rechnungssumme beschränkt war und nach Ablauf von drei Jahren eine "Endabrechnung" (Bereinigung) mit "Verrechnung" der (vorläufigen) Einbehalte mit den endgültig notwendigen Finanzierungen vorzunehmen war (§ 140d SGB V in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung). Jedoch darf nicht vernachlässigt werden, dass bei einer insbesondere unberechtigt zu hohen Einbehaltssumme ein Liquiditätsrisiko auch für das einzelne Krankenhaus entstehen konnte, etwa im Fall von Regionalkrankenhäusern mit hoher Abrechnungssumme gegenüber nur einer großen regionalen gesetzlichen Krankenkasse oder etwa einer hohen Anschubfinanzierung zu einem einzelnen IV-Vertrag, wie es etwa bei der Rückabwicklung des Hausarzt- und HausapothekenVertrages mit der N. in Höhe von 40 bis 60 Millionen Euro der Fall war (Leber/Pfeiffer, aaO., S. 13). Und schließlich gibt auch das Gesamtvolumen der Anschubeinbehalte allen Grund dafür, die Berechtigung der Einbehalte gegenüber den Krankenhäusern rechtlich zu prüfen, so etwa für das Jahr 2004 ca. 68 Millionen Euro oder für das Jahr 2005 ca. 270 Millionen Euro (Leber/Pfeiffer, aaO., S. 13).
Auch in der Rechtsliteratur ist deshalb eine gerichtliche Kontrolle mit einem zwar reduzierten, aber gleichwohl Mindestanforderungen erfüllenden Kontrollmaßstab gefordert worden. So sollen die gesetzlichen Krankenkassen - jedenfalls (wie hier) im Streitfall - "plausible prognostische Berechnungen" zur Umsetzung der konkreten IV-Verträge vorlegen, da eine "Justiziabilität" der Einbehaltshöhe gewährleistet sein müsse (s. etwa die Nachweise bei: Baumann in juris-pk, § 140d SGB V, Rn. 30). An anderer Stelle wird die Einhaltung der "Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit" gefordert (Dahm, Vertragsgestaltung bei integrierter Versorgung, Medizinrecht 2005, S. 121, 122). Weitergehend wird gerügt, dass ein genauerer Prüfmaßstab für die Berechtigung der Einbehalte im Gesetzesrecht der §§ 140a ff. SGB V nicht vorgesehen sei, weshalb die Frage der Unbestimmtheit der Norm Anlass für eine verfassungsrechtliche Prüfung gebe (Leber/Pfeiffer, aaO., S. 15; Quaas, ungelöste Rechtsfragen der integrierten Versorgung, das Krankenhaus 2005, S. 967, 972, 973). Bei alledem liege die Darlegungs- und Beweislast bei den gesetzlichen Krankenkassen (Dahm, aaO., S. 121; Quaas, aaO., S. 973).
Schließlich ist in der Rechtsprechung - allerdings, soweit erkennbar, nur sehr vereinzelt und auf SG-Ebene - gefordert worden, jedenfalls bei der Endabrechnung am Ende des 3-Jahres-Zeitraumes diejenigen Angaben von den gesetzlichen Krankenkassen zu verlangen, die seit der Gesetzesänderung zum 1. April 2007 in § 140d Abs. 1 Satz 4, Abs. 5 SGB V gefordert werden. Dazu gehören:
- die Vorlage der konkreten IV-Verträge
- die Vergütung je Behandlungsfall
- die geschätzten Fallzahlen
- das resultierende Vergütungsvolumen pro IV-Vertrag (geschätzt)
- die Einbehaltensquote (s. etwa: SG Berlin, Urteil vom 29. August 2012, S 36 KR 2137/10; Bohle u.a., Integrierte Versorgung - Rechtsfragen, Checklisten, Vertragsmuster, Rnrn. 43, 44; Baumann, aaO., § 140d SGB V, Rnrn. 6, 76 ff.).
Bei alledem besteht in der erkennbaren Rechtsliteratur Einigkeit darüber, der sich auch der erkennende Senat anschließt, dass die Meldungen der gesetzlichen Krankenkassen an die BQS - jedenfalls für das vorliegend in Rede stehende Jahr 2006 (sowie 2004 und 2005) - keine ausreichende Grundlage für den Nachweis der wirtschaftlichen Erforderlichkeit der vorgenommenen Einbehalte darstellen können. Denn unbestritten konnte die BQS für die Kalenderjahre 2004 bis 2006 mangels Vorlage der in Bezug genommenen IV-Verträge - es mussten und wurden nur das Deckblatt und die letzte Seite mit den Unterschriften vorgelegt - ausschließlich eine reine Plausibilitätskontrolle durchführen, also keine konkrete Prüfung der betragsmäßigen Notwendigkeit der Einbehalte für berechtigte IV-Verträge; außerdem war eine Haftung der gesetzlichen Krankenkassen bei Fehlangaben gegenüber der BQS nicht vorgesehen (s. nur: Krankenhausfinanzierung, aaO., S. 15; Quaas, aaO., S. 973; Integrierte Versorgung, aaO., Rnr. 43).
Vor diesem Hintergrund der reinen Plausibilitätsprüfung wären die Krankenhäuser auch nicht auf eine Auskunftseinholung von der BQS zu verweisen, denn die Auskunft würde nicht die notwendigen Informationen liefern.
Und auch auf die "Endabrechnung" (Bereinigung) könnte das Krankenhaus nicht verwiesen werden, da sich diese nur auf die (nicht verausgabten) als rechtmäßig anerkannten Einbehalte bezöge, nicht aber auf die streitigen und ggf. rechtwidrigen Einbehalte (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20. Februar 2013, L 1 KR 33/11).
Nach alledem ist nach Überzeugung des erkennenden Senats für die Rechtmäßigkeit der Höhe der Einbehalte gemäß § 140d SGB V (a.F.) im Kalenderjahr 2006 zu fordern, dass die gesetzliche Krankenkasse - jedenfalls im gerichtlichen Streitfall - gegenüber dem Krankenhaus bzw. dem Gericht darlegt und nachweist,
- die Vorlage der - zeitlich einschlägigen - IV-Verträge im Gesamtumfang (nicht nur Deckblatt und letzte Seite wie zunächst bei der BQS)
- die vorgesehene Vergütung je Behandlungsfall nach jeweiligem IV-Vertrag
- die geschätzten Fallzahlen je IV-Vertrag
- das resultierende Vergütungsvolumen je IV-Vertrag (geschätzt)
- die Berechnung der jeweiligen Einbehaltensquote
Denn ohne diese Angaben ist weder für das Krankenhaus noch für das prüfende Gericht erkennbar, ob die von der gesetzlichen Krankenkasse vorgenommenen Einbehalte wegen behaupteter Anschubfinanzierung nicht nur inhaltlich, sondern auch wirtschaftlich erforderlich gewesen sind.
Diese Konkretisierung ist für das vorliegend streitige Kalenderjahr 2006 auch leistbar, anders als etwaig für das Kalenderjahr 2004, dem 1. Jahr der IV-Verträge, in dem naturgemäß die Anzahl der die IV-Leistungen in Anspruch nehmenden Versicherten nur grob abschätzbar war (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. April 2010, L 5 KR 12/08, Rn. 18 - Zitierung nach juris).
Diesen Anforderungen hat die Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit zu keiner Zeit genügt, weder unmittelbar gegenüber der Klägerin noch vor dem SG noch vor dem erkennenden Senat.
Zwar hat die Beklagte vor dem SG einen IV-Vertrag (Endoprothetik-Vereinbarung) sowie - nach "Rücknahme" des Vortrags zu diesem Vertrag - im Berufungsverfahren weitere IV-Verträge vorgelegt, aus denen die inhaltlichen Regelungen und die Vergütungspositionen für bestimmte Behandlungen erkennbar sind. Daneben hat die Beklagte mit ihrer Verwaltungsakte eine Übersicht eingereicht, in der IV-Verträge genannt und Zahlenwerte zugeordnet sind mit den Titeln "nachrichtlich: für den Vertrag vorab geschätztes Vergütungsvolumen in Euro" sowie "für den Vertrag tatsächlich verwendete Finanzmittel in Euro", jeweils gegliedert nach den Kalenderjahren 2006, 2007 und 2008. Und schließlich ergibt sich aus der Verwaltungsakte eine Übersicht, in der die Einbehaltsquoten für das Kalenderjahr 2006 genannt sind, nämlich
- ab 01.01.2006: 0,04 %
- ab 01.02.2006: 0,28 %
- ab 01.07.2006: 0,30 %
Diese Angaben entsprechen jedoch nicht den oben genannten, vom Senat für erforderlich gehaltenen Mindestangaben und können daher die wirtschaftliche Erforderlichkeit der gegenüber der Klägerin vorgenommenen Einbehalte nicht begründen.
Zum einen wird für die insgesamt 15 gelisteten IV-Verträge für 2006 überhaupt nur für 3 Verträge ein "für den Vertrag vorab geschätztes Vergütungsvolumen in Euro" angegeben. Nach dieser Aufstellung ist deshalb für insgesamt 12 Verträge ein "vorab geschätztes Vergütungsvolumen" für 2006 nicht angefallen, so dass ein Einbehalt, der gerade der Anschubfinanzierung im Kalenderjahr der Entstehung dienen soll, für diese Verträge nicht berechtigt wäre. Dies gilt insbesondere auch für den von der Beklagten vor dem SG vorgelegten Endoprothetik-Vertrag, der ein "vorab geschätztes Vergütungsvolumen" von "0,00 Euro" vorsieht, und zwar für die Kalenderjahre 2006 bis 2008.
Vor allem aber ergibt sich weder aus der Verwaltungsakte noch aus den sonstigen, von der Beklagten im Berufungsverfahren (oder vor dem SG) vorgelegten Verträgen, wie das "für den Vertrag vorab geschätzte Vergütungsvolumen in Euro" berechnet wurde. Nach den o.g., vom Senat für erforderlich gehaltenen Mindestangaben hätte vorgetragen werden müssen, welche geschätzten Fallzahlen und Häufigkeiten der Vergütungspositionen zugrunde gelegt wurden, um die Höhe der Notwendigkeit der Anschubfinanzierung in den einzelnen Kalenderjahren nachvollziehbar werden zu lassen. Ohne solche Begründungen ist die von der Beklagten in der Übersicht angegebene Zahl (etwa: 772.500,- Euro für den IV-Vertrag "GV O., Zervix") in keinster Weise nachvollziehbar und darf deshalb der Klägerin als "gegriffen" bzw. fiktiv erscheinen. Mangels ausreichender Schätzungsgrundlagen für die je Kalenderjahr für erforderlich gehaltene Anschubfinanzierung ist dann aber der von der gesetzlichen Krankenkasse vorgenommene Einbehalt zu Lasten des Krankenhauses nicht begründet.
Diese fehlende Begründung setzt sich fort in der Mitteilung der von der Beklagten zugrunde gelegten Einbehaltsquote. Es ist aus den von der Beklagten vorgelegten Unterlagen und den Verträgen in keiner Weise ersichtlich, warum eine Einbehaltsquote - etwa im vorliegend streitigen Kalenderjahr 2006 - überhaupt erforderlich war, warum sie unter dem gesetzlichen Grenzwert von 1 % lag, und warum sie gestaffelt zugrunde gelegt wurde (01.01., 01.02. und 01.07.2006) und warum in der für diese drei Zeiträume jeweils angegebenen Höhe (0,04, 0,28 und 0,30 %).
Damit ist weder für die Klägerin noch für das SG noch für den erkennenden Senat nachvollziehbar begründet, dass und warum in der jeweilig vorgenommenen Höhe von der Beklagten Einbehalte gegenüber der Klägerin im Kalenderjahr 2006 vorgenommen worden sind. Es kann insbesondere nicht ausgeschlossen werden, dass die Einbehalte unberechtigt dem Grunde oder der Höhe nach waren, also etwa zu hoch erfolgt sind. Bezüglich der Höhe der Einbehalte kann die Beklagte dabei auch nicht auf die "Endabrechnung" (Bereinigung) am Ende des 3-Jahres-Zeitraumes verweisen. Denn der Schutz vor rechtswidriger Inanspruchnahme oder gar drohender Illiquidität eines Krankenhauses gilt nicht erst bei der Endabrechnung, sondern schon beim Einbehalt, der einen unmittelbaren Eingriff in den dem Grunde und der Höhe nach unstreitig gegebenen Vergütungsanspruch des Krankenhauses darstellt.
Die Berufung der Beklagten war deshalb bereits aus Gründen der fehlenden Darlegung und des fehlenden Nachweises der wirtschaftlichen Erforderlichkeit des Einbehalts nach § 140d SGB V zurückzuweisen.
Der Senat konnte deshalb etliche weitere prozessuale und materielle Fragen zugunsten der Beklagten als gegeben annehmen (unterstellen) bzw. offen lassen, deren Prüfung im strengen Sinne ebenso zur Zurückweisung der Berufung geführt hätte:
In prozessualer Hinsicht geht der erkennende Senat zugunsten der Beklagten davon aus, dass eine Präklusion gemäß § 106a Abs. 3 SGG vor dem SG nicht wirksam erfolgt ist, weshalb die Beklagte im Berufungsverfahren weitere IV-Verträge zur Begründung ihrer Rechtsauffassung vorlegen durfte. Des Weiteren geht der Senat bezüglich dieser Vorlage zugunsten der Beklagten davon aus, dass keine Klagänderung im Sinne von § 99 SGG vorliegt, obwohl - im Hinblick auf den sog. prozessual-zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff - nach dem bisherigen Vortrag der Beklagten zur Stützung des Einbehalts auf den Endoprothetik-Vertrag durch die Vorlage der anderen Verträge ein Austausch des Lebenssachverhaltes vorliegen könnte. Schließlich geht der Senat zugunsten der Beklagten davon aus, dass es sich bei der Vorlage der weiteren IV-Verträge im Berufungsverfahren nicht um ein Nachschieben von Gründen handelt, soweit es im Berufungsverfahren unzulässig wäre (s. etwa: Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 157 Rn. 3 i.V.m. § 54 Rn. 35 ff.).
Erhebliche Zweifel hat der erkennende Senat dahingehend, ob nicht die Beklagte ihren prozessualen Mitwirkungspflichten (deutlich) unzureichend Genüge getan und hieraus die Rechtsfolgen zu tragen hat (s. etwa: Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 103, Rn. 7, 13, 15 ff.). So hat die Beklagte entgegen den rechtlichen Hinweisen des SG zunächst keinen IV-Vertrag vorgelegt, sodann einen IV-Vertrag für einen vorliegend nicht streitigen Zeitraum und erst nach der dritten Aufforderung durch das SG den von ihr tatsächlich in Bezug genommenen IV-Vertrag eingereicht. Vor dem LSG hat die Beklagte ihr "Berufen" auf den Endoprothetik-Vertrag "zurückgenommen" und 17 weitere Verträge geltend gemacht. Diese 17 Verträge hat sie in einem Schriftsatz inhaltlich kurz beschrieben und zur näheren Begründung auf einen Aktenordner mit mehr als 650 Seiten Bezug genommen, den sie bei Gericht eingereicht hat. Obwohl das sich aus dem Schriftsatz ergebende Inhaltsverzeichnis des Aktenordners deutlich unzulänglich ist (nur 17 Seitenangaben, die jeweils eine Mehrzahl von Einzelverträgen betreffen und der inhaltlichen Kennzeichnung von 650 Seiten dienen sollen), hat sich der erkennende Senat der Mühe unterzogen, die 650 Blatt Papier zu sichten. Dabei hat er festgestellt, dass mehr als die Hälfte der eingereichten Verträge - erneut - nicht das vorliegend streitige Kalenderjahr 2006 betrafen.
In materieller Hinsicht lässt der erkennende Senat zugunsten der Beklagten dahinstehen, ob diese gegen das aus dem dauerhaften Vertragsverhältnis zwischen Krankenkasse und Krankenhaus (Nachweise zur Rspg. des BSG: siehe oben) resultierende Gebot des venire contra factum proprium, einem Gebot aus § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), verstoßen gehandelt hat, indem sie sich bis einschließlich des Beginns des Berufungsverfahrens zur Begründung des Einbehalts in Höhe von 26.000,- Euro ausschließlich auf den Endoprothetik-Vertrag berief, und dieses Berufen - nachdem der 1. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen einen gleichlautenden Vertrag für unwirksam erachtete - schlicht durch ein Berufen auf andere Verträge "ersetzte".
Nach alledem war die Berufung der Beklagten - auch ohne abschließende Klärung der zuletzt genannten Fragen - zurückzuweisen.
Dies gilt auch für die Zinshöhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. Januar 2007. Denn diese Verurteilung in die Zinsen entspricht den Regelungen des vom SG zitierten Landesvertrages und ist von der Beklagten auch nicht in Abrede genommen worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 ff. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), wobei die Beklagte die Kosten des von ihr ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels gemäß § 154 Abs. 2 VwGO zu tragen hat.
Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 3 Satz 1 und § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
Die Zulassung der Revision resultiert aus § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, wobei der Senat in den Vordergrund rückt, dass eine Reihe von Rechtsstreiten - soweit erkennbar, bundesweit - anhängig sind, in denen die wirtschaftliche Erforderlichkeit der vorgenommenen Einbehalte Prüfungsgegenstand ist bzw. sein dürfte.