Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.10.2016, Az.: L 13 AS 287/16 B ER

Gewährung von Leistungen in Form der Bewilligung von Kosten für Unterkunft und Heizung; Sicherung des Erhalts der Wohnung des Leistungsberechtigten wegen Räumungsklage; Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Leistungen für Unterkunft und Heizung bei einer drohenden Vermieterkündigung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren; Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes bei Verwandtenmietverhältnissen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.10.2016
Aktenzeichen
L 13 AS 287/16 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 34881
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2016:1026.L13AS287.16B.ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 06.09.2016 - AZ: S 37 AS 207/16 ER

Redaktioneller Leitsatz

In Eilverfahren, die laufende Leistungen für Unterkunft betreffen, dürfen keine überhöhten Anforderungen an den Anordnungsgrund gestellt werden. Ein bestehendes Risiko einer vermieterseitigen Kündigung des Mietverhältnisses aufgrund von Zahlungsrückständen kann durchaus Anlass zum Erlass einer einstweiligen Anordnung geben. Diese Kündigung muss zudem keineswegs bereits in der Weise unmittelbar bevorstehen, dass der Vermieter aufgrund der Rückstände bereits über ein Kündigungsrecht verfügt.

Tenor:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Der Antragsteller wendet sich mit der Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Oldenburg vom 6. September 2016, mit welchem das SG es abgelehnt hat, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig weitergehende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Form der Bewilligung von Kosten für Unterkunft unter Berücksichtigung eines mit seinem Vater geschlossenen, zunächst auf den 1. Dezember 2007 datierten und nunmehr unter dem 1. April 2016 geänderten Mietvertrages zu gewähren. Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, denn der Antragsteller hat bereits keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es dem Antragsteller nicht gelungen, das Vorliegen eines Anordnungsgrundes für die begehrten Leistungen i. S. von § 86b Abs. 2 S. 2 SGG glaubhaft zu machen. Insoweit hat er lediglich vorgebracht, er benutze die Wohnräume und insoweit entstünden für den Vermieter Kosten; im Übrigen seien die Kosten der Unterkunft in der beantragten Höhe bisher anerkannt worden. Warum sich aus diesen Umständen ein Eilbedürfnis ergeben soll, ist nicht ersichtlich. Auch mit den entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss des SG Oldenburg unter Hinweis auf die Senatsrechtsprechung hat sich der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht auseinandergesetzt. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist - was auch der Senat für zweifelhaft hält - für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorliegend ohne entscheidende Bedeutung.

Der Senat vertritt weiterhin die folgende ausdifferenzierte Auffassung zum Bestehen eines Anordnungsgrundes in Bezug auf Kosten der Unterkunft in mittlerweile ständiger Rechtsprechung (vgl. Senatsbeschluss vom 14. August 2015 - L 13 AS 236/15 B ER - kürzlich bestätigt durch Senatsbeschluss vom 14. September 2016 - L 13 AS 235/16 B ER -):

Ein bestehendes Risiko einer vermieterseitigen Kündigung des Mietverhältnisses aufgrund von Zahlungsrückständen kann durchaus Anlass zum Erlass einer einstweiligen Anordnung geben. Diese Kündigung muss zudem keineswegs bereits in der Weise unmittelbar bevorstehen, dass der Vermieter aufgrund der Rückstände bereits über ein Kündigungsrecht verfügt. In Eilverfahren, die laufende Leistungen für Unterkunft betreffen, dürfen keine überhöhten Anforderungen an den Anordnungsgrund gestellt werden (Senatsbeschluss vom 27. Juli 2015 - L 13 AS 205/15 B ER; so auch 11. Senat des erkennenden Gerichts, Beschluss vom 28. Januar 2015 - L 11 AS 261/14 B - Rn. 13).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 - Rn. 23 ff., m. w. N.; vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 -; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. Februar 2010 - 1 BvR 20/10 -) verlangt die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes die vorläufige Befriedigung von Leistungsansprüchen im Rahmen eines Eilverfahrens dann, wenn ohne diese dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Die Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung hat vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz m. a. W. die Aufgabe, in solchen Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im grundsätzlich vorrangigen Verfahren der Hauptsache aufgrund des Zeitablaufs zu schweren und unzumutbaren, nicht anders abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - Rn. 7). Dies bedeutet zugleich, dass auch im Bereich des SGB II ein Anordnungsgrund fehlen kann, wenn keine ernsthafte Gefährdung für die endgültige Rechtsverwirklichung und -durchsetzung besteht, wenn also dem Antragsteller auch mit einer späteren Realisierung seines Rechts geholfen ist. Im Ausgangspunkt zu fordern ist demnach eine existentielle Notlage (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. August 2010 - L 5 AS 135/10 B ER - Rn. 21), die freilich immer dann naheliegt, wenn das Existenzminimum des Leistungsberechtigten durch die tatsächlich gewährten Leistungen unter Berücksichtigung seiner realen Selbsthilfemöglichkeiten nicht gesichert ist.

Im Kern gilt dies auch für den Anordnungsgrund hinsichtlich der Kosten der Unterkunft (vgl. Senat, a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Mai 2015 - L 6 AS 369/15 B ER -, Rn. 31 - 33). Nicht allein ausreichend ist jedoch der Hinweis darauf, dass im Bereich der Existenzsicherung jede oberhalb einer etwaigen Bagatellgrenze liegende Bedarfsunterdeckung den Kernbereich des nach Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich geschützten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletze (so 11. Senat des erkennenden Gerichts, Beschluss vom 28. Januar 2015 - a. a. O., Rn. 13), denn dies berücksichtigt einerseits nicht die u. U. gegebene Verfügbarkeit leistungsrechtlich geschützter Einkommens- und Vermögenspositionen, und andererseits ist in Bezug auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung auch zu berücksichtigen, dass mit diesen der Erhalt der Wohnung des Leistungsberechtigten gesichert werden soll und die Gefährdung dieses Wohnungserhalts demnach erkennbar und nachvollziehbar sein muss.

Auch bereits zu einem früheren Zeitpunkt als demjenigen der Kündigung können allerdings wesentliche Nachteile zu befürchten sein, die ein Zuwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar erscheinen lassen. Zu berücksichtigen ist einerseits die andauernde Beeinträchtigung, die bereits dadurch entstehen kann, dass dem Leistungsberechtigten die Möglichkeit zur Zahlung der Kosten der Unterkunft als Teil der ein menschenwürdiges Existenzminimum sichernden Leistung fehlt und der Leistungsberechtigte die hierdurch drohenden Konsequenzen vor Augen haben muss, nämlich die Gefährdung der Wohnung als Lebensmittelpunkt unter Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 13 GG. Vor allem aber steht die tatsächliche Gefährdung des Erhalts dieser Wohnung als Lebensmittelpunkt im Zentrum der Betrachtung, die sich, und zwar aufgrund der vom LSG Nordrhein-Westfalen a. a. O. geschilderten zivilprozessualen Eigenarten trotz Geltung der §§ 543 Abs. 2 S. 2, 569 Abs. 3 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch, nicht mit letzter Sicherheit nach Erhebung der Räumungsklage noch abwenden lässt.

Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Wohnung als Lebensmittelpunkt vertritt der Senat die Auffassung, dass bereits die vertragswidrige Vorenthaltung von Teilen des Mietzinses gegenüber dem Vermieter für einen Leistungsberechtigten einen wesentlichen Nachteil darstellen kann, der zum Erlass einer einstweiligen Anordnung berechtigen kann, nämlich dann, wenn die Möglichkeit einer daraus zu einem späteren Zeitpunkt resultierenden Wohnungskündigung mit der weiteren Folge des Wohnungsverlustes nicht unwahrscheinlich ist. Bei der Anmietung einer Wohnung auf dem allgemeinen Markt genügt regelmäßig bereits die fortlaufende Nichtzahlung eines Teils der Miete, um einen entsprechenden Nachteil anzunehmen, denn dies führt im weiteren Verlauf zu erheblichen Mietrückständen und letztlich zur vermieterseitigen fristlosen Kündigung der Wohnung.

Eine grundlegend andere Situation besteht indes hingegen regelmäßig bei Verwandtenmietverhältnissen, bei denen die Beendigung des Mietverhältnisses und der Verlust der Wohnung bei einer teilweisen oder auch vollständigen Nichtzahlung des Mietzinses aufgrund finanziellen Unvermögens regelmäßig als sehr unwahrscheinlich anzusehen ist, so dass dort das Bestehen eines Anordnungsgrundes in der Regel ausscheidet und die Annahme des Gegenteils einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf (Senatsbeschlüsse vom 27. Juli 2015 - L 13 AS 205/15 B ER - sowie vom 16. Dezember 2015 - L 13 AS 349/15 B ER -).

Nach alledem erscheint es dem Senat zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten, den wesentlichen Nachteil als Anordnungsgrund stets unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, unabhängig von einem etwa pauschal angenommenen erforderlichen Verfahrensstand eines vermieterseitigen Räumungsbegehrens, zu beurteilen.

Im konkreten Einzelfall des Antragstellers, welcher durch nahe verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Mietvertragsparteien geprägt ist, ist nicht glaubhaft gemacht, dass ein ernsthaftes vermieterseitiges Räumungsbegehren im Raum steht. Er hat vorliegend nicht einmal behauptet, dass sein Vater als Vermieter bei Nichtzahlung des Mietzinses entsprechende Schritte einleiten würde. Bei alledem vertritt der Senat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass allein das fehlende Leistungsvermögen in Bezug auf die Bedienung fälliger Verpflichtungen noch keinen ausreichenden Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung darstellt. Das Vorbringen des Antragstellers gibt ebenfalls keinen Anlass zu einer abweichenden Sichtweise.

Eine die Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums gefährdende Notlage des Antragstellers vermag der Senat hiernach nicht festzustellen.

Die Wirksamkeit des Mietvertrages ist in diesem Zusammenhang aus den genannten Gründen für das vorliegende Eilverfahren nicht von entscheidender Bedeutung. Dies mag im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Sollte sich dort herausstellen, dass der Antragsteller regelmäßig Miete gezahlt hat, dürfte in der vorliegenden Konstellation § 116 Abs. 1 Abgabenordnung zu beachten sein. Gerichte haben hiernach Tatsachen, die sie dienstlich erfahren und die auf eine Steuerstraftat schließen lassen, dem Bundeszentralamt für Steuern oder, soweit bekannt, den für das Steuerstrafverfahren zuständigen Finanzbehörden mitzuteilen. Es ist nach allgemeiner Lebenserfahrung durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Mieteinnahmen aus einem Verwandtenmietverhältnis der vorliegenden Art in einer Steuererklärung nicht deklariert werden; den Einzelfall zu klären, muss den Finanzbehörden überlassen bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).