Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 29.01.2015, Az.: L 10 VE 25/13
Beschädigtenrente und Heilbehandlung nach dem OEG und BVG; Rüge der fehlerhaften Besetzung des Gerichts; Glaubhaftmachung und Beweismaßstab im KOVVfG
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.01.2015
- Aktenzeichen
- L 10 VE 25/13
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2015, 11581
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2015:0129.L10VE25.13.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BSG - 15.12.2016 - AZ: B 9 V 3/15 R
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 3 BVG
- § 15 S. 1 KOVVfG
- § 1 Abs. 1 S. 1 OEG
- § 1 Abs. 1 OEG
- § 10 OEG
- § 10a Abs. 1 S. 1 OEG
- § 6 Abs. 3 OEG
Redaktioneller Leitsatz
1. Die fehlerhafte Besetzung des Gerichts bei Erlass des angefochtenen Urteils ist als Verfahrensfehler nur auf Rüge eines Beteiligten, nicht aber von Amts wegen zu beachten.
2. Nach Maßgabe des § 15 S. 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind.
3. Bei dem Glaubhafterscheinen i.S.d. § 15 S. 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts.
4. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. April 2013 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente und Heilbehandlung gemäß § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG.
Die im Oktober 1949 geborene Klägerin beantragte im Juni 1999 beim Versorgungsamt Braunschweig (Außenstelle Hildesheim) Beschädigtenversorgung. Zur Begründung gab sie wörtlich an: "Am 9.9. um 22.45 Uhr klingelten zwei Männer an meiner Wohnungstür, wiesen sich als Kripo aus und sagten, ich solle mitkommen zur Klärung eines Sachverhaltes. Im Auto wurden mir die Augen verbunden und im Gefängnis die Binde abgenommen. Schlimme Verhöre mit Folter, Misshandlung und Vergewaltigung erfolgten. 3-4 Männer fast rund um die Uhr. Ich wäre Staatsfeind weil keine Jugendweihe und FDJ-Mitgliedschaft der Kinder. Ausreiseantrag gestellt. Am 13.9. Entlassung." Tatort sei das I. -Gefängnis in J. gewesen. An Schädigungsfolgen seien u. a. psychosomatische Folgen und Zahnverlust eingetreten. Die Krankenkasse übernehme keine Therapiekosten mehr, sie sei jedoch dringend auf eine Therapie angewiesen.
Das Versorgungsamt leitete den Antrag der Klägerin an das für die beantragte Leistung zuständige Versorgungsamt Chemnitz weiter. Dieses zog bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Dresden die Ermittlungsakten (Az.: 812 Js 10933/98) bei. Aus den Ermittlungsakten ergab sich Folgendes: Die Klägerin hatte am 16. Oktober 1997 gegen den Beschuldigten/Tatverdächtigen K. Strafanzeige wegen sexueller Nötigung in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 gestellt und hierzu angegeben, dass sie in der UHA des MfS L. durch mehrere Bedienstete und den Beschuldigten vergewaltigt und sexuell genötigt worden sei. In ihrer Vernehmung durch die Staatsanwältin M. am 15. Oktober 1997 hatte die Klägerin angegeben, im Tatzeitraum in N. im Erzgebirge gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem damals 16jährigen Sohn O. gewohnt zu haben. Es seien schlechte Wohnverhältnisse gewesen und sie habe schon immer an den Rat des Kreises geschrieben und sich danach erkundigt, wann sie eine andere Wohnung bekommen könnten. Trotz diverser Nachfragen und Eingaben habe sich absolut nichts getan. Nachdem sie 1987 einen Ausreiseantrag gestellt habe, sei sie arbeitslos geworden. Zuvor sei sie im Universitätskinderklinikum in P. als Kinderkrankenschwester tätig gewesen. 1986 habe sie in einer Lederwarenfabrik in Q. eine Tätigkeit im Betriebsschutz (Pförtner mit Telefondienst) aufgenommen und dort sei auch ihr damaliger Vorgesetzter K. gewesen, gegen den sie Anzeige erstatten wolle. Sie sei dann arbeitslos geworden und zweimal in der Woche von verschiedenen Leuten der Staatssicherheit besucht worden, die gesagt hätten "entweder du arbeitest für uns oder du findest überhaupt keine Arbeit mehr". Dann sei ihr 1989 gesagt worden "dich kriegen wir auch noch klein". Nachdem sie dann noch einmal einen Antrag auf eine neue Wohnung gestellt habe und sich erneut in dieser Hinsicht nichts getan hätte, sei sie am 9. September 1989 abends um dreiviertel elf abgeholt worden. Sie sei aufgefordert worden, zur Klärung eines Sachverhalts mitzukommen. Sie sei dann nach J. in das Gefängnis auf dem I. gefahren worden und ihr sei vorgeworfen worden, Geheimnisse, die ihre Mutter als Sekretärin im Rathaus bei Ratssitzungen erfahren habe, in den Westen weitergegeben zu haben. An dem Abend seien zwei Leute gekommen. In dem Gefängnis sei sie zunächst von zwei anderen Männern verhört worden. Insgesamt seien es vier Männer gewesen, die sie rund um die Uhr fertig gemacht hätten, einer davon sei K. gewesen. In der ersten Nacht sei sie von zwei Männern oral vergewaltigt worden; ihr seien Bierflaschen in die Scheide gestoßen worden. Sie sei mehrfach von verschiedenen Personen oral vergewaltigt worden und als sie nicht mehr habe mitmachen wollen, seien ihr die Zähne eingeschlagen worden. Am 10. September seien morgens früh drei Männer von der ersten Nacht gekommen und da sei auch K. dabei gewesen. Dann, als K. gekommen sei, seien ihr noch einmal Bierflaschen in die Scheide gestoßen worden, wobei eine kaputt gewesen sei und alles zerschnitten habe. Da sei K. dabei gewesen. Dieser habe sie dann auch rektal vergewaltigt. Sie sei immer wieder vergewaltigt worden, sowohl oral, vaginal als auch rektal. Am letzten Abend, als es dunkel geworden sei, seien zwei andere Männer gekommen, die sie zuvor noch nicht gesehen habe. Sie habe dann etwas unterschreiben müssen, dass sie mit niemandem darüber spreche und sei dann mit dem Wartburg nach Hause gefahren worden. Die letzte Strecke sei sie praktisch auf allen Vieren nach Hause gekrochen und spät abends um 23.30 Uhr dort angekommen. Sie sei dann über ein halbes Jahr nicht beim Arzt gewesen und habe sich zunächst auch an die Anweisung gehalten, mit niemandem über das Erlebte zu sprechen. Erstmals habe sie 1992 gegenüber ihrer Psychologin Frau R. von dem Erlebten erzählt.
Nach Vernehmung der Klägerin hat die Staatsanwaltschaft die Beiziehung von Krankenunterlagen der Klägerin veranlasst und eine Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik eingeholt. Darüber hinaus hat sie den Beschuldigten K. im Juni 1999 vernommen, der im Wesentlichen den Tatvorwurf als "absurd" bezeichnet hat und nicht erklären konnte, wie die Klägerin auf einen solchen Vorwurf gekommen war. Der Zeuge hat ausgesagt, bei der VEB Lederwarenfabrik in seiner Funktion als Sicherheitsinspektor und Betriebsjurist der Vorgesetzte der Klägerin gewesen zu sein. Nach Auswertung der Unterlagen hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 3. November 1999 das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten K. eingestellt und hierfür im Wesentlichen zur Begründung angeführt, dass der Beschuldigte bestritten habe, intime Kontakte zu der Geschädigten gehabt zu haben. Auch habe er keine beruflichen oder persönlichen Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit gehabt und sei nie in der Untersuchungshaftanstalt auf dem I. gewesen. Nach Auskunft des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes seien zu der Person der Geschädigten keine MfS-Unterlagen erfasst, die Person des Beschuldigten S. sei ebenfalls nicht erfasst. Zur Ermittlung des Geschehens sei nunmehr die Befragung des damaligen Hausarztes der Geschädigten, Dr. T. erforderlich, den die Geschädigte jedoch ausdrücklich nicht von der Schweigepflicht entbinde. Mangels weiterer Ermittlungsansätze sei das Verfahren deshalb gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen.
Auf die von der Klägerin hiergegen eingelegte Beschwerde hat die Staatsanwaltschaft weitere ärztliche Unterlagen über die Klägerin beigezogen und mit Bescheid vom 22. März 2000 die Beschwerde der Klägerin gegen die Verfügung vom 3. November 1999 zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht Dresden hat mit Beschluss vom 13. September 2000 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen den die Erhebung der öffentlichen Klage ablehnenden Bescheid vom 22. März 2000 als unbegründet verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Beschuldigte jemals offizieller oder inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sei. Darüber hinaus hätten die Ermittlungen keinen Hinweis darauf erbracht, dass sich die Anzeigeerstatterin tatsächlich in der Zeit vom 9. bis zum 13. September 1989 in der Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit auf dem I. befunden habe. Vielmehr habe die einzig feststellbare Verbindung zwischen der Anzeigeerstatterin und dem Beschuldigten darin bestanden, dass der Beschuldigte in der Lederwarenfabrik in Q. als Justitiar beschäftigt und in den Jahren 1985 bis 1987 Vorgesetzter der Geschädigten gewesen sei. Der Beschuldigte habe im Rahmen eines Arbeitsgerichtsprozesses die Lederwarenfabrik vertreten und der Anzeigeerstatterin im Rahmen der Entlassung eine für sie ungünstige Abschlussbeurteilung verfasst. Auch aus den von der Staatsanwaltschaft beigezogenen umfangreichen Krankenakten der Anzeigeerstatterin ergäben sich keine Hinweise für einen hinreichenden Tatverdacht. Zwar habe sie bereits im März 1991 und auch 1992 gegenüber Ärzten von Misshandlungen im Stasigewahrsam berichtet. Zu keinem Zeitpunkt aber habe sie hierbei den Namen des Beschuldigten genannt. Auch enthielten die ärztlichen Berichte keine Hinweise auf Verletzungen der Anzeigeerstatterin, die sie entsprechend ihrer Anzeige erlitten haben müsste. Insbesondere hätten sich die Angaben der Antragstellerin nicht bestätigt, wonach sie im Jahr 1990 von einem Arzt gefragt worden sei, "was sie gemacht habe, da man Glassplitter aus ihrer Scheide geholt habe". Nach einem entsprechenden ärztlichen Schreiben habe sich bei der Untersuchung weder ein Hinweis auf eine Verletzung der Scheide, noch auf das Vorhandensein eines Fremdkörpers gefunden.
Außer den Ermittlungsakten zog das Versorgungsamt Chemnitz Unterlagen der behandelnden Ärzte der Klägerin bei und betrieb das Verfahren dann zunächst im Hinblick auf Ansprüche der Klägerin nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG). In diesem Zusammenhang wies es die Klägerin darauf hin, dass der Eingang des Antrages nach dem OEG im Juni 1999 als Antrag nach dem StrRehaG angesehen werde, für die Bearbeitung sei deshalb das Versorgungsamt Hildesheim zuständig. Darüber hinaus informierte es die Klägerin darüber, dass sie zunächst einen Antrag auf Rehabilitierung beim Landgericht Chemnitz stellen müsse. Der Rehabilitierungsbeschluss sei dann dem Versorgungsamt Hildesheim zu übersenden.
Das Versorgungsamt Braunschweig - Außenstelle Hildesheim - hat im Rahmen der Bearbeitung des Antrages nach dem StrRehaG Unterlagen von den Justizvollzugsanstalten U., I. und V., der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und dem Bundesarchiv bezüglich der Klägerin angefordert. Die Bundesbeauftragte hat mitgeteilt, dass die Klägerin durch den Staatssicherheitsdienst auf einer Karteikarte erfasst gewesen sei. Ob überhaupt aufgrund dieser Erfassung Unterlagen geführt und diese vernichtet worden seien, sei nicht feststellbar. Hinweise zur Inhaftierung der Klägerin in der Untersuchungshaftanstalt der BV J. könnten nicht gefunden werden. In dieser Angelegenheit sei bereits mehrfach, leider ohne Ergebnis, recherchiert worden. Nach Auskunft des Bundesarchives habe in der zentralen Gefangenenkartei des Bundesarchivbestandes DO 1 Ministerium des Inneren der DDR keine Karteikarte für die Klägerin ermittelt werden können. Mit Beschluss vom 23. August 2002 hat die Rehabilitierungskammer des Landgerichtes Chemnitz den Antrag der Klägerin auf Rehabilitierung hinsichtlich der Inhaftierung im Zeitraum vom 9. bis 13. September 1989 zurückgewiesen (Az.: BSRH 346/01) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht erkennbar sei, dass die Inhaftierung der politischen Verfolgung gedient habe. Die gegen diese Entscheidung von der Klägerin eingelegte Beschwerde hat das Oberlandesgericht Dresden mit Beschluss vom 17. Dezember 2002 als unbegründet verworfen (Az.: 4 Ws 132/02). Zur Begründung hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Verbindung des Sicherheitsinspektors K. zum Staatssicherheitsdienst der DDR nicht ersichtlich sei. Mit Bescheid vom 14. Januar 2003 lehnte das Versorgungsamt Braunschweig den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem StrRehaG ab und übersandte sodann den Vorgang erneut an das Versorgungsamt Chemnitz zur (Weiter-)Bearbeitung des OEG-Antrages.
Mit Bescheid vom 22. April 2003 lehnte das Versorgungsamt Chemnitz den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass nach Würdigung der Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft Dresden, den Feststellungen des Oberlandesgerichts Dresden einschließlich der Unterlagen des Landgerichts Chemnitz das schädigende Ereignis nicht nachgewiesen sei. Den Widerspruch der Klägerin wies das Landesversorgungsamt Chemnitz mit Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2004 zurück. Im Rahmen der Amtsermittlungspflicht seien alle Möglichkeiten der Beweiserhebung ausgeschöpft worden, dabei habe sich der behauptete Sachverhalt nicht durch Nachweise bestätigen lassen. Weder im Bundesarchiv noch im Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR hätten Unterlagen über die Inhaftierung aufgefunden werden können.
Mit ihrer zum Sozialgericht Hildesheim erhobenen Klage hat die Klägerin das Ziel der Gewährung von Leistungen nach dem OEG weiter verfolgt, dabei ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft und sich für ihren Vortrag auf zahlreiche von ihr vorgelegte Unterlagen und schriftliche Stellungnahmen ihrer behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten bezogen. Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie die Schwerbehindertenakte der Klägerin vom Versorgungsamt Hildesheim (GZ.: 33 100 17 - 00479 4) beigezogen. Darüber hinaus hat es ärztliche Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland (Vers.Nr.: 09 161049 B 545) und die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Dresden (Az.: 812 Js 10933/98) beigezogen und eine Begutachtung der Klägerin durch die Psychiaterin und Neurologin Dr. W. veranlasst.
Diese Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 12. Dezember 2007 die Diagnosen "andauernde Persönlichkeitsänderung nach extremen Belastungen mit massivem verletzenden Verhalten und multiplen funktionellen Störungen, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, rezidivierend depressive Störung, Analgetika-Abusus, Zustand nach mehrmaligen Subileus-Operationen, Zustand nach Nephrektomie rechts 1992, nach selbstinduzierten Verletzungen" gestellt.
Gegenüber dieser Sachverständigen hat die Klägerin erklärt, dass alles 1989 - noch vor der Grenzöffnung - passiert sei. Nach der Haft habe sie bis zum Tod ihrer Mutter 1991 durchgehalten; sie habe niemanden zum Reden gehabt, niemandem vertrauen können und auch vertraut. 1992 habe sie erfahren, dass ihre beste Freundin sie an die Stasi verraten und bespitzelt habe. Während der Inhaftierung seien alte Bilder durch den Missbrauch durch den Onkel hochgekommen. Sie sei als neunjährige von einem Großonkel, 72 Jahre alt, ein Jahr lang jeden Samstag vergewaltigt worden. Der Onkel habe sie ans Bett gefesselt und oral zum Verkehr gezwungen. 1994 habe ihr Sohn O. ihr mitgeteilt, er hätte der Stasi wohl mehr erzählen sollen, dann hätte man sie richtig verrecken lassen und dass sie vom Schnüffelgeld gelebt hätten. Der Sohn habe vor vier Jahren geheiratet und habe sie nicht zur Hochzeit eingeladen, da sie kaputt aussehe; ihr Sohn habe vor zweieinhalb Jahren einen schweren Suizidversuch unternommen und im Koma gelegen. Im letzten Jahr habe er wohl seine Ehefrau und sein dreijähriges Kind krankenhausreif geschlagen. Zu ihrem Sohn bestehe kein Kontakt mehr, nachdem er sie bei seiner Hochzeit ausgeladen habe. Zu ihrem Ehemann befragt, hat die Klägerin gegenüber der Sachverständigen erklärt, am 9. März 1974 geheiratet zu haben und wieder schwanger [Anmerk: mit O.] geworden zu sein. Daraufhin habe ihr Mann sie vor die Wahl gestellt, sich entweder für ihn zu entscheiden oder für das Kind. Dann habe sich der Ehemann am 3. Juni 1974 suizidiert, durch Gas. Den Grund wisse sie bis heute nicht. Am 7. Juni 1974 sei seine Einäscherung gewesen, sie habe seinen Leichnam nicht sehen dürfen.
Die Sachverständige Dr. W. ist sodann zu der zusammenfassenden Einschätzung gelangt, dass die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung möglicherweise nach der von der Klägerin angegebenen Inhaftierung richtungsgebend verschlechtert worden sei. Durch den sexuellen Missbrauch in der Kindheit sei es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, auch mit selbstverletzendem Verhalten gekommen. Danach habe die Klägerin jedoch weiter funktioniert. Die Ereignisse, die sie in der Haft habe erleben müssen, seien so schwerwiegend gewesen, dass sie bei den vorliegenden Vorbelastungen durchaus die Störung mit verursacht hätten. Sie reichten jedoch auch alleine aus, um eine schwere Störung wie die andauernde Persönlichkeitsänderung auszulösen. Inwieweit die Erinnerungen an die Folter in der Haft und selbstverletzenden Ereignisse und die Folgen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit auseinander gehalten würden, bleibe offen. Die Klägerin habe mehrfach geschildert, dass sie sich in tranceähnlichem Zustand auch Messer oder andere Gegenstände in die Vagina ramme oder sich auch infizierte Sachen in die Blase spritze.
Seit dem 1. August 2008 ist durch gesetzlichen Übergang im Rahmen der Verwaltungsreform die Zuständigkeit des Landesversorgungsamtes Chemnitz auf den Beklagten übergegangen, so dass dieser seit diesem Zeitpunkt als Beklagter das Verfahren führt.
Das Sozialgericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der psychologischen Psychotherapeutin Dipl.-Psych. X ... Diese Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 12. Mai 2010 ausgeführt, dass zusammenfassend festzuhalten sei, dass die Täuschungs- ebenso wie die Suggestionshypothese nicht zurückgewiesen werden könnten. Hervorzuheben sei außerdem, dass sich Mängel im Hinblick auf die Konstanz der Aussage der Klägerin zeigten. Die behauptete Aussage der Klägerin könne mit Hilfe der aussagenpsychologischen Methodik nicht verifiziert werden. Im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch im Alter von neun Jahren durch den Großonkel sei zusammenfassend auch hier festzuhalten, dass die Täuschungshypothese nicht zurückgewiesen werden könne. Möglich sei allerdings auch, dass es sich bei den von der Klägerin vorgetragenen Erinnerungen um Scheinerinnerungen handele. Insgesamt sei festzuhalten, dass sich an diversen Stellen Hinweise auf fremd- oder autosuggestive Einflüsse ergäben. Es lasse sich nicht klären, inwieweit fremdsuggestive und autosuggestive Einflüsse und intentionale Täuschung die Aussage der Klägerin zu welchem Zeitpunkt der Aussageentstehung und Aussageentwicklung mitbestimmt hätten; deshalb könne auch nicht festgestellt werden, auf welchen Prozessen die Angaben beruhten.
Auf Antrag der Kläger gemäß § 109 SGG hat das Sozialgericht daraufhin eine Begutachtung der Klägerin durch den Psychiater und Neurologen Dr. Y. veranlasst. Dieser Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 31. Dezember 2012 die Diagnose einer histronischen Persönlichkeitsstruktur mit selbstverletzendem Verhalten gestellt. Seit Anfang der 90er Jahre werde die Klägerin ambulant und zeitweilig auch stationär psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt. Die Aussageinhalte seien im Laufe der Jahre wiederholt in unterschiedlicher Intensität und in verschiedenen Kontexten thematisiert worden. Es falle auf, dass der sexuelle Missbrauch durch den Großonkel sehr viel später als die Stasihaft erzählt worden sei. Eine suggestive Beeinflussung der Erinnerungen könne nicht ausgeschlossen werden, sie sei angesichts der Persönlichkeit der Zeugin und der Befragungsumstände als sehr wahrscheinlich anzunehmen. Darüber hinaus habe die Motivanalyse vor dem Hintergrund der Persönlichkeit der Zeugin und den speziellen Lebensumständen einige falsche Belastungsmotive ergeben, die nicht ausreichend entkräftet werden könnten. Die Konstanzanalyse habe zahlreiche Inkonstanzen aufgezeigt, die mit gedächtnispsychologischen Gesetzmäßigkeiten nicht erklärt werden könnten und nicht auf eine Erinnerungsarbeit hinwiesen. Die Inhaltsanalyse ergäbe, dass die Realkennzeichen insgesamt nur in einfacher Ausprägung vorhanden und damit nicht als Qualitätsmerkmale zu interpretieren seien. Unter Berücksichtigung der spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen der Klägerin handele es sich um eine Aussage von geringer Aussagequalität. Aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen, unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der möglichen Einflüsse Dritter könne die Klägerin ohne einen realen Erlebnishintergrund eine Aussage wie die Vorliegende tätigen. Zusammenfassend sei damit festzustellen, dass die Klägerin die Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen Vergewaltigungen und Misshandlungen in dieser Form auch ohne einen Erlebnisbezug berichten könne. Diese Aussage gelte gleichermaßen für die Angaben der Klägerin zum sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit durch einen Großonkel.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 19. April 2013 die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht davon auszugehen sei, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Dies sei weder nachgewiesen, noch könnten die Aussagen der Klägerin gemäß § 15 KOVVfG der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Insoweit schließe sich das Gericht nach kritischer Würdigung den Ausführungen der Sachverständigen Z. und Dr. Y. an.
Gegen das ihr am 30. April 2013 zugestellte Urteil wendet sich die am 30. Mai 2013 eingegangene Berufung der Klägerin. Sie begehrt weiter Leistungen nach dem OEG und meint, dass das Sozialgericht in seiner Entscheidung die Regelung des § 15 Satz 1 KOVVfG nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt und damit den nach dieser Regelung eindeutig anzuwendenden Beweismaßstab verkannt habe. Die vom Sozialgericht veranlassten Gutachten über die Glaubhaftigkeit der Aussage berücksichtigten den milderen Beweismaßstab nicht und bürdeten ihr - der Klägerin - damit einen Beweismaßstab auf, den die Anspruchsgrundlage des § 15 Satz 1 KOVVfG nicht vorsehe. Aussagepsychologische Gutachten seien nicht uneingeschränkt auf sozialgerichtliche Entscheidungsprozesse übertragbar. Da das von Amts wegen eingeholte Glaubhaftigkeitsgutachten aufgrund des falschen Beweismaßstabes unverwertbar gewesen sei, habe das Sozialgericht keine tragfähige Entscheidungsgrundlage gehabt und hätte auch von Amts wegen ein weiteres Gutachten einholen müssen.
Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2014 hat die Klägerin erklärt, mit dem vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr an der Geltendmachung einer Beschädigtenversorgung wegen Vergewaltigung durch ihren Onkel im Kindesalter festzuhalten.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. April 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2004 aufzuheben,
2. den Beklagten zu verurteilen, ihr Heilbehandlung und Beschädigtenrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu bewilligen,
3. hilfsweise,
ein Sachverständigengutachten einzuholen, das dem Beweismaßstab des § 15 Satz 1 KOVVFG entspricht.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. April 2013 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und seinen mit ihm überprüften Bescheid für zutreffend.
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren gemäß § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 411 a ZPO zwei Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. AA. vom 14. August 2014 und 14. Oktober 2014 aus den Rechtsstreiten vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zu den Az.: L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 in den Rechtsstreit eingeführt. Auf den Inhalt dieser Gutachten wird Bezug genommen.
Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Dresden (Az.: 812 Js 10933/98) vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Dabei kann dahinstehen, ob das Sozialgericht im Hinblick auf den am 18. April 2013 gestellten Befangenheitsantrag der Klägerin zu Recht von einer Rechtsmissbräuchlichkeit dieses Antrages ausgehen und ihn "übergehen" durfte. Die fehlerhafte Besetzung des Gerichts bei Erlass des angefochtenen Urteils ist als Verfahrensfehler nur auf Rüge eines Beteiligten, nicht aber von Amts wegen zu beachten (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 2011, B 6 KA 32/10 R, SozR 4-2500 § 89 Nr. 5). Die fehlerhafte Besetzung der Richterbank des SG ist indessen von keinem der Beteiligten gerügt worden.
Streitgegenstand ist nach der Erklärung der Klägerin vom 13. Juni 2014 nur noch die Frage, ob die Klägerin von dem Beklagten wegen Folgen der Folter und des sexuellen Missbrauches im I. -Gefängnis in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 die begehrten Leistungen beanspruchen kann; die darüber hinausgehend von der Klägerin erhobene Klage betreffend Folgen eines sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel im Alter von ca. neun Jahren hat die Klägerin zurückgenommen, so dass hierüber nicht (mehr) zu befinden ist.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf die Feststellung von Schädigungsfolgen noch auf Gewährung von Beschädigtenrente und/oder Heilbehandlung wegen Folgen von Folter und sexuellem Missbrauch im I. -Gefängnis in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989, weil nicht festgestellt werden kann, dass sie Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.d. § 1 Abs. 1 OEG geworden ist.
Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.
1. Diese Bestimmung kann auf die Tat im sog. "I. -Gefängnis" im Bezirk J. (heute: U.) nicht ohne Einschränkung angewandt werden. Seit jeher bringt § 10 OEG, der mit "Übergangsvorschriften" betitelt ist, zum Ausdruck, dass vom Grundsatz her nur für solche Taten eine Entschädigung gewährt werden kann, die im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich des OEG stattgefunden haben. Gleichzeitig lässt die Norm aber zu, dass ausnahmsweise, nämlich unter den Voraussetzungen des § 10a OEG, eine Entschädigung auch dann gewährt werden kann, wenn es zu der Schädigung vor dem Inkrafttreten des OEG im jeweiligen Gebiet gekommen war. Das OEG ist in den neuen Bundesländern erst mit deren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 in Kraft getreten; eine Rückwirkung hat es nicht gegeben. Die Folter und der sexuelle Missbrauch, den die Klägerin in J. erleiden musste, werden somit nicht unmittelbar vom OEG erfasst. Jedoch hat das Übergangsrecht des Einigungsvertrags das Reglement der §§ 10, 10a OEG auch für Taten in den neuen Bundesländern vor deren Beitritt aktiviert. Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr. 18 lit. c, d hat folgenden Wortlaut:
"Bundesrecht tritt in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet mit folgenden Maßgaben in Kraft:
18. Opferentschädigungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Januar 1985 (BGBl. I S. 1), zuletzt geändert durch Artikel 6 des Gesetzes vom 26. Juni 1990 (BGBl. I S. 1211), mit folgenden Maßgaben:
c) § 10 gilt für Ansprüche aus Taten, die in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet nach dem 2. Oktober 1990 begangen worden sind. Darüber hinaus gelten die §§ 1 bis 7 für Ansprüche aus Taten, die in dem in Satz 1 genannten Gebiet in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 begangen worden sind, nach Maßgabe des § 10a.
d) § 10a gilt für Personen, die in dem in Artikel 3 des Vertrages genannten Gebiet ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben oder zur Zeit der Schädigung hatten, wenn die Schädigung in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in dem vorgenannten Gebiet eingetreten ist."
Der für anwendbar erklärte § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG macht für die Personen, die in seinen persönlichen Anwendungsbereich fallen, seit jeher den Entschädigungsanspruch von folgenden weiteren Voraussetzungen abhängig: Der Betroffene muss allein infolge der Schädigung, die (noch) nicht vom Geltungsbereich des OEG erfasst worden ist, schwerbeschädigt sein. Weiter muss der Betroffene bedürftig sein und im Geltungsbereich des OEG seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Das bedeutet für die Klägerin, dass sie einerseits die Voraussetzungen der §§ 1, 2 OEG, andererseits aber auch die Voraussetzungen des § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllen muss. Seit 1. Juli 2011 ist die Übergangsregelung des Einigungsvertrags in § 10 OEG als dessen Satz 4 und 5 integriert (vgl. Art. 3 Nr. 4 b) des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 20. Juni 2011, BGBl. I S. 1114). Eine sachliche Änderung ist im Zuge dessen insoweit erfolgt, als anders als die Regelung des Einigungsvertrags der jetzige § 10 Satz 5 OEG die §§ 1 bis 7 OEG nicht nur nach Maßgabe des § 10a, sondern auch des § 10c OEG gelten lassen will. Das hat aber für den vorliegenden Fall keine Auswirkungen. § 10c OEG lautet:
"Neue Ansprüche, die sich auf Grund einer Änderung dieses Gesetzes ergeben, werden nur auf Antrag festgestellt. Wird der Antrag binnen eines Jahres nach Verkündung des Änderungsgesetzes gestellt, so beginnt die Zahlung mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens, frühestens jedoch mit dem Monat, in dem die Voraussetzungen erfüllt sind".
Der Senat kann sich den Rückgriff auf § 10c OEG nur so erklären, dass das Inkrafttreten des OEG zum 3. Oktober 1990 eine "Gesetzesänderung" im Sinn von § 10c OEG sein soll. Die Rechtsfolge wäre, dass nach dem Beitritt erstens Ansprüche aus "alten" DDR-Taten einerseits nur auf Antrag zuerkannt werden, andererseits eine Rückwirkung bis zum Beitritt greifen kann, wenn die Anträge binnen eines Jahres nach dem Beitritt gestellt werden. Eine derart zeitnahe Antragstellung liegt bei der Klägerin nicht vor; sie hat erstmalig einen Antrag auf Beschädigtenversorgung im Juni 1999 gestellt. Zum einen jedoch liegt die Antragstellung der Klägerin damit zeitlich vor Inkrafttreten des § 10 Sätze 4 und 5 OEG, so dass ihr die Jahresfrist des § 10c OEG nicht entgegengehalten werden kann. Zum anderen darf der Einbeziehung von § 10c OEG nicht die Wertung entnommen werden, dass Ansprüche aus "alten" DDR-Taten nur dann entschädigt werden können, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach dem Beitritt gestellt worden ist. Die Einbeziehung von § 10c OEG soll keine Ausschlusswirkung haben (vgl. insoweit auch: Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 18. Februar 2014, L 15 VG 2/09).
2. Der Tatbestand des damit hier anwendbaren § 1 Abs. 1 S. 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 S. 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG Urteil vom 24. November 2010, B 11 AL 35/09 R, zit. nach Juris). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3b mwN).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i.S. des § 1 Abs. 3 S 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 mwN). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.
Bei dem "Glaubhafterscheinen" i.S. des § 15 S. 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rn. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 S. 1 SGG; vgl BSG Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 15).
a) Die von der Klägerin behauptete Folter sowie der sexuelle Missbrauch im I. -Gefängnis in J. in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 durch Stasi-Bedienstete ist nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen worden. Unmittelbare Tatzeugen sind nicht vorhanden. Der in erster Linie beschuldigte K. hat die Vorwürfe bestritten und stattdessen betont, die Klägerin nicht gefoltert/sexuell missbraucht und auch keine Kontakte zur Stasi unterhalten zu haben. Er hat die Vorwürfe wörtlich als "absurd" bezeichnet und darauf hingewiesen, als früherer Vorgesetzter der Klägerin bei der VEB-Lederwarenfabrik in Q. ihr eine unvorteilhafte Arbeitsbescheinigung ausgestellt zu haben, worin er ein mögliches Motiv für die Anschuldigungen erkannt hat. Das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren gegen diesen Beschuldigten ist eingestellt worden, was letztlich vom Oberlandesgericht Dresden mit der wesentlichen Begründung bestätigt worden ist, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte jemals offizieller oder inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sei. Darüber hinaus haben die Ermittlungen nach den Ausführungen des Oberlandesgerichts Dresden keinen Hinweis darauf erbracht, dass die Klägerin tatsächlich in der Zeit vom 9. bis zum 13. September 1989 in der Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit auf dem I. befunden hat. Dass diese Einschätzung zutreffend ist, wird nach Ansicht des Senates durch die Tatsache gestützt, dass weder die JVA U., noch die JVA AB., noch das Bundesarchiv Unterlagen über die Klägerin auffinden konnte und die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik mitgeteilt hat, dass die Klägerin zwar durch den Staatssicherheitsdienst auf einer Karteikarte erfasst gewesen sei. Ob überhaupt aufgrund dieser Erfassung Unterlagen geführt und diese vernichtet worden seien, sei nicht feststellbar. Hinweise zur Inhaftierung der Klägerin in der Untersuchungshaftanstalt der BV J. konnten jedenfalls nicht gefunden werden, obwohl in dieser Angelegenheit mehrfach recherchiert worden ist. Die Mutter der Klägerin - die nach Aussage der Klägerin aus eigener Wahrnehmung Angaben zu der Abholsituation aus ihrer Wohnung durch Bedienstete der Stasi machen könnte - ist zwischenzeitlich verstorben. Andere Beweismittel, die die Angaben der Klägerin bestätigen könnten, sind nicht ersichtlich.
b) Das Vorliegen der behaupteten Taten lässt sich auch nicht unter Zugrundelegung der Beweiserleichterung nach § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 KOVVfG annehmen. Nach § 15 S. 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. BSG Urteil vom 31. Mai 1989, 9 RVg 3/89, SozR 1500 § 128 Nr. 39 S 46). Zudem sind nach der Rechtsprechung des BSG - der der Senat folgt - nach dem Sinn und Zweck des § 15 S. 1 KOVVfG nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 S. 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 S. 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, zit. nach Juris).
Dieser Auslegung folgend ist § 15 S. 1 KOVVfG vorliegend anzuwenden, denn der Beschuldigte K. streitet den behaupteten Missbrauch und die Folter ab und Tatzeugen, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können, sind nicht vorhanden.
Die Behauptung der Klägerin, sie sei im September 1989 im I. -Gefängnis sexuell missbraucht und gefoltert worden, ist für den Senat jedoch nicht glaubhaft. Er stützt sich dabei auf seine eigene Überzeugung, die er sich aus den gesamten vorliegenden Unterlagen gebildet hat sowie ergänzend auf die Ausführungen der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. in ihrem Gutachten vom 12. Mai 2010 und Dr. Y. vom 31. Dezember 2012, die jeweils zur Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin erstattet worden sind.
aa) Ein ganz erheblicher Teil des Vortrages der Klägerin ist geprägt durch widersprüchliche Angaben, die die Klägerin in den vergangenen Jahren gegenüber Ärzten, Behörden und Sachverständigen getätigt hat. Widersprüche finden sich dabei zu allen Lebensbereichen der Klägerin, so dass der Senat große Mühe hat, überhaupt einen Lebenssachverhalt - und seien es auch nur die Angaben der Klägerin zu ihrem beruflichen Werdegang, ihrer familiären Situation, ihrem (früheren) Wohnort - annährend als "wahr" festzustellen. Dabei fällt insbesondere auf, dass die Klägerin mit fortschreitender Zeit einerseits immer neue düstere und furchtbare Erinnerungen und Erlebnisse berichtet, die häufig von Gewalt, Mord und Selbstmord geprägt sind (mehrere sexuelle Missbräuche/Bedrängungen durch wechselnde Täter, sowohl in eigener Person als auch der Tochter Astrid und der Mutter; Miterleben eines Mordes an einem Kleinkind durch einen Arzt im Krankenhaus, danach Abführen der Klägerin in einer Zwangsjacke und Zwangseinweisung in die Psychiatrie; Suizide bzw. versuchte Suizide in der unmittelbaren Bekanntschaft (Dr. T.) bzw. Verwandtschaft (früherer Ehemann, Sohn) mit anschließendem "Wiederauffinden" des früheren Ehemannes auf einem späteren Hochzeitsbild des Sohnes und Aufdeckung dessen "Untertauchens" durch die Klägerin; persönlicher Kontakt zu der sächsischen Kultusministerin und Einwirken auf diese zum Zwecke des Bestehens des Abiturs der Tochter AC.). Andererseits auffällig ist der Erzähleifer der Klägerin, wobei sie mit fortschreitender Zeit immer neue Details zu den Geschehnissen erinnern kann - die sie früher nicht berichtet hat - und ihre Angaben mit diesen Einzelheiten teilweise "genüsslich" und "begeisternd" wirkend ausschmückt (vgl. insoweit auch die Ausführungen von dem Sachverständigen Dr. Y. in seinem Gutachten vom 31. Dezember 2012).
Dem Senat ist es aufgrund der Fülle der widersprüchlichen Angaben der Klägerin unmöglich, alle Unstimmigkeiten zu benennen. Nur beispielhaft möchte er in diesem Zusammenhang auf folgende Punkte hinweisen:
(1) Beruflicher Werdegang
Den Ärzten des AD. -Krankenhauses AE. hat die Klägerin laut Arztbericht vom 11. Dezember 1967 erklärt, die erste Arbeitsstelle (Arbeitsvertrag als Konditoreilehrling) gewechselt zu haben, weil ihr die Arbeit zu schwer gewesen sei; die zweite Arbeitsstelle (Verkäuferin im Konsum) sei aus dem gleichen Grund aufgegeben worden; sie sei jetzt als Schreibkraft im Messgerätewerk AF. tätig. Ausweislich des Arztbriefes des Dr. AG. vom 22. Mai 1968 hat die Klägerin dort angegeben, nach der Schulentlassung aus der achten Klasse zunächst die Konditorlehre besucht zu haben, diese wegen der körperlichen Beschwerden aufgegeben und einen neuen Lehrvertrag als Verkäuferin abgeschlossen zu haben. Nachdem sie diesen wiederum gelöst hatte, habe sie im Messgerätewerk AF. im Lager gearbeitet. Da es ihr dort auch nicht gefallen habe, sei sie zuletzt als Aushilfskraft bei der SV tätig gewesen, dort wolle sie im Herbst 1968 eine Lehre als Bürokraft beginnen. Eigentlich habe sie Kinderpflegerin werden wollen, wegen des fehlenden Abschlusses der zehnten Klasse aber dazu keine Möglichkeit gehabt.
Aus dem Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung der Klägerin vom 24. März 1980 geht für die Zeit von Januar 1980 bis Mai 1989 Folgendes hervor: Die Klägerin hat danach vom 1. Januar bis 20. Juli 1980 in einer Rechtsanwaltskanzlei bzw. der zentralen Verwaltung J. als Maschinenschreiberin/Bürogehilfin gearbeitet. Vom 1. September 1980 bis 4. März 1982 hat sie als Sachbearbeiterin bei dem VEB Textilmaschinenbau AE. gearbeitet. Vom 5. April 1982 bis 14. Juni 1983 war sie bei dem VEB Wäschemoden in AH. als Heimstepperin tätig. Vom 15. Juni 1983 bis 16. April 1985 war die Klägerin als Näherin bei dem VEB AI. in AJ. tätig. Vom 17. April 1985 bis 24. September 1987 war sie bei dem AK. AL ... Lederwarenfabriken Q. "AM." als Überwachungskraft tätig. Vom 9. Dezember 1987 bis 11. Dezember 1987 übte die Klägerin den Beruf der Stanzerin aus (Betriebsteil IV des AK. Tafelgeräte), vom 2. Mai 1988 bis 2. Mai 1989 ist sie beim AK. Textilreinigung bzw. der Produktionsgenossenschaft der Orthopädie-Schuhmacher tätig gewesen.
Im Widerspruch zu diesen Angaben hat die Klägerin gegenüber der Staatsanwältin M. im Oktober 1997 behauptet, nach einem 1987 gestellten Ausreiseantrag durch die Staatssicherheit arbeitslos geworden zu sein. Dabei hat sie angegeben, in P. in Ihrem Beruf als Kinderkrankenschwester in der Universitätskinderklinik gearbeitet zu haben. In diesem Beruf habe sie bis 1972 richtig voll gearbeitet, bis sie ihre Tochter geboren habe. 1986 habe sie dann beim Betriebsschutz der AN. Lederwarenfabrik "AO." angefangen.
Dem Bericht der AP. -Klinik Bad AQ. vom 27. März 2000 ist wiederum zu entnehmen, dass die Klägerin Abitur gemacht habe; nach dem Abitur habe sie ein diakonisches Jahr in einer Heil- und Pflegeanstalt für geistig behinderte Kinder absolviert, danach habe sie eine dreijährige Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert. Sie habe Kinderärztin werden wollen, sei jedoch nach einem Semester von der Universität P. verwiesen worden, weil sie sich geweigert habe, in die Partei einzutreten. Sie habe bis 1972 in ihrem erlernten Beruf gearbeitet, nach 1975 in Aushilfe in eben diesem Beruf.
Dem Sachverständigen Dr. Y. hat die Klägerin im Dezember 2012 dagegen erklärt, die Schule nach der achten Klasse verlassen zu haben. Nach der Schule habe sie eine Ausbildung als Kindergärtnerin machen wollen, sei jedoch nicht angenommen worden. Sie habe eine Ausbildung als Konditorin begonnen, diese jedoch abgebrochen, weil "da war jemand von Eigenstock in der Konditoreiwerkstatt und da bin ich auch wieder ziemlich massiv belästigt worden". Ihr Abitur habe sie dann später in P. gemacht. An der Uniklinik habe sie dann auch eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester gemacht. Während ihrer Schwangerschaft 1972 habe sie als Intensivkinderkrankenschwester gearbeitet; zusammen mit einer Kollegin habe man sie von dort in die Psychiatrie zwangseingewiesen, weil sie den Mord an einem Säugling durch einen Arzt gemeldet habe.
Zwar ist der Klägerin zuzustimmen, dass die Schreiben des Bezirkskrankenhauses "AR." AE. vom 23. Mai 1986 sowie 1. Oktober 1987 einen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass die Klägerin möglicherweise tatsächlich den Beruf der Kinderkrankenschwester erlernt hat. Erklären kann sich der Senat diese Schreiben aber nicht. Letztlich hat die Klägerin für ihre entsprechende Behauptung auch keine Ausbildungs- oder Universitätsunterlagen vorgelegt. Die von ihr hierfür vorgebrachte Begründung, die Stasi habe ihr diese Unterlagen weggenommen, überzeugt den Senat nicht. Denn die Klägerin hat zu keinem Zeitpunkt dargelegt, wann, wo und in welchem Zusammenhang bei ihr Unterlagen durch die Stasi beschlagnahmt worden sein sollen. Dass sie diese Unterlagen im Tatzeitraum im I. -Gefängnis bei sich gehabt hat, hat die Klägerin jedenfalls selbst nicht behauptet.
(2) Wohnsituation
Die Klägerin hat in ihrer Vernehmung durch die Staatsanwältin M. im Oktober 1997 ausgesagt, zum Tatzeitpunkt in N. gewohnt zu haben, wobei es sich ausweislich des Ausweises für Arbeit und Sozialversicherung der Klägerin sowie des Schreibens des Bezirkskrankenhauses "AR." AE. vom 23. Mai 1986 sowie 1. Oktober 1987 wohl um die Anschrift "AS." gehandelt haben dürfte. Gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin im Dezember 2009 demgegenüber bekundet, zum Tatzeitpunkt in AT. im AU. in der AV. gelebt zu haben. Auch dann, wenn die Sachverständige Dipl.-Psych. X. möglicherweise die Angabe der Klägerin "N." als "AT." verstanden und dementsprechend nicht zutreffend übernommen haben könnte, sind "AW." und "AX." derart unterschiedlich, dass der Senat einen Verständnis- bzw. Übertragungsfehler in dieser Hinsicht als eher nicht wahrscheinlich ansieht.
Zu ihrer Wohnsituation befragt hat die Klägerin gegenüber der Staatsanwältin M. erklärt, in einer Mietwohnung gewohnt zu haben, vier Zimmer und Küche. Es seien in der Wohnung sie, ihre Mutter und ihr Sohn O. gewesen, als es um 22:45 Uhr geklingelt habe. O. habe geschlafen, ihre Mutter sei dabei gewesen und habe alles mitbekommen. Gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin die Situation hingegen so beschrieben, in der gemeinsamen Wohnung sehr beengt gelebt zu haben, man habe in einer Wohnung mit drei Generationen gelebt, eine total nasse, feuchte Wohnung gehabt. Ihr Sohn O. sei schon im Bett gewesen und ihre Mutter noch auf, als es um 10:45 Uhr geklingelt habe. Sie seien im Wohnzimmer gewesen. Und dann hätten sie oben im Haus noch zwei Zimmer gehabt, da habe der O. geschlafen, der sei nicht mit unten in der Wohnung gewesen.
(3) Abholsituation durch die Stasi
In ihrem Antrag auf Beschädigtenversorgung vom 2. Juni 1999 hat die Klägerin wörtlich folgendes angegeben: "Am 9.9. um 22.45 Uhr klingelten zwei Männer an meiner Wohnungstür, wiesen sich als Kripo aus und sagten, ich solle mitkommen zur Klärung eines Sachverhaltes. Im Auto wurden mir die Augen verbunden und im Gefängnis die Binde abgenommen. Schlimme Verhöre mit Folter, Misshandlung und Vergewaltigung erfolgten. 3-4 Männer fast rund um die Uhr. Ich wäre Staatsfeind weil keine Jugendweihe und FDJ-Mitgliedschaft der Kinder. Ausreiseantrag gestellt. Am 13.9. Entlassung."
Gegenüber der Staatsanwältin M. hat die Klägerin im Oktober 1997 insoweit angegeben, an diesem Abend seien zwei Leute gekommen. Die hätten eine Marke am Bändchen gehabt, am Kettchen. Gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin hingegen behauptet, draußen vor ihrer Wohnung hätten vier Männer gestanden, die sie zur Klärung eines Sachverhaltes abgeholt hätten. Diese vier Männer hätten ihr gesagt, sie seien von der Kriminalpolizei.
In Bezug auf die Autofahrt von ihrer Wohnung zum Gefängnis hat die Klägerin gegenüber der Staatsanwältin M. keinerlei Angaben gemacht, wohingegen ihre Angaben gegenüber der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. im Dezember 2009 sehr detailreich ausgefallen sind: So hat die Klägerin der Sachverständigen berichtet, in einem grauen Auto Marke Wartburg mit verdunkelten Scheiben abgeholt worden zu sein; bereits im Auto habe sie gemerkt, dass es sich nicht um die Kriminalpolizei gehandelt habe. Sie habe hinten im Auto gesessen, flankiert von zwei Männern, auch vorne saßen zwei. Sie sei völlig fertig gewesen, habe geweint und sei ziemlich rüde behandelt worden. Da habe es dann auch mit dem Duzen begonnen, sie sei nicht mehr Gesiezt worden. Von der Zeit her - sie habe die Uhr da gehabt - da habe sie ab und zu mal drauf geschielt, sie habe gewusst wie lange von AT. bis die Station mit nem Bus gebraucht habe und so und da habe sie sich schon - auch von der Zeit her denken können - wo das hin ging. Sie seien dann in den Haupteingang am I., Staatssicherheitsuntersuchungsgefängnis. I ... Sie habe das Gefängnis zwar nicht gekannt, aber es habe draußen auf nem Schild gestanden. So über der Tür an der Seite. Der Eingang sei ja erleuchtet gewesen.
Der Sachverständigen Dr. W. hat die Klägerin im Dezember 2007 hingegen erklärt, dass ihr sofort im Auto der Kopf runtergedrückt worden sei, damit sie nicht sehen konnte, wohin sie gebracht wurde.
(4) Erstes Verhör im Gefängnis
Gegenüber der Staatsanwältin M. hat die Klägerin nach der Schilderung der Abholsituation an ihrer Wohnungstür durch Bedienstete der Kripo/Stasi nur schlicht erklärt, dann erst mal in einen Raum geführt und verhört worden zu sein. Sie sei dann in´ne Zelle geführt worden. Da habe ´ne junge Frau gelegen. Es sei dann in zu einer oralen Vergewaltigung der Frau gekommen, wobei ihr gesagt worden sei "so nun pass gut auf, was wir mit der machen, das gleiche blüht dir auch". Die Vergewaltigung sei von denen vorgenommen worden, die sie zuvor verhört hatten. Sie sei dann in ihre Zelle gebracht worden. Und an dem ersten Tag, also in der ersten Nacht sei der Herr S. noch nicht dabei gewesen, da seien zwei andere Männer gekommen, die sie dann auch oral vergewaltigt hätten, ihr Bierflaschen in die Scheide gestoßen und sie auch getreten hätten. Dies sei schon in der ersten Nacht erfolgt, im Wechsel von 3-4 Männern.
Der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. hat die Klägerin erzählt, sie sei flankiert von beiden Seiten in den Haupteingang gegangen, sie sei hinten so am Arm festgehalten worden. Sie sei dann die Treppe runter in die Kellerräume geführt worden. Das Vernehmungszimmer sei oben gewesen, aber sie sei gleich in die Kellerräume geführt worden. Zu allererst in eine Zelle geführt worden. Die sei rechts gewesen. Da seien mehrere Räume gewesen. Eisentüren, dicke Schlösser dran. Sie hätten eine Zelle aufgemacht und ja es sei gleich losgegangen. Da sei eine junge Frau auf der Matratze gewesen und zwei Männer seien gerade dabei gewesen, sie oral zu vergewaltigen. Sie habe auf die Frau gekuckt, sei völlig fertig gewesen, weil die Männer gesagt hätten wenn du das Maul auch nicht aufmachst geht es dir ebenso. Sie habe die Männer gesehen. Das seien aber nicht die gewesen, die sie vergewaltigt hätten. Es seien zwei andere gewesen. Die habe sie auch nur einmal gesehen. Sie sei dann erstmal in ihre Zelle geführt worden und habe sich auf die Matratze gelegt oder gesetzt und erstmal versucht das Bild zu verarbeiten was sie da gerade gesehen habe. Und so gegen Mitternacht seien drei Männer gekommen und hätten sie zum Verhör abgeholt. Sie sei in einen anderen Verhörraum gebracht worden, die Treppe wieder hoch, gleich vorne am Anfang. Sie sei mit einer Lampe geblendet worden, voll ins Gesicht geleuchtet.
(5) Sexueller Missbrauch
Im Hinblick auf erlittene Gewalttaten hat die Klägerin in dem von ihr im Juni 1999 gestellten Antrag auf Beschädigtenversorgung nur angegeben, im Stasi-Gefängnis gefoltert und sexuell missbraucht worden zu sein. Andere Gewalttaten bzw. anderen erlebten sexuellen Missbrauch hat die Klägerin nicht thematisiert. Im Dezember 2007 hat die Klägerin dann - ohne dass dies zuvor im Verfahren eine Rolle gespielt hat - gegenüber der Sachverständigen Dr. W. berichtet, im Alter von neun Jahren circa ein Jahr lang regelmäßig von ihrem Großonkel vergewaltigt worden zu sein. Noch später, nämlich im Dezember 2012, hat die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen Dr. Y. behauptet, von 1979-1986 wiederholt Opfer sexueller Übergriffe eines Hausmitbewohners geworden zu sein, der auch ihre Tochter vergewaltigt und ihre Mutter sexuell bedrängt habe. Diesbezüglich hat die Klägerin erklärt, ihr Mann O. habe guten Kontakt zu einem Stasispitzel gehabt, der früher bei der SS gewesen und wegen sexuellen Missbrauches eines Kindes in der DDR inhaftiert gewesen sei. Der habe bei ihnen im Haus gewohnt und sei nach dem Tod ihres Mannes über sie hergefallen. Ihr Sohn O. habe sie eines Tages gerufen und gesagt, dass die AC. im Keller liege und blute. Die Vergewaltigung sei erfolgt, bevor AC. eingeschult worden sei. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. Y. hat die Klägerin im Dezember 2012 auch berichtet, die Ausbildung als Konditorin "wegen ziemlich massiver Belästigungen" abgebrochen zu haben.
(6) Familiäre Situation
Der Sachverständigen Dr. W. hat die Klägerin im Dezember 2007 erzählt, zu ihrem Sohn O. bestehe kein Kontakt mehr, nachdem er sie bei seiner Hochzeit ausgeladen habe. Der Sachverständigen Dipl-Psych. X. hat die Klägerin dagegen im Dezember 2009 berichtet, zu ihrem Sohn O. keinen Kontakt mehr zu haben, seitdem er ihr in der Klinik AY. eröffnet habe, sie - die Klägerin - für die Stasi "ausgeschnüffelt" und ihr von dem dadurch verdienten Geld finanzielle Unterstützung geleistet zu haben. Dazu habe O. gesagt: "Hätte ich damals noch mehr gesagt, hätten sie dich richtig verrecken lassen".
bb) Im Übrigen bezieht sich der Senat zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin auf die Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. X. vom 12. Mai 2010 und Dr. Y. vom 31. Dezember 2012. Beide Gutachten sind schlüssig und nachvollziehbar und gelangen ebenso übereinstimmend wie überzeugend zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Klägerin nicht positiv durch die aussagepsychologische Begutachtung verifiziert werden können, d.h., die Klägerin könnte ihre Angaben über die Stasihaft und die dort erlittenen Vergewaltigungen und Misshandlungen in dieser Form auch ohne einen Erlebnisbezug berichten.
Zusammengefasst hat die Klägerin zur Überzeugung des Senates nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dargetan, in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 Opfer von Folter und Missbrauch im I. -Gefängnis geworden zu sein. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten (z.B. Suggestion, falsche bzw. "Schein"-Erinnerungen) hält der Senat das Vorliegen der behaupteten Gewalttaten nicht für relativ am wahrscheinlichsten; nach der Gesamtwürdigung aller Umstände spricht nicht besonders viel für diese Möglichkeit.
cc) Der Senat hat keinen Anlass zur Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachens in Bezug auf die Angaben der Klägerin. Dies gilt insbesondere auch für ein Glaubhaftigkeitsgutachten, welches unter Abfassung entsprechender Beweisfragen dem besonderen Beweismaßstab des § 15 KOVVfG Rechnung tragen soll (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az. B 9 V 3/12 R).
Den Maßgaben des BSG vom 17. April 2013 (Az. B 9 V 3/12 R) folgend hat der Senat in den Rechtsstreiten L 10 VE 34/13 ZVW und L 10 VE 28/11 Beweis erhoben durch Einholung von Glaubhaftigkeitsgutachten durch die Sachverständige Prof. Dr. AA. über die dortigen Angaben der Klägerinnen unter besonderer Berücksichtigung von § 15 KOVVfG.
Aus den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. AA. vom 14. August 2014 und 14. Oktober 2014 ergibt sich auch für den vorliegenden Rechtsstreit Folgendes:
Die Sachverständige Prof. Dr. AA. hat ihren Gutachten zunächst grundsätzliche Erkenntnisse zu aussagepsychologischen Gutachten vorangestellt und Ziel und Methodik der aussagepsychologischen Begutachtung erläutert. Dabei ist der Senat davon überzeugt, dass die Ausführungen der Sachverständigen den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis in diesem Fachgebiet widerspiegeln und sich auch genauso in der entsprechenden Fachliteratur wiederfinden (vgl. u. a.: Renate Volbert "Glaubhaftigkeitsbegutachtung: Wie man die aussagepsychologische Methodik verstehen und missverstehen kann" in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention, Heft 2 2009, Seite 52 ff.; Luise Greuel, "Was ist Glaubhaftigkeitsbegutachtung (nicht)? Zum Problem der Dogmatisierung in einen wissenschaftlichen Diskurs" in: Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention, Heft 2 2009, Seite 70 ff.). Bei der Sachverständigen Prof. Dr. AA. handelt es sich um eine allgemein anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Glaubhaftigkeitsbegutachtung, die seit 1986 forensisch-psychologische Sachverständigentätigkeit mit dem Schwerpunkt aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung in Fällen sexueller Gewalt- und Missbrauchsdelikte leistet und durch zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen zu den Schwerpunkten Aussage-, Kriminal-, Vernehmungs- und Polizeipsychologie bekannt ist. Auch das BSG hat sich in seiner Entscheidung vom 17. April 2013 wiederholt auf Publikationen dieser Sachverständigen bezogen.
Prof. Dr. AA. hat in ihren Gutachten zunächst deutlich gemacht, dass die aussagepsychologische Begutachtung zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage zu den zentralen Aufgabenfeldern der forensischen Psychologie gehört und deren methodischen Prinzipien unterworfen ist. Die übergeordnete Fragestellung in der psychodiagnostischen Untersuchung laute generell: Wie ist das vorliegende menschliche Verhalten zu erklären? Übertragen auf die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ergebe sich die übergeordnete Frage: Wie kann das Zustandekommen der in Rede stehenden Zeugenaussage psychologisch am besten erklärt werden? Damit gehe es bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung lediglich um die Frage, ob es für die Aussage (z. B. einer Zeugin) andere wahrscheinliche Erklärungsmöglichkeiten als den Rückgriff auf Selbsterlebtes gebe. Die Zielsetzung der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung bestehe keinesfalls darin festzustellen, ob eine Person ohne jeden Zweifel die Wahrheit berichte. Aussagen zur Faktizität eines wie auch immer gearteten Erlebnissachverhaltes würden durch aussagepsychologische Gutachten grundsätzlich nicht getroffen. Die aussagepsychologische Begutachtung liefere vielmehr Wahrscheinlichkeitsaussagen zu der Frage, ob die Person die vorliegende Aussage auf dem Hintergrund ihrer individuellen Fähigkeiten unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen (auto-)suggestiven Einflüsse hätte erstatten und aufrechterhalten können, ohne dass sie auf einem wirklichen Erlebnishintergrund basiert. Das Ziel der aussagepsychologischen Begutachtung bestehe darin, den Erlebnisbezug und die Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zu substantiieren.
Die Sachverständige Prof. Dr. AA. hat weiter betont, dass sich die aussagepsychologische Begutachtung also nicht mit der - allgemeinen Glaubwürdigkeit einer Person im Sinne einer überdauernden Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit oder gar moralischen Integrität befasse, sondern nur mit der konkreten Aussage. Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei Leistungsdiagnostik, d.h., es gehe nicht um die Frage, ob eine konkrete Person aus habituellen Gründen die Unwahrheit sagen würde, sondern es gelte ganz konkret die Frage zu beantworten, ob diese Person von ihren psychischen Leistungsvoraussetzungen her und unter den gegebenen Umständen die vorliegenden Aussage vorgebracht und aufrechterhalten haben könnte, ohne dass sie sich hierbei auf einen wirklichen Erlebnishintergrund bezieht. - Faktizität der geschilderten Ereignisse befasse. Glaubhaftigkeitsbegutachtungen zielten nicht auf die Bewertung von Fakten ab, sondern einzig und allein auf die Generierung und Beurteilung von Gedächtnisrepräsentationen, also (verbalisierten) Erinnerungen. Die Annahme sei falsch, dass Glaubhaftigkeitsgutachten im Ergebnis feststellen könnten, ob ein geschildertes Tatgeschehen stattgefunden habe oder nicht bzw. "ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen". - Lügendetektion befasse. Aussagepsychologische Gutachten könnten weder verifizieren, dass sich ein Geschehen tatsächlich so zugetragen hat, wie geschildert, noch könnten sie faktisch feststellen, dass es sich bei einer Aussage tatsächlich um eine Lüge handele.
Im positiven Fall könnten aussagepsychologische Gutachten Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage zurückweisen. Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung sei letztlich eine Methode zur Substantiierung des Erlebnisgehalts einer Aussage - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Im Hinblick auf die Methodik der Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung hat die Sachverständige erklärt, dass Psychodiagnostik zunächst einmal nichts anderes als das systematische Überprüfen von Hypothesen bzw. Erklärungsmodellen für das Zustandekommen eines konkreten Verhaltens: hier der Entstehung einer konkreten Aussage, sei. Dieser Grundsatz sei bereits 1970 formuliert worden und begründe bis heute das Primat der hypothesengeleiteten Diagnostik. Es handele sich also keineswegs um eine "Neuerfindung" des BGH aus dem Jahre 1999, wie verschiedentlich suggeriert werde; selbstverständlich habe der BGH nur die langjährigen fachlichen Standards der Psychodiagnostik rezipiert und in die von ihm formulierten "wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Gutachten" aufgenommen. Dass dieser sich zur Veranschaulichung des hypothesengeleiteten Begutachtungsansatzes der Analogie zur im experimentellen Methodenverständnis vorherrschenden Unterscheidung von Null- und Alternativhypothese bedient habe, habe sich im forensischen Diskurs allerdings als eher kontraproduktiv erwiesen. So sei die ursprünglich intendierte Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer ergebnisoffenen Hypothesenprüfung im Sinne einer "Ausschlussdiagnostik" verfehlt worden. Die Sachverständige Prof. Dr. AA. hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund ihres Erachtens gänzlich auf die Verwendung des Begriffs der "Nullhypothese" verzichtet werden sollte, weil er in hohem Maße zur Desorientierung aller Beteiligten und damit letztlich zu (vermeidbaren) Missverständnissen in gerichtlichen Verfahren führe: So werde die irrige Annahme vertreten, dass psychologische Sachverständige so lange unterstellten, "dass ein angebliches oder tatsächliches Opfer eines Missbrauchs die Unwahrheit sage, bis diese Vermutung angesichts einer überwältigenden Fülle in entgegenstehender Befunde beim besten Willen nicht mehr aufrechtzuerhalten sei." Eine derartige Fehlkonzeption verkenne jedoch völlig, dass die Berücksichtigung und systematische Überprüfung von Hypothesen zum Wesen der Psychodiagnostik schlechthin gehöre.
Unter diesem Aspekt habe der BGH in seinem Folgeurteil vom 30. Mai 2000 eine für die forensische Praxis nutzbringende Klarstellung vorgenommen und explizit dargelegt, dass es sich bei den von Sachverständigen zu generierenden Untersuchungshypothesen um rein gedankliche Prüfschritte handele. Entscheidend sei, so die Sachverständige, dass unter Berücksichtigung aller im Einzelfall sinnvollen bzw. relevanten Erklärungsmodelle Annahmen über das Zustandekommen der konkreten Aussage generiert und durch geeignete psychodiagnostische Untersuchungsstrategien systematisch überprüft würden. Ob man dieses basale Prinzip der Psychodiagnostik als "Nullhypothesen"-Prüfung bezeichne oder nicht, sei für die Sache selbst völlig unerheblich.
Bei der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung gehe es also letztlich darum festzustellen, ob es gewichtige Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Aussage auf einer anderen Basis als dem Rückgriff auf tatsächliche Erlebniserinnerungen zustande gekommen seien könnte. Es sei die übergeordnete Untersuchungsfragestellung zu beantworten:
"Könnte dieser Zeuge/Kläger mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten seine spezifische Aussage über die fraglichen Ereignisse machen, wenn er diese überhaupt nicht oder nicht in der geschilderten Form erlebt hätte?"
Nur wenn sämtliche der im Einzelfall relevanten Konkurrenzannahmen zur Erlebnishypothese zurückgewiesen werden könnten, weil sie sich nicht schlüssig mit den erhobenen Befunden in Einklang bringen ließen, sei der logische Schluss gedeckt, dass die Aussage nicht anders als durch den Rückgriff auf wirkliche Erlebnisse erklärt werden könne. Glaubhaftigkeitsbegutachtung funktioniere also als eine Art Ausschlussdiagnostik. Der Erlebnisgehalt einer Aussage werde nicht positiv festgestellt, sondern es würden, im Idealfall, alternative Erklärungen und damit Zweifel an der Erlebnisbasis und Zuverlässigkeit einer Aussage zurückgewiesen. Wenn diese nicht zurückgewiesen werden könnten, sei daraus nicht zwangsläufig ableitbar, dass es sich tatsächlich auch um eine Falschaussage handeln müsse, diese Möglichkeit könne nur nicht mit der gebotenen Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden.
Prof. Dr. AA. hat betont, dass Rückschlüsse auf die faktische Grundlage einer Aussage allein der richterlichen Beweiswürdigung obliegen. Wissenschaftlich gedeckt sei in derartigen Fällen nur die Aussage, dass sich Zweifel am Erlebnisgehalt der Aussage, eventuell sogar auf mehreren Prüfebenen, nicht ausräumen ließen.
Weiter hat die Sachverständige erklärt, dass sich der normative Begriff der "Glaubhaftigkeit" quasi als ein sprachliches Kürzel für das Vorliegen von drei psychologischen Voraussetzungen darstelle, die allesamt erfüllt sein müssen, damit Erlebnisgehalt und Zuverlässigkeit einer konkreten Aussage bestätigt werden könnten. Hierbei handele es sich um:
- Aussagetüchtigkeit (Ausschluss individueller Leistungsdefizite)
- Aussagequalität (Ausschluss intentionaler Falschaussagen)
- Aussagezuverlässigkeit (Ausschluss nicht-intentionaler Aussagefehler)
Streng genommen lieferten aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Aussage ausschließlich Antworten zu diesen drei übergeordneten Fragestellungen, der hieraus resultierende Schluss auf die "Glaubhaftigkeit" der Aussage sei allein dem erkennenden Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung überlassen.
Dabei müsse bei der Überprüfung der Aussagezuverlässigkeit der Frage nachgegangen werden, ob für die vorliegende Aussage auch nicht-intentionale Verfälschungs- und/oder Verzerrungseffekte ausgeschlossen werden könnten. Im Rahmen dieser sog. Fehlerquellenanalyse gehe es primär darum, durch Rekonstruktion der Aussageentstehung und Aussageentwicklung festzustellen, ob Hinweise auf innere und/oder äußere Bedingungsfaktoren der Aussage vorliegen, von denen aus der gedächtnispsychologischen Forschung bekannt sei, dass sie grundsätzlich mit einem (u.U. sogar gravierend) erhöhten Risiko für Wahrnehmungs- und/oder Erinnerungsverfälschungen einhergingen. Sollten sich im konkreten Einzelfall eine Vielzahl von Indikatoren für die Ausbildung einer falschen Erinnerung auffinden lassen, so dass die Aussage durch hoch suggestive (interne wie externe) Einflussfaktoren überlagert oder sogar erst generiert worden sein könnte, dann sei die Methode der Aussageanalyse nicht mehr durchführbar. Suggerierte Aussagen könnten in ihrer Qualität erlebnisgestützten Aussagen sehr ähnlich sein, gerade dann, wenn die Aussageperson sich über einen langen Zeitraum sehr intensiv mit entsprechenden "Erinnerungsbildern" und Vorstellungen auseinandergesetzt habe, bis sie zur subjektiven Gewissheit geworden sei. D.h. aber auch, dass weder die Aussageperson selbst noch die aussagepsychologische Methode dazu in der Lage sei, zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen trennscharf zu unterscheiden. Prof. Dr. AA. hat betont, dass es derzeit keine wissenschaftliche Methode gebe, die diese Abgrenzung zwischen erlebnisfundierten und suggerierten Aussagen oder gar den positiven Nachweis einer Pseudoerinnerung erlauben würde. Für die Begutachtung bedeute dies, dass mit dem Nachweis eines hohen Suggestionspotentials in der Aussageentwicklung die Begutachtung abgeschlossen sei. Der Erlebnisbezug der Aussage könne dann nicht mehr bestätigt werden, weil andere Erklärungen - hier: suggestive Generierung und Kontamination der Aussage - (mindestens) ebenso wahrscheinlich seien.
Schlüssig zu diesen allgemeinen Ausführungen hat die Sachverständige Prof. Dr. AA. dann im Folgenden dargelegt, dass die vom BSG in seiner Rechtsprechung vom 17. April 2013 erhobene Forderung der besonderen Berücksichtigung von § 15 KOVVfG bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung mit den fachwissenschaftlichen Inferenzregeln der psychologischen Diagnostik nicht vereinbar sei und insofern von aussagepsychologischen Gutachten nicht eingelöst werden könne. Hier liege eine Vermischung von zwei unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Ebenen vor, nämlich der Ebene der psychologischen Hypothesenprüfung bzw. Inferenz auf der einen und der Ebene der richterlichen Beweiswürdigung auf der anderen Seite. Diese Vermischung sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die aussagepsychologische Methodik zumindest in Teilaspekten missverstanden und dementsprechend bei der Aufstellung dieser normativen Forderung von falschen Prämissen ausgegangen worden sei. Insbesondere seien die folgenden falschen Prämissen in vorliegendem Kontext von zentraler Bedeutung:
- dass es sich bei der aussagepsychologischen Begutachtung um einen besonders strengen, primär an den Beweismaßstäben des Strafrechts (Vollbeweis) ausgerichteten Beurteilungsprozess handele (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 55)
- dass aussagepsychologische Gutachten zu einer dichotomen "Glaubhaftigkeitsdiagnose führten (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 55) - dass der Prozess der (aussage-)psychologischen Hypothesenprüfung ähnlich einem statistischem Hypothesentest funktioniere und vor dem Hintergrund vorab festgelegter Wahrscheinlichkeitsgrade ("sehr hohe Wahrscheinlichkeit" vs. "relative Wahrscheinlichkeit") durchgeführt werden könne (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 56)
- dass sich zwischen den im konkreten Einzelfall jeweils relevanten Hypothesen ein "möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit" ergeben müsse (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 57)
Prof. Dr. AA. hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass die psychologische Begutachtung im Allgemeinen und aussagepsychologische Begutachtung im Besonderen grundsätzlich unabhängig von prozessrechtlichen Rahmenbedingungen und normativen Beweisregeln sei. Aus der Tatsache, dass Glaubhaftigkeitsgutachten überwiegend in Strafverfahren erstattet würden, sei verschiedentlich abgeleitet worden, dass hier die (besonders strengen) Beweismaßstäbe des Strafrechts (Vollbeweis) an die zu begutachtende Aussage angelegt würden. Unter Bezugnahme auf das BGH-Urteil zu Mindeststandards der aussagepsychologischen Begutachtung sei in diesem Zusammenhang zudem darauf verwiesen worden, dass die aussagepsychologische Begutachtung besonders gut mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Unschuldsvermutung korrespondiere und den strengen Beweisregeln des Strafrechts damit in besonderer Weise genüge. Prof. Dr. AA. hat eingeräumt, dass diese Analogie zwar nahe liege; sie hat aber betont, dass die strafrechtliche Unschuldsvermutung als solche selbstverständlich nicht die (aussage-)psychologische Prüfstrategie begründe. Es könne auch nicht die Rede davon sein, dass sich die aussagepsychologische Begutachtung an diesem normativen Beurteilungsmaßstab orientiere. Ausschlaggebend für die psychologische Hypothesenprüfung und Befundintegration seien ausschließlich fachwissenschaftliche Schlussfolgerungsregeln der Psychodiagnostik. Zusammenfassend hat die Sachverständige konstatiert, dass es sich bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung keinesfalls um die Anwendung prozessrechtlich spezifischer oder gar "besonders strenger" Beurteilungsregeln handele, sondern um die Anwendung grundlegender logischer Prinzipien, die in allen Bereichen der psychologischen Diagnostik auf die Hypothesenprüfung angewendet würden. Diese Prinzipien hätten nichts mit (mehr oder weniger strengen) normativen Beweismaßstäben zu tun, sondern seien ausschließlich fachwissenschaftlichen Inferenzregeln und basalen logischen Schlussfolgerungsregeln geschuldet. Ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten sei also per se nicht darauf ausgerichtet, den Vollbeweis zu der Frage zu erbringen, ob die Angaben des Zeugen/Antragstellers zutreffend sind. Es sei vielmehr darauf ausgerichtet, die im Einzelfall relevanten Möglichkeiten für das Zustandekommen einer Aussage zu explizieren, durch systematische psychodiagnostische Befunderhebung deren jeweilige Plausibilität mit psychologischen Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen und nachvollziehbar zu begründen, ob und ggf. inwieweit die psychologischen Befunde die Aussagetüchtigkeit des Zeugen/Antragstellers, den Erlebnisbezug sowie die Zuverlässigkeit seiner Aussage substantiieren.
Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als "in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft" oder "mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft" zu beurteilen seien, könnten von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden. Es handele sich im Übrigen auch um ein Missverständnis, wenn davon ausgegangen werde, dass ein aussagepsychologischer Sachverständiger Angaben erst dann als glaubhaft ansehe, wenn er alle Alternativhypothesen ausschließen könne (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 VR 3/12 R, Rn. 55). In aussagepsychologischen Gutachten stehe am Schluss des Bewertungsprozesses keine wie auch immer geartete "Glaubhaftigkeitsdiagnose", sondern nur die Feststellung, dass Zweifel am Erlebnisbezug und der Zuverlässigkeit der Aussage ausgeräumt werden können oder eben auch nicht. Streng genommen lieferten aussagepsychologische Gutachten zur Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage ausschließlich Antworten auf die Frage nach der Aussagetüchtigkeit einer Aussageperson, der Qualität sowie der Zuverlässigkeit ihrer Aussage. Der hieraus resultierende Schluss auf die "Glaubhaftigkeit" der Zeugenaussagen sei allein dem erkennenden Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung überlassen.
Auch orientiere sich die aussagepsychologische Begutachtung als Einzelfalldiagnostik nicht an extern vorgegebenen Grundwahrscheinlichkeiten. Die Psychologie sei eine empirische Wissenschaft und treffe demzufolge immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. Wenn nun gefordert werde, dass aussagepsychologischen Sachverständigen im Rahmen der sozialgerichtlichen Begutachtung - im Hinblick auf § 15 S. 1 KOVVfG - aufgegeben werden soll, die Frage zu beantworten "ob die Angaben mit relativer Wahrscheinlichkeit als erlebnisfundiert angesehen werden können" (BSG, Urteil vom 17. April 2013, B 9 V 3/12 R, Rn. 56), dann lasse sich dahinter das Bemühen erkennen, bei schwieriger Beweislage die Anforderungen an das Beweismittel "Aussage" zu reduzieren. Dies sei eine normative Perspektive, die mit der aussagepsychologischen Perspektive und dem Sachverständigenstatus nicht kompatibel sei. Hierdurch würde letztlich eine unzulässige Vorverlagerung von Beweiswürdigung in den aussagepsychologischen Begutachtungsprozess erfolgen. Diese Forderung impliziere aber auch, dass man quasi im Sinne einer quantitativen Niveauabsenkung "weniger strenge" Maßstäbe bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung anlegen könne. Dies sei - so Prof. Dr. AA. - in der Sache aber nicht möglich. Sowohl auf der Ebene der Einzelbewertungen als auch bei der Integration der Befunde zu einem diagnostischen Gesamturteil stelle sich nur die Frage, ob diese konkrete Aussageperson diese spezifische Aussage machen könnte, wenn sie sich nicht auf ein Erlebnis in der Wachwirklichkeit beziehen würde. Wie hoch die "Messlatte" für die Annahme der Erlebnishypothese im Einzelfall sei, ergebe sich also zwingend aus den individuellen Kompetenzen der Aussageperson und könne nicht beliebig abgesenkt werden.
Zusammenfassend hat die Sachverständige klargestellt, dass aussagepsychologische Gutachten von ihrer Logik her nicht darauf ausgerichtet seien, die differentielle Wahrscheinlichkeit der Alternativhypothesen zu prüfen. Es gehe ausschließlich um die Substantiierung des Erlebnisbezuges einer Aussage. Sei diese nicht möglich, könnten andere Ursachen für die Aussage nicht ausgeschlossen werden (non liquet). Damit sei die Begutachtung abgeschlossen. Der Nachweis einer intentionalen Falschaussage oder einer Pseudoerinnerung könne mit aussagepsychologischen Methoden im Regelfall letztlich nicht geführt werden.
Ergänzend hat die Sachverständige darauf hingewiesen, dass auch die Frage zu verneinen sei, ob es in einem sachgerecht erstellten Glaubhaftigkeitsgutachten möglich sei, so lange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen zu suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit ergibt. Dass die diagnostische Hypothesenprüfung grundsätzlich systematisch und ergebnisoffen erfolge, sei bereits hinreichend dargelegt worden. Das Ziel dieser systematischen Hypothesenprüfung bestehe aber nun gerade nicht darin, Aussagen über die wahrscheinliche Gültigkeit der Alternativhypothesen zu machen. Es sei nur möglich, Aussagen darüber zu machen, ob die im Einzelfall erhobenen Befunde allein durch den Erlebnisbezug der Aussage erklärt werden könnten oder nicht. Verkürzt formuliert gebe es im Grunde nur zwei mögliche diagnostische Entscheidungen:
- die vorliegenden Befunde ließen sich allein mit dem Rückgriff auf tatsächliche Erlebniserinnerungen erklären
- die vorliegenden Befunde ließen auch andere Erklärungen zu; die Aussage müsse nicht zwangsläufig erlebnisbasiert sein.
Darüber hinaus könnten aussagepsychologische Gutachten - gerade bei inkonsistenter Befundlage - zusätzliche psychologische Erkenntnisse und Hintergrundinformationen beisteuern, die zu einer differenzierten rechtlichen Würdigung dieser Befundlagen beitragen könnten.
In Bezug auf die intentionale Falschaussage sei in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass es schlicht keine wissenschaftlich validen Positivmerkmale für das Vorliegen einer Lüge gebe. Von daher könnten aussagepsychologische Gutachten - jenseits von Spekulationen - auch keine validen Aussagen darüber treffen, ob bei einem "Non Liquet" das Vorliegen einer Falschaussage denn wahrscheinlicher sei als der Rückgriff auf eine originäre Erlebniserinnerung. Ein aussagepsychologisches Gutachten könne zwar erläutern, dass keine der aus psychologischer Perspektive nahe liegenden Erklärungen für die vorgefundene schlechte Aussagequalität identifiziert werden könne, ein Beleg oder eine Überlegenheit der Falschaussagehypothese sei damit aber nicht gegeben.
Im Hinblick auf die Pseudoerinnerung hat die Sachverständige vergleichbare Ausführungen gemacht und betont, dass es gleichfalls keine wissenschaftliche Methode zur Unterscheidung von wahren und suggerierten Aussagen gebe. Aus diesem Grund werde - bei sehr hohem Suggestionspotenzial in der Aussagegenese und Aussageentwicklung - üblicherweise auch auf die Durchführung einer Qualitätsanalyse der Aussage verzichtet, weil sie ohnehin zu keinem anderen Urteil mehr führen könne. In einem derartigen Fall obliege es dem aussagepsychologischen Sachverständigen, nachvollziehbar aufzuzeigen, an welchen Punkten der Aussageentwicklung suggestionsrelevante Einflussfaktoren wirksam geworden sind und wie hoch dieses Suggestionspotential auf die konkrete Aussage aus psychologischer Sicht einzuschätzen sei.
Zwar sei von anderer Seite darauf hingewiesen worden, dass man in besonders extremen Fällen - etwa bei andauernder suggestiver Aufdeckungs- und/oder Erinnerungsarbeit - auch zu der Schlussfolgerung kommen könne, dass es deutlich mehr Hinweise für die Suggestionshypothese als für die Erlebnishypothese gebe, dann nämlich, wenn sich aufzeigen lasse, dass Suggestionsprozesse nicht nur potenziell, sondern tatsächlich wirksam worden seien. Tatsächlich hält Prof. Dr. AA. es allerdings für problematisch, bei Vorliegen auch einer Vielzahl von Indikatoren für eine Pseudoerinnerung die Überlegenheit der Suggestionshypothese psychodiagnostisch zu begründen. Denn, so die Sachverständige, man dürfe nicht übersehen, dass auch Erinnerungen an originär Selbsterlebtes durch Suggestionsprozesse überlagert werden könnten. In diesem Falle wären etwaige originäre Erinnerungsanteile allerdings nicht mehr als solche zu identifizieren. Zudem gebe es auch jene Fälle, in denen sich ursprünglich intentionale Falschaussagen unter extrem ungünstigen Suggestionsbedingungen (etwa wenn man sich lange und intensiv genug in der Vorstellung mit den ursprünglich erfundenen Szenarien beschäftigt) zu Pseudoerinnerungen entwickeln können, von deren "Wahrheit" die betreffende Person subjektiv überzeugt sei. Damit könne auch bei der Abgrenzung von erlebnisfundierten und suggerierten Aussagen streng genommen keine valide Aussage über die Überlegenheit der Suggestionshypothese, wohl aber über das aus psychologischer Sicht bestehende Suggestionspotenzial getroffen werden. Dieses könne so hoch sein, dass der Erlebnisbezug der Aussage nicht mehr bestätigt werden könne. Unter extrem ungünstigen Bedingungen könnten massive Suggestionsprozesse sogar originär erlebnisbasierte Aussagen als Beweismittel "zerstören".
Inwieweit eine in diesem Sinne qualitativ-psychologische Bewertung der Plausibilität konkurrierender Hypothesen für juristische Tatsachenfeststellung ausreiche, bleibe der richterlichen Beweiswürdigung - vor dem Hintergrund des jeweils anzulegenden Beweismaßstabes - vorbehalten. Die rechtliche Würdigung dieser Erkenntnisse und Schlussfolgerungen obliege letztlich dem Gericht.
Aus diesen überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Prof. Dr. AA. folgen für den Senat zwei Erkenntnisse:
(1) Die Glaubhaftigkeitsgutachten der Sachverständigen Dipl-Psych. X. und des Sachverständigen Dr. Y. sind de lege artis erstellt worden und geben keinen Anlass zu der Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachtens.
(2) Bei der aussagepsychologischen Hypothesenprüfung handelt es sich gerade nicht um die Anwendung prozessrechtlich spezifischer oder gar "besonders strenger" Beurteilungsregeln, sondern um die Anwendung grundlegender logischer Prinzipien, die in allen Bereichen der psychologischen Diagnostik auf die Hypothesenprüfung angewendet werden. Diese Prinzipien haben nichts mit (mehr oder weniger strengen) normativen Beweismaßstäben zu tun. Ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten ist also per se nicht darauf ausgerichtet, den Vollbeweis zu der Frage zu erbringen, ob die Angaben des Zeugen/Antragstellers zutreffend sind. Es sei vielmehr darauf ausgerichtet, die im Einzelfall relevanten Möglichkeiten für das Zustandekommen einer Aussage zu explizieren, durch systematische psychodiagnostische Befunderhebung deren jeweilige Plausibilität mit psychologischen Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten zu überprüfen und nachvollziehbar zu begründen, ob und ggf. inwieweit die psychologischen Befunde die Aussagetüchtigkeit des Zeugen/Antragstellers, den Erlebnisbezug sowie die Zuverlässigkeit seiner Aussage substantiieren. Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als "in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft" oder "mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft" zu beurteilen seien, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden. Aussagepsychologische Gutachten sind nicht darauf ausgerichtet, die differentielle Wahrscheinlichkeit der Alternativhypothesen zu prüfen; es geht ausschließlich um die Substantiierung des Erlebnisbezuges einer Aussage. Ist diese nicht möglich, können andere Ursachen für die Aussage nicht ausgeschlossen werden. Damit ist die Begutachtung abgeschlossen. Der Nachweis einer intentionalen Falschaussage oder einer Pseudoerinnerung kann mit aussagepsychologischen Methoden im Regelfall letztlich nicht geführt werden.
Schließlich kann ein sachgerecht erstelltes Glaubhaftigkeitsgutachten nicht so lange systematisch und unvoreingenommen nach Fakten zu den verschiedenen Hypothesen suchen, bis sich ein möglichst klarer Unterschied in ihrer Geltungswahrscheinlichkeit bzw. praktischen Gewissheit ergibt. Denn das Ziel der systematischen Hypothesenprüfung besteht gerade nicht darin, Aussagen über die wahrscheinliche Gültigkeit der Alternativhypothesen zu machen. Es ist nur möglich, Aussagen darüber zu machen, ob die im Einzelfall erhobenen Befunde allein durch den Erlebnisbezug der Aussage erklärt werden oder nicht. Darüber hinaus können aussagepsychologische Gutachten - gerade bei inkonsistenter Befundlage - zusätzliche psychologische Erkenntnisse und Hintergrundinformationen beisteuern, die zu einer differenzierten Würdigung dieser Befundlagen beitragen können.
Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft oder mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft zu beurteilen sind, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden.
Daraus ergibt sich, dass dem aussagepsychologischen Sachverständigen grundsätzlich keine besonderen Beweisfragen allein im Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG gestellt werden müssen. Es ist und bleibt Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu würdigen - womöglich unter Heranziehung eines "normalen" Glaubhaftigkeitsgutachtens - und sich eine Meinung dazu zu bilden, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die Angaben zutreffen und ob sie bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Fragen zum Umgang mit der Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG hat der Senat die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).