Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.06.2004, Az.: 2 K 457/03

Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wegen Nichtvorlage einer erforderlichen Studienbescheinigung; Zulässigkeit einer rückwirkenden Kindergeldfestsetzung bei Bestandskraft eines Aufhebungsbescheides und Rückforderungsbescheides

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
16.06.2004
Aktenzeichen
2 K 457/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 25966
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2004:0616.2K457.03.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - AZ: VIII B 208/04

Fundstelle

  • EFG 2005, 414-415 (Volltext mit amtl. LS)

Verfahrensgegenstand

Kindergeld/Einkommensteuer

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Die Bindungswirkung eines bestandskräftigen, die Gewährung von Kindergeld ablehnenden Bescheids beschränkt sich auf die Zeit bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe.

  2. 2.

    Der Steuerpflichtige handelt grob schuldhaft, wenn er einen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid über Kindergeld bestandskräftig werden läßt, obwohl ohne weiteres erkennbar ist, dass die Kindergeldfestsetzung nur deshalb aufgehoben worden ist, weil der Steuerpflichtige seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen war.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob noch rückwirkend Kindergeld für den Sohn A für den Zeitraum Januar 2001 bis Oktober 2002 festgesetzt werden kann oder die Bestandskraft eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid des Beklagten diesem entgegensteht.

2

Die Klägerin ist u.a. die Mutter des Kindes A, geb. 1978. Dieses Kind war seit dem Wintersemester 2000/2001 Student und erhielt Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG).

3

Die Klägerin beantragte im Januar 2001 Kindergeld für A. Der Beklagte setzte im Mai 2001 Kindergeld für A antragsgemäß mit 300 DM monatlich rückwirkend ab Januar 2001 fest.

4

Mit Schreiben vom 28. März, 25. Juli und 25. September 2002 forderte der Beklagte die Klägerin auf, für ihren Sohn A die Studienbescheinigungen ab Sommersemester 2001 sowie die Erklärungen über die Einkünfte und Bezüge des Kindes für die Jahre 2001 und 2002 einzureichen. Gleichzeitig mit dem Schreiben vom 25. September 2002 drohte der Beklagte - für den Fall der Nichteinreichung der angeforderten Unterlagen - die Aufhebung der Festsetzung sowie die Rückforderung des Kindergelds an. Die Klägerin äußerte sich hierauf nicht.

5

Der Beklagte hob mit Bescheid vom 23. Oktober 2002 die Kindergeldfestsetzung für A rückwirkend vom Januar 2001 an auf und forderte das Kindergeld für die Monate Januar 2001 bis September 2002, insgesamt 3.226,68 EUR, zurück. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

6

Erst im Dezember 2002 reichte die Klägerin die Erklärung über die Einkünfte und Bezüge für das Kind A für die Jahre 2001 und 2002 sowie Studienbescheinigungen seit dem Beginn des Studiums nach.

7

Der Beklagte setzte darauf hin Kindergeld für das Kind A rückwirkend ab November 2002 fest. Für die Zeit vor November 2002 verwies der Beklagte die Klägerin auf die Bestandskraft des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids. Er lehnte eine Aufhebung des Bescheids ab. Die Klägerin habe zwar nunmehr die Tatsachen vorgetragen, nach denen ihr Kindergeld für A schon ab Januar 2001 zugestanden hätte. EineÄnderung wegen nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO komme aber nicht in Betracht. Die Klägerin habe nämlich im Hinblick auf das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsachen grob schuldhaft gehandelt. Sie habe ihre Mitwirkungspflichten verletzt und die angeforderten Unterlagen nicht rechtzeitig eingereicht.

8

Gegen die Ablehnung der Änderung der Kindergeldfestsetzung richtet sich nach erfolglosem Vorverfahren die Klage. Die Klägerin ist der Auffassung, die Kindergeldfestsetzung sei rückwirkend auch noch ab Januar 2001 möglich. Die Bestandskraft des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids stehe dem nicht entgegen. Die Klägerin habe nämlich Tatsachen vorgetragen, die eine Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO rechtfertigten. Sie habe auch nicht grob schuldhaft gehandelt. Der Beklagte habe nämlich die Kindergeldfestsetzung aufgehoben, ohne ihr zuvor rechtliches Gehör zu gewähren. Sie habe zwar die Aufforderung zur Vorlage weiterer Unterlagen mit Schreiben des Beklagten vom 28. März 2002 erhalten. In diesem Schreiben habe der Beklagte aber keine Konsequenzen für den Fall der Nichtvorlage der Unterlagen angedroht. Die weiteren Schreiben vom 25. Juli 2002 und 25. September 2002, mit denen der Beklagte weitere Unterlagen angefordert habe, seien der Klägerin aber nicht zugegangen. Außerdem sei es nicht grob schuldhaft, wenn die Klägerin auf eine Anforderung von Unterlagen nicht reagiere. Die Klägerin habe auch nicht etwa deshalb grob fahrlässig gehandelt, weil sie gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid keinen Einspruch eingelegt hatte. Insoweit habe die Klägerin nämlich auf die getroffene behördliche Entscheidung vertrauen dürfen.

9

Die Klägerin beantragt,

unter Änderung des Festsetzungsbescheids vom 26. Februar 2003 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 11. Juli 2003 Kindergeld für das Kind A ab Januar 2001 festzusetzen.

10

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Er hält an seiner Auffassung fest, Kindergeld sei für das Kind A erst ab November 2002 festzusetzen, da die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar 2001 bis Oktober 2002 durch den Bescheid vom 23. Oktober 2002 bestandskräftig aufgehoben worden sei. Die Klägerin habe das nachträgliche Bekanntwerden von für den Kindergeldanspruch erheblichen Tatsachen zu vertreten.

Entscheidungsgründe

12

Die Klage ist unbegründet. Der Beklagte war nicht verpflichtet, den Ablehnungsbescheid zu ändern. Er hat zu Recht die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar 2001 bis Oktober 2002 abgelehnt.

13

Zwar stand der Klägerin materiell-rechtlich Kindergeld auch für diesen Zeitraum zu. Denn sie hatte im Dezember 2002 nachgewiesen, dass sich das Kind A in dieser Zeit als Student in der Berufsausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befand und dessen Einkünfte und Bezüge nicht die Grenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten hatten. Das Kind war danach ein nach §§ 63, 62 EStG bei der Klägerin berücksichtigungsfähiges Kind.

14

Die Kindergeldfestsetzung war jedoch aus formellen Gründen erst wieder ab November 2002 möglich. Die Klägerin hatte nämlich den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 23. Oktober 2002 bestandskräftig werden lassen. Die Bindungswirkung eines bestandskräftigen, die Gewährung von Kindergeld ablehnenden Bescheids beschränkt sich auf die Zeit bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe (BFH-Urteil vom 25. Juli 2001, VI R 164/98, BStBl. II 2002, 89).

15

Die Klägerin kann die Änderung der Festsetzung für den Zeitraum Januar 2001 bis Oktober 2002 weder nach den Vorschriften der § 70 Abs. 2 und Abs. 3 EStG sowie nach der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erreichen.

16

Die Vorschrift des § 70 Abs. 2 EStG kommt im Streitfall nicht zur Anwendung, weil im entscheidenden Zeitraum keine Änderung der für die Kindergeldgewährung erheblichen Verhältnisse eingetreten ist. Der Sohn A war nämlich im gesamten Zeitraum materiell-rechtlich als Kind zu berücksichtigen. Die erst durch die Vorlage der Studienbescheinigungen gewonnene nachträgliche Erkenntnis des Beklagten bedeutet aber keine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 70 Abs. 2 EStG (BFH-Urteil vom 25. Juli 2001, VI R 18/99, BStBl. II 2002, 81, Schmidt/Weber-Grellet EStG § 70 Rz. 5).

17

Nach der Vorschrift des § 70 Abs. 3 EStG kann zwar zur Beseitigung materiell-rechtlicher Fehler eine Neufestsetzung erfolgen. Diese Neufestsetzung wäre aber nur für die Zukunft mit Wirkung ab dem Monat nach der Bekanntgabe der Neufestsetzung möglich, mithin bei Neufestsetzung im Dezember 2002 erst ab Januar 2003. Stattdessen hatte der Beklagte Kindergeld aber schon nach § 70 Abs. 1 EStG ab November 2002 festgesetzt.

18

Zwar ist die Vorschrift des § 173 AO auch neben den Vorschriften der § 70 Abs. 2 und 3 EStG anwendbar (BFH-Urteil vom 25. Juli 2001, VI R 18/99, a.a.O.). Die Voraussetzungen für eine Änderung der Kindergeldfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten der Klägerin liegen aber nicht vor.

19

Nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Diese Vorschrift gilt nach § 1 Abs. 1 AO auch für das seit dem Jahre 1996 als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) gezahlte Kindergeld.

20

Dem Beklagten wurden zwar nach Erlass des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids Tatsachen bekannt, nach denen der Klägerin - unstreitig - Kindergeld für ihren Sohn A zugestanden hätte. Die Klägerin setzte den Beklagten nämlich im Dezember 2002 davon in Kenntnis, dass der Sohn A seit Januar 2001 Student war und seine Einkünfte und Bezüge nicht die für eine Berücksichtigung als Kind schädlichen Beträgeüberschritten hatte. Diese Tatsachen wirkten sich zugunsten der Klägerin aus, denn sie machten den Bescheid in materiell-rechtlicher Sicht rechtswidrig.

21

Dennoch muss eine Aufhebung des Bescheids unterbleiben, weil die Klägerin das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsachen zu vertreten hat. Sie hatte nämlich insoweit grob schuldhaft gehandelt.

22

Dabei kann dahin stehen, ob die Klägerin die Anforderungsschreiben des Beklagten vom 25. Juli 2002 und vom 25. September 2002 erhalten hatte. Denn die Klägerin räumt selbst ein, die Aufforderung des Beklagten vom 28. März 2002 erhalten zu haben. Zwar hatte der Beklagte in diesem Schreiben nicht die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung angedroht. Darauf kommt es aber nicht an. Die Klägerin hätte aber durch die Aufforderung wissen müssen, dass die Nichtvorlage der geforderten Unterlagen nicht folgenlos bleiben würde.

23

Außerdem wäre die Klägerin verpflichtet gewesen, sich gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid zu wenden. Sie hätte Einspruch einlegen und die fehlenden Unterlagen nachreichen können. Bei der Prüfung des groben Verschuldens ist nämlich auch der Zeitraum bis zur Bestandskraft des Bescheides einzubeziehen (BFH-Urteil vom 4. Februar 1998, XI R 47/97, BFH/NV 1998, 682 und BFH-Beschluss vom 10. Dezember 1997, VIII B 17/97, BFH/NV 1998, 1063; a.A. Tipke-Kruse/Loose AO § 173 Tz. 76). Die Klägerin hat aber den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid bestandskräftig werden lassen. Dies war grob schuldhaft. Es war für die Klägerin ohne weiteres erkennbar, dass der Beklagte die Kindergeldfestsetzung nur deshalb aufgehoben hatte, weil die Klägerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen war. Die Klägerin hätte den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid nicht bestandskräftig werden lassen dürfen.

24

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.