Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 19.01.2023, Az.: 8 U 199/22
Anspruch auf Gewährung von Deckungsschutz für eine beabsichtigte Klage gegen die Herstellerin des Fahrzeugs mit einer manipulierten Abgassteuerung; Auslegung der von der Klagepartei gewählten Parteibezeichnung; Auslegung von Prozesserklärungen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 19.01.2023
- Aktenzeichen
- 8 U 199/22
- Entscheidungsform
- Schlussurteil
- Referenz
- WKRS 2023, 18973
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hildesheim - 29.03.2022 - AZ: 3 O 284/21
Rechtsgrundlagen
- § 263 ZPO
- § 533 ZPO
In dem Rechtsstreit
H. N., ...,
Kläger, Berufungskläger und Anschlussberufungsbeklagter,
Prozessbevollmächtigte:
Anwaltsbüro K., ...,
gegen
XY GmbH, ...,
Beklagte, Berufungsbeklagte und Anschlussberufungsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte E., ...,
hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 9. Januar 2023 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und den Richter am Oberlandesgericht ... für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers und die Anschlussberufung der Beklagten wird das am 29. März 2022 verkündete Urteil des Einzelrichters der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hildesheim teilweise abgeändert und unter Zurückweisung der Anschlussberufung der Beklagten im Übrigen insgesamt wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag Nr. 035... im Zusammenhang mit der Schadennummer 035.../... verpflichtet ist, die Kosten der außergerichtlichen und erstinstanzlichen Wahrnehmung der rechtlichen lnteressen der Klagepartei gegen die ... aus dem Kauf eines ... (FlN ...) und der unterstellten Manipulation der Abgassteuerung dieses Fahrzeugs zu tragen.
Im Übrigen wird die Klage als derzeit unbegründet abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt die Beklagte.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis zu 9.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Die Anschlussberufung der Beklagten ist insoweit begründet, als der Anspruch des Klägers auf Freistellung von den mit der Erstellung des Schiedsgutachtens verbundenen Kosten jedenfalls derzeit unbegründet ist.
A. Berufung des Klägers
1. Die Berufung des Klägers ist zulässig. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung scheitert die Zulässigkeit der Berufung nicht an dem Umstand, dass der Kläger erstinstanzlich Deckungsschutz für eine Klage gegen die ... AG begehrt hat, während er im Berufungsverfahren Deckungsschutz für eine Klage gegen die ... begehrt.
Zwar ist der Beklagten im Ausgangspunkt zuzustimmen, dass eine Berufung nicht mit dem alleinigen Ziel einer Klageänderung zulässig erhoben werden kann. Die Berufung ist nur zulässig, wenn mit ihr die Beseitigung einer in dem angefochtenen Urteil liegenden Beschwer verfolgt wird. Das in der Vorinstanz abgewiesene Begehren muss zumindest teilweise weiterverfolgt werden. Eine Berufung, die die Richtigkeit der erstinstanzlichen Klageabweisung nicht in Frage stellt und von Anfang an ausschließlich einen neuen, bisher nicht geltend gemachten Anspruch zum Gegenstand hat, ist deshalb unzulässig (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2000 - VIII ZR 321/99; BGH, Urteil vom 6. Mai 1999 - III ZR 265/98).
Allerdings hat der Kläger mit seinem im Berufungsverfahren angepassten Antrag keine Klageänderung vorgenommen. Sowohl bei unrichtiger als auch bei mehrdeutiger äußerer Parteibezeichnung ist nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich die Person als Partei anzusehen, die erkennbar durch die Parteibezeichnung betroffen sein soll. Bei der Auslegung der von der Klagepartei gewählten Parteibezeichnung gilt der Grundsatz, dass die Klageerhebung gegen die in Wahrheit gemeinte Partei nicht an deren fehlerhafter Bezeichnung scheitern darf, wenn diese Mängel in Anbetracht der jeweiligen Umstände letztlich keine vernünftigen Zweifel an dem wirklich Gewollten aufkommen lassen. Bei der Auslegung von Prozesserklärungen ist ferner der Grundsatz zu beachten, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. August 2022 - VII ZR 62/22; BGH, Versäumnisurteil vom 8. Juli 2022 - V ZR 202/21; BGH, Urteil vom 27. Oktober 2020 - II ZR 355/18; BGH, Urteil vom 29. März 2017 - VIII ZR 11/16; BGH, Beschluss vom 17. Juni 2015 - XII ZB 458/14; BGH, Urteil vom 11. Juni 2013 - X ZR 38/12).
Auf dieser Grundlage war aber von vornherein auch für die Beklagte eindeutig erkennbar, dass sich die beabsichtigte Klage gegen den Hersteller des streitgegenständlichen Fahrzeugs richten sollte. Soweit der Kläger diesen Hersteller in der Berufungsbegründung als die ... bezeichnet hat, handelt es sich dementsprechend auch nicht um eine Klagänderung im Sinne von § 533, § 263 ZPO, sondern lediglich um eine Klarstellung dessen, was der Kläger bereits erstinstanzlich begehrt hat.
Soweit der Kläger mit seinem Berufungsantrag erneut die von ihm bereits vom Landgericht zuerkannte Freistellung von den Kosten des Schiedsgutachtens begehrt, ist die Berufung nicht dahingehend auszulegen, dass der Kläger die Freistellung von einer "weiteren" Gebührenforderung in derselben Höhe begehrt. Die Berufung ist vielmehr dahingehend auszulegen, dass der Kläger eine teilweise Abänderung und Neufassung des landgerichtlichen Urteils mit dem angekündigten Inhalt und damit unter Einschluss des ihm bereits zuerkannten Freistellungsanspruchs begehrt.
2. Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Gewährung von Deckungsschutz für eine beabsichtigte Klage gegen die Herstellerin des streitgegenständlichen Fahrzeugs gemäß § 1 Satz 1, § 125 VVG in Verbindung mit § 2 Nr. 1, § 21 Abs. 2, 6 der Verkehrs-Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen der XY-AG (... 2014) bzw. § 2 Nr. 1, § 21 Abs. 2, 6 ... 2006 zu [Anmerkung: nachfolgend werden die ... 2006 nur erwähnt, soweit sie von den ... 2014 abweichen]. Das folgt bereits aus dem vom Beklagtenvertreter im Termin zur mündlichen Verhandlung am 9. Januar 2023 erklärten Anerkenntnis. Weitergehender Ausführungen bedarf es insoweit nicht.
B. Anschlussberufung der Beklagten
Die Anschlussberufung der Beklagten ist insoweit begründet, als dem Kläger gegen die Beklagte jedenfalls derzeit kein Anspruch auf Freistellung von der anwaltlichen Gebührenforderung gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 ... 2014 zusteht.
Bei dem "Stichentscheid" vom 9. November 2020 handelt es sich um ein Schiedsgutachten im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 3 ... 2014, mithin um eine begründete Stellungnahme darüber, ob die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dass diese Stellungnahme gemäß § 17 Abs. 3 ... 2016 mit Bindungswirkung erfolgt, ist entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung keine Voraussetzung für das Vorliegen eines Schiedsgutachtens. Das folgt bereits aus § 17 Abs. 3 ... 2014. Danach ist das Schiedsgutachten für beide Seiten bindend, sofern es nicht offenbar von der wirklichen Sach- oder Rechtslage erheblich abweicht. Hieraus folgt, dass die Beklagte den von ihr verwendeten Bedingungen zufolge auch bei einer erheblichen Abweichung von der Sach- und Rechtslage von dem Vorliegen eines Schiedsgutachtens ausgeht. Denn anderenfalls würde jedes Schiedsgutachten die Parteien binden und der Regelung in § 17 Abs. 3 ... 2014 hätte es nicht bedurft.
Der Anspruch des Klägers ist allerdings derzeit unbegründet.
Dem Rechtsschutzversicherer steht es grundsätzlich frei, auf welche Weise er den Versicherungsnehmer von einer Gebührenforderung befreit. Entscheidend ist nur, dass das geschuldete Ergebnis - Befreiung des Versicherungsnehmers von der Verbindlichkeit - erreicht wird. Der Versicherer kann entscheiden, ob er die Gebührenforderung als Dritter gemäß § 267 BGB bezahlt, ob er mit dem Rechtsanwalt eine (befreiende) Schuldübernahme vereinbart oder ob er in anderer Weise erreicht, dass der Versicherungsnehmer nicht mehr der Gefahr ausgesetzt ist, Gebührenansprüche seines Rechtsanwalts erfüllen zu müssen. Hält der Versicherer die Gebührenansprüche für unbegründet, muss er dem Versicherungsnehmer deshalb bei deren Abwehr zur Seite stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2018 - IV ZR 216/17; BGH, Urteil vom 11. April 2018 - IV ZR 215/16).
Dementsprechend kann der Kläger von der Beklagten im Hinblick auf die gegen ihn gerichtete Gebührenforderung nur die Gewährung bedingungsgemäßen Versicherungsschutzes verlangen. Wie die Beklagte diesen Versicherungsschutz gewährt, ist grundsätzlich ihr überlassen. Nur am Rande soll darauf hingewiesen werden, dass sie bereits die Gewährung von Abwehrdeckung angekündigt hat.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 1, Nr. 10, § 713 ZPO. Von der Zulassung der Revision gemäß § 543 ZPO hat der Senat abgesehen. Der Rechtsstreit ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Auch die Fortbildung des Rechts erfordert keine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Der Streitwert einer Klage auf Gewährung von Deckungsschutz durch einen Rechtsschutzversicherer orientiert sich gemäß § 3 ZPO grundsätzlich an den voraussichtlichen, durch die gerichtliche oder außergerichtliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers entstehenden Kosten, deren Übernahme er durch den Versicherer erstrebt, abzüglich eines Feststellungsabschlags von 20 % (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - IV ZR 141/10).
Ausgehend von dem maßgeblichen Streitwert sind die Anwaltskosten beider Parteien, die Gerichtskosten und die Nebenausgaben (Ablichtungen, Zeugengelder, Gutachterkosten) zu ermitteln und zu addieren. Die Kostenprognose ist darüber hinaus jeweils auf die Instanz zu beschränken (vgl. OLG Oldenburg, VersR 1999, 252).
Der Kläger hat den ihm angeblich zustehenden Anspruch mit 42.469,77 € errechnet. Auf dieser Grundlage sind für die 1. Instanz zum Zeitpunkt der Klageerhebung in diesem Rechtsstreit folgende Kosten zu erwarten gewesen:
3 Gerichtsgebühren | 1.689,00 | € |
---|---|---|
0,65-fache vorgerichtliche Geschäftsgebühr inkl. Umsatzsteuer (vgl. Teil 3, Vorbem. 3, Abs. 4 VV-RVG) | 926,65 | € |
2,6-fache Verfahrensgebühr inkl. Umsatzsteuer | 3.706,61 | € |
2,4-fache Terminsgebühr inkl. Umsatzsteuer | 3.421,49 | € |
Auslagen, Fahrtkosten pp. (geschätzt) | 200,00 | € |
9.943,75 | € |
Diesem Betrag sind Kosten für die etwaige Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht hinzuzurechnen. Zwar ist hierfür ausreichend, dass die Kosten eines Sachverständigengutachtens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 15. Oktober 2019 - 11 W 24/19). Eine solche Prognose ist derzeit aber nicht möglich. Vielmehr kommt auf der Grundlage des bisherigen Parteivortrags eine Beweisaufnahme nicht in Betracht, weil die Klage derzeit unschlüssig ist und die unter Beweis gestellten Tatsachen nicht entscheidungserheblich sind. Soweit der Kläger die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten hat, betrifft das lediglich angebliche Auffälligkeiten bei den von ihm angesprochenen Vergleichsfahrzeugen. Dass die insoweit unter Beweis gestellten Ergebnisse eines Sachverständigen aber auf das streitgegenständliche Fahrzeug übertragen werden können, kann dem Vortrag des Klägers in Ermangelung näherer Angaben zu den jeweiligen Motorkennungen nicht entnommen werden.
Selbst wenn der Kläger auf einen entsprechenden Hinweis des mit der Sache befassten Gerichts noch die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung bzw. eines unzulässigen Thermofensters anbieten sollte, wäre diesem Beweisantritt nicht nachzugehen, solange der Kläger nicht zusätzlich greifbare Anhaltspunkte für einen Vorsatz zumindest eines vormaligen Mitglieds des Verwaltungsrats der Fahrzeugherstellerin (...) oder ihres ... vorträgt. Dass dem Kläger das möglich sein wird, ist derzeit nicht ersichtlich.
Dementsprechend beläuft sich der Streitwert für den Rechtsstreit in 1. Instanz unter Berücksichtigung des Feststellungsabschlags von 20 % für den Anspruch auf Deckungsschutz auf insgesamt 8.928,66 € (9.943,75 € x 0,8 + 973,66 €).
Der Wert für das Berufungsverfahren beläuft sich auf 8.842,03 € (9.943,75 € x 0,8 + 887,03 €).