Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.10.2001, Az.: L 3 P 89/98

Gewährung von Pflegegeld ; Voraussetzungen der Pflegestufe I; Maßgeblicher Hilfebedarf

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
25.10.2001
Aktenzeichen
L 3 P 89/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 24862
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:1025.L3P89.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - AZ: S 14 P 19/95

Prozessführer

A.

Prozessgegner

Pflegekasse bei der AOK-Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, Regionaldirektion Osnabrück, C.

Der 3. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat ohne mündliche Verhandlung am 25. Oktober 2001
durch
die Richterin am Landessozialgericht D. - als Einzelrichterin -
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von Pflegegeld nach dem SGB XI.

2

Der 1948 geborene Kläger stellte im Januar 1995 bei der Beklagten einen Antrag auf die Gewährung von Pflegegeld und legte zur Erläuterung Atteste seiner behandelnden Ärzte E. vom 08. Februar 1995 und F. vom 04. August 1993 vor. E. gab an, der Kläger leide an einer obstruktiven Bronchitis, einem ausgeprägten Übergewicht, einem inoperablen Hypophysentumor, erheblichen Kreislaufproblemen bei Blutniederdruck, Herzinsuffizienz und Kardiomyopathie mit Schwindelzuständen. G. erläuterte, dass bei dem Kläger unter Berücksichtigung der Diagnosen hirnorganisches Psychosyndrom bei Hypophysenadenom erhebliche Pflegebedürftigkeit bestehe. Der Kläger benötige ständige Betreuung und es bestände ständig die Gefahr der Verschlechterung seines Zustandes durch plötzliche Einblutungen in den Tumor. H. führte für den MDKN unter dem 06. März 1995 aus, dass nach Lage der Akten beim Kläger allenfalls Teilhilfen bei der Körperpflege anzunehmen seien, die keine Pflegestufe auslösten. Dies bestätigte auch der Arzt I. in seiner Stellungnahme vom 02. Mai 1995. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 24. Mai 1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. August 1995 die Gewährung von Pflegegeld ab.

3

Im nachfolgenden Klageverfahren hat das SG Atteste des E. vom 06. Juli 1995, des F. vom 28. September 1995 und 29. Mai 1996 mit Bericht J. vom 28. November 1991 und des Neurologen K. vom 10. Oktober 1991 beigezogen. Ferner hat die Beklagte ein weiteres Gutachten des MDKN L. vom 09. Februar 1996 vorgelegt. In dem Gutachten führte M. aus, dass bei dem Kläger lediglich gelegentlich eine Urininkontinenz bestehe. Als pflegebegründende Diagnose sei eine emotionale Instabilität bei bekanntem Hypophysentumor zu nennen. Die Begutachtung habe abgebrochen werden müssen, weil der Kläger eine deutliche emotionale Labilität aufgewiesen habe. Die im Gutachten aufgeführten Angaben zum Pflegebedarf entsprächen den Angaben des Versicherten und dessen Ehefrau und nicht der gutachterlichen Wertung. Unter Berücksichtigung des klinischen Eindrucks seien die Angaben zum Pflegeumfang nicht nachvollziehbar. Der F. führte in seinem Attest vom September 1995 aus, dass endokrinologische Ausfälle, Sehstörungen und orthostatische Regulationsstörungen beim Kläger zu verzeichnen seien. Der Hypophysentumor sei bereits in das Stirnhirn eingebrochen und habe zu einem peripheren Ausfall des Sehvermögens geführt. Der Hormonhaushalt sei gestört und es seien Verhaltensauffälligkeiten und eine allgemeine Leistungsminderung beim Kläger festzustellen. Am 29. Mai 1996 erläuterte G., dass der Kläger bis auf Baden und Duschen alles allein könne, seine Frau aber immer dabei sein müsse. Nach seiner Einschätzung liege der Schwerpunkt des Hilfebedarfs des Klägers in der Begleitung und Betreuung.

4

Das SG hat im Pflegeversicherungsverfahren ferner ein Gutachten des N. vom 06. Dezember 1995 beigezogen, das für das Versorgungsamt angefertigt wurde. Danach waren die Extremitäten beim Kläger bei der Untersuchung frei beweglich und es konnten auch keine Gangstörungen festgestellt werden. Ebensowenig fand N. bei der klinischen Untersuchung Anzeichen für Schwindelerscheinungen beim Kläger. Dieser habe sich vielmehr bei der Untersuchung frei bewegt. Im nervenärztlichen Gutachten des O. vom 13. Mai 1997, das vom SG im Schwerbehindertenverfahren eingeholt wurde, hieß es, der Kläger habe sich bei der Untersuchung selbst an- und ausgezogen. Nach seinen eigenen Angaben komme es beim Kläger zu unwillkürlichem Harnabgang nicht. O. führte in seiner Beurteilung aus, dass neben der hirnorganischen psychischen Beeinträchtigung beim Kläger bewußtseinsneurotische Reaktionen und demonstrative Verhaltensweisen für das gesamte psychische Zustandsbild eine erhebliche Rolle spielten. Nach seiner Einschätzung benötige der Kläger allenfalls gelegentlich Hilfe bei den alltäglichen Verrichtungen im Sinne von Anregung und Beaufsichtigung.

5

Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 31. August 1998 abgewiesen. Es hat zur Begründung erläutert, dass eine auffällige Diskrepanz zwischen den subjektiven Befindlichkeiten des Klägers und den von den Ärzten erhobenen objektiven Befinden festzustellen sei. Die vorliegenden bildgebenden Untersuchungsbefunde hätten im Übrigen umschriebene Hirnsubstanzschädigungen, die das Befindlichkeitsbild des Klägers erklären könnten, nicht zur Darstellung gebracht. Unter Berücksichtigung aller erhobenen Befunde sei davon auszugehen, dass der Kläger im Bereich der Grundpflege allenfalls marginale Hilfestellungen benötige, die den Umfang der Pflegestufe I nicht erreichten.

6

Gegen diesen seinem Bevollmächtigten am 03. September 1998 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 02. Oktober 1998 rechtzeitig Berufung eingelegt. Er macht geltend, es habe von Anfang an ein Pflegebedarf im Umfang der Pflegestufe I bestanden. Die vom SG im angefochtenen Gerichtsbescheid genannten Sachverständigengutachten seien im Rahmen des Schwerbehindertenverfahrens eingeholt worden, die zu den Fragestellungen der Hilfebedürftigkeit im Bereich der Grundpflege keine hinreichenden Darlegungen beinhalteten.

7

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 31. August 1998 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. August 1995 zu ändern,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Pflegegeld nach Maßgabe der Pflegestufe I ab 01. April 1995 zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Sie hält die angefochtenen Bescheide und den Gerichtsbescheid für rechtmäßig.

10

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein Gutachten der Pflegefachkraft P. vom 08. Juni 1999, ergänzt um eine Stellungnahme vom 07. August 1999, eingeholt. Danach benötigt der Kläger im Bereich der Grundpflege Hilfe in einem zeitlichen Umfang von 118 Minuten im Tagesdurchschnitt. Ferner hat er ein Gutachten des Nervenarztes und Psychotherapeuten Q. vom 03. März 2000 eingeholt, das dieser in dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 8. August 2000 näher erläutert hat.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zugrunde gelegen.

Entscheidungsgründe

12

Der Senat konnte mit Zustimmung der Beteiligten über die gemäß §§ 143 und 144 Abs 1 Satz 2 SGG zulässige Berufung des Klägers durch seine Berichterstatterin ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

13

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist unbegründet.

14

Nach § 15 Abs 1 Ziffer 1 Sozialgesetzbuch Buch XI Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) sind Versicherte als erheblich pflegebedürftig anzusehen und daher der Pflegestufe I zuzuordnen, wenn sie bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Hinsichtlich des insoweit erforderlichen Zeitaufwandes bestimmt § 15 Abs 3 Ziffer 1 SGB XI ergänzend, dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen muss; dabei müssen auf die Grundpflege, das heißt auf die Körperpflege, die Ernährung und die Mobilität im Sinne des § 14 Abs 4 Ziffern 1 bis 3 SGB XI, mehr als 45 Minuten entfallen. Die zuletzt erläuterte Vorschrift des § 15 Abs 3 SGB XI ist zwar erst mit Gesetz vom 14. Juni 1996 (BGBl I S. 830) mit Wirkung vom 1. Juli 1996 in das SGB XI eingeführt worden; mit ihr wollte der Gesetzgeber jedoch nicht die Rechtslage ändern, sondern die aus seiner Sicht bereits vorher bestehende Gesetzeslage lediglich klarstellen. Dementsprechend sind die Zeitvorgaben des § 15 Abs 3 SGB XI im Wege der Gesetzesinterpretation auch bereits für die Zeit vor Juli 1996 zu berücksichtigen.

15

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen haben das SG und die Beklagten zu Recht verneint. Dabei ist zunächst bedeutsam, dass nach der oben genannten Vorschrift des § 14 Abs. 1 SGB X nur der Hilfebedarf für die Gewährung von Pflegegeld maßgeblich ist, der wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung anfällt. Unter Behinderung ist eine dauerhafte und erhebliche Funktionsbeeinträchtigung zu verstehen, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht und sich auf die Fähigkeit zur Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft auswirkt. Der Begriff der Krankheit stimmt damit im wesentlichen überein, setzt jedoch - anders als die Behinderung - Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit voraus. § 14 Abs. 2 SGB X unterscheidet in körperliche (organische) und geistig-seelische Behinderungen und Krankheiten, und zwar im Hinblick auf Funktionsstörungen des Stütz- oder Bewegungsapparates (Nr. 1), Funktionsstörungen der inneren Organe und der Sinnesorgane (Nr. 2) sowie Störungen des zentralen Nervensystems, psychische Erkrankungen (Psychosen, Neurosen) und geistige Behinderungen (Nr. 3). Dieses differenzierte Schema soll nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers deutlich machen, dass nicht-medizinische Ursachen für die Anerkennung der Pflegebedürftigkeit nicht ausreichen, und es soll dem begutachtenden Arzt die Gesamtbeurteilung erleichtern (vgl. Hauck/Wilde, SGB XI, Stand 01.10.2000, § 14 Rdnr. 26). Auf die Ursache der Krankheit oder Behinderung kommt es nicht an. Krankheit oder Behinderung müssen jedoch nach der für das Sozialrecht maßgebenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung die wesentliche Ursache der Pflegebedürftigkeit sein. Damit bleibt "sozial bedingte" Hilfebedürftigkeit außer Betracht (vgl. Hauck/Wilde a.a.O. Rdnr. 27).

16

Der Senat vermag unter Berücksichtigung der vorhandenen medizinischen Atteste, Berichte und Gutachten sowie des Gutachtens der Pflegefachkraft nicht zu der Feststellung zu gelangen, dass bei dem Kläger ein erheblicher Pflegebedarf besteht, der wesentlich krankheits- oder behinderungsbedingt ist. Als wesentlich sind nach der Rechtsprechung des BSG nur diejenigen Bedingungen anzusehen, die nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Wenn mehrere Umstände gemeinsam zu einem Erfolg beigetragen haben, sind sie rechtlich nur dann wesentliche Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite annähernd gleichwertig sind (vgl BSGE 13, 176). Dass die bei dem Kläger bestehenden Krankheiten und Behinderungen die wesentlich Ursache für den geltend gemachten Pflegebedarf darstellen, kann dem Ermittlungsergebnis nicht entnommen werden. Das ergibt sich aus folgendem:

17

Aus den bei den Akten befindlichen medizinischen Attesten und Gutachten geht hervor, dass bei dem Kläger seit 1988 ein inoperabler Hypophysentumor bekannt ist, wobei es sich um einen ausgedehnten, bereits in das Stirnhirn eingebrochenen Prozess handelt (Bericht R. an das SG Osnabrück vom 29.05.1996). Nach R. bestehen die Symptome seitens des Tumors in einer Hypophyseninsuffizienz mit Ausfall der peripheren Hormone, einem Stirnhirnsyndrom mit Verhaltensauffälligkeiten und einer allgemeinen Leistungsminderung. Außerdem sei es zu einer Schädigung der Sehnervenkreuzung gekommen mit beträchtlichem Visusabfall. In dem Bescheid des Versorgungsamtes vom 30. Mai 1995 sind als Behinderungen ferner eine Fettleber, chronische Magenschleimhautentzündung mit Verdauungsstörungen, Blutunterdruck mit Kreislaufregulationsstörungen, rückfällige Bronchitis, Schwindelerscheinungen, Harninkontinenz bei Harnblasenschwäche und depressive Störungen genannt. Zur Frage der Relevanz der Erkrankungen und Behinderungen des Klägers in Bezug auf die Verrichtungen des täglichen Lebens hat R., der den Kläger auch in seinem häuslichen Bereich aufgesucht hat, in seinem Bericht dargelegt, dass im Bereich der Körperpflege, Duschen, Baden Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung keine Hilfe erforderlich sei. Beim Baden und Duschen nehme der Kläger allerdings Hilfe in Anspruch. Die mundgerechte Zubereitung der Nahrung und die Nahrungsaufnahme führe er ebenso selbständig durch, wie das Aufstehen, Zubettgehen, ebenso An- und Auskleiden. Der Schwerpunkt des Hilfebedarfs liege in der Unterstützungsbedürftigkeit und der fast ununterbrochen notwendigen Begleitung und Betreuung, so dass auf Grund der organisch bedingten psychischen Störungen eine Betreuung durch die Ehefrau im Sinne der Pflegestufe 2 bis 3 erforderlich sei. Diese Schlussfolgerung wird durch die von S. selbst genannten Befunde und deren Auswirkungen nicht gedeckt.

18

Der Neurologe T. hat demgegenüber in seinem für das Sozialgericht im Rahmen des Schwerbehindertenverfahrens erstatteten Gutachten vom 13. Mai 1997 zum psychischen Befund dargelegt, dass der Kläger bewusstseinsklar und voll orientiert sei. Sicher bestehe eine vermehrte emotionale Störbarkeit und nervöse Unruhe bei verstärkter Reizbarkeit mit zeitweise überschiessenden Affektreaktionen. Ferner seien eine leichte allgemeine Antriebssteigerung und deutliche Stimmungslabilität gegeben und es fielen depressive, gelegentlich aber auch aggressive Reaktionen auf. Eine durchgehende tiefergehende Verstimmung bestehe aber nicht. Der Gedankengang sei geordnet, eine Bewußtseinsstörung liege nicht vor, die Merk- und Konzentrationsfähigkeit seien nur leicht beeinträchtigt. Eine bedeutungsvolle sekundäre Intelligenzminderung sei nicht fassbar. Neben einer hirnorganischen, psychischen Beeinträchtigung spielten bewusstseinsnahe, neurotische Reaktionen und demonstrative Verhaltensweisen für das gesamte psychische Zustandsbild eine erhebliche Rolle. In seiner Beurteilung führte T. aus, dass eine Hilflosigkeit, die so erheblich wäre, dass der Kläger für die gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe bedürfe, nicht vorliege. Es sei auch nicht erforderlich, dass eine fremde Hilfsperson dauernd in Bereitschaft stehen müsse, z.B. wegen plötzlicher, akuter Lebensgefahr.

19

Das SG Osnabrück ist in dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 31. August 1998 unter Bezugnahme auf die Beurteilungen des U. vom 09. Februar 1996, der in dem für das Versorgungsamt mitgeteilten Befunde des Chirurgen N. vom 06. Dezember 1995 und des Gutachtens des Neurologen und Psychiaters V. vom 13. Mai 1997 zu dem Ergebnis gelangt, dass zwischen der subjektiven Befindlichkeit des Klägers einerseits und den objektiv erhobenen Befunden andererseits eine auffällige Diskrepanz bestehe und insbesondere der Behinderungszustand durch demonstrative Verhaltensweisen grob verzeichnet werde. Es könne zwar nicht in Abrede gestellt werden, dass der Kläger als Folge des inoperablen Hypophysentumors mit dezenter Begleitsymtomatik durch Schwindelerscheinungen im Ablauf des täglichen Lebens in gewisser Weise funktionell beeinträchtigt sei, für die dargebotene Hinfälligkeit mit massiver Gang- und Standunsicherheit fehle es indessen angesichts mangelnder Hinweise auf umschriebene Hirnsubstanzschädigungen an jeglichem klinischem Korrelat. Da nach dem Willen des Gesetzgebers nur derjenige Hilfebedarf Beachtung finden könne, der für die Aufrechterhaltung der elementaren Lebensführung unerlässlich sei und allgemeine Zuwendung und Kontrollmaßnahmen wie auch der gesamt sozio-kulturelle Bereich außer Betracht bleiben müssten, sei für die Annahme von Pflegebedürftigkeit vorliegend kein Raum. Diese Erwägungen hält auch der Senat für überzeugend, zumal insbesondere die letzten Darlegungen des SG inzwischen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) bestätigt worden sind (vgl Urteil vom 26.11.1996, Az.: B 3 P 2/98 R).

20

Im Berufungsverfahren sind für den Kläger keine günstigeren Gesichtspunkte zutage getreten. Zwar hat die Pflegefachkraft P. in dem Gutachten vom 08. Juni 1999 nebst ergänzender Stellungnahme vom 07. August 1999 einen Hilfebedarf des Klägers im Bereich der Grundpflege von insgesamt 118 Minuten im Tagesdurchschnitt ermittelt. In den Abschlussbemerkungen zum Gutachten hat der Sachverständige indessen dargelegt, der Kläger habe glaubhaft gemacht, dass er ständig auf die Hilfe seiner Ehefrau angewiesen sei. Auch praktische Übungen und die glaubhafte Darstellung der Tatsachen durch die Ehefrau hätten gezeigt, dass er diese Hilfe unbedingt brauche. Aus diesen Äußerungen wird deutlich, dass der Sachverständige seine Feststellungen im Wesentlichen auf die Angaben des Klägers und seiner Ehefrau gestützt hat und diese nicht durch eigene Befunderhebung gedeckt werden. Insbesondere hat er nicht dazu Stellung genommen, inwieweit die von dem Kläger und dessen Ehefrau dargestellten Hilfestellungen aus pflegerischer Sicht auch tatsächlich notwendig sind. Damit ist das Gutachten nicht geeignet, als hinreichende Grundlage für die Feststellung des Pflegebedarfs des Klägers zu dienen.

21

Auch aus dem Gutachten des Nervenarztes und Psychotherapeuten W. vom 03. März 2000 lassen sich keine für den Kläger günstigeren Schlussfolgerungen ziehen. Dieser hat dargelegt, dass bei dem Kläger auf psychiatrischem Fachgebiet eine leichte organische Wesensänderung mit Antriebsschwäche und Reizbarkeit zu diagnostizieren sei. Die geringe Belastbarkeit und die multiplen körperlichen Beschwerden könnten teilweise dem Krankheitsbild der Pseudoneurasthenie zugeordnet werden. Darüber hinaus bestehe eine leichte bis mässiggradige depressive Verstimmung, bei der nicht mit letzter Sicherheit festzustellen sei, inwieweit sie auf vorbestehenden konstitutionellen Ursachen, auf endokrinen Einflüssen im Rahmen des organischen Grundleidens oder auch im Sinne einer reaktiven Depression auf der langjährigen unbefriedigenden Lebenssituation und anderen Kränkungen (Kinderlosigkeit, Verlust der Heimat) beruhe. Schwer einzuordnen sei die von dem Kläger angegebene zeitweilig bestehende optische Halluzination in Form des Sehens von Personen und Schlangen ohne realen Hintergrund. Optische Halluzinationen könnten im Rahmen hirnorganischer Beeinträchtigungen, wie der Hirndrucksteigerung durch den Tumor, durchaus auftreten, auffallend sei allerdings die geringe affektive Beteiligung an diesem Bericht und die Tatsache, dass ein derartiges, in der Regel doch subjektiv sehr eindrucksvolles Symptom bisher offenbar nicht angegeben worden sei und jedenfalls in den Vorberichten nicht erscheine. Es sei auch festzuhalten, dass der Kläger nach eigenen Angaben mit seiner Frau in einer sehr engen Gemeinschaft bei praktisch fehlendem Kontakt zu anderen Menschen lebe und sein Verhalten mit völliger Passivität und Versorgtwerden durch die Ehefrau über Jahre hin angehalten habe. Daraus ergebe sich die besondere Schwierigkeit für die abschließende Beurteilung der Beweisfragen. Ein pathologischer psychiatrischer Befund liege zwar vor und sei durch den anderweitig diagnostizierten Hypophysentumor, aber auch durch die Lebenssituation durchaus erklärbar. Die dadurch gegebene Beeinträchtigung sei jedoch objektiv nicht so stark, dass sie die völlige Hilflosigkeit des Kläger erkläre. Die von anderer Seite erhobenen und gewürdigten körperlichen Befunde führten bei eigener Würdigung zu einem ähnlichen Ergebnis. Festzuhalten sei, dass sich der Kläger über Jahre hin in einer Situation eingerichtet habe, in der er subjektiv von seiner völligen Hilflosigkeit überzeugt gewesen sei und sich immer wieder in die vollständige Abhängigkeit von seiner Ehefrau begeben habe. Diese habe die Entwicklung unterstützt und sich der Erwartung entsprechend verhalten. Es sei ein Verhaltensmuster und Beziehungssystem entstanden, das nach so langer Zeit und bei der gegebenen Ausgangssituation nicht mehr veränderbar erscheine, wobei die durch die hirnorganische Beeinträchtigung gegebene geringe Flexibilität, aber auch kulturbedingte Reaktionsweisen diese Tendenz verstärkten. Auffallend sei, dass die durchaus symptomreduzierende und erfolgversprechende medikamentöse Behandlung des Tumors mit Pravidel offenbar wieder aufgegeben worden sei, wobei nicht ersichtlich sei, wann und warum dieses geschehen sei. Ebenso falle das völlige Fehlen des Versuchs einer aktivierenden Therapie, die den Kläger gefördert und die eingetretene völlige Passivität verhindert hätte, auf. Soweit der Kläger und seine Ehefrau übereinstimmend mit subjektiver Überzeugung dargelegt hätten, dass der Kläger für nahezu alle nur denkbaren Verrichtungen ständig fremder Hilfe bedürfe, werde diese Aussage durch den objektiven psychiatrischen Befund nicht gedeckt. Aus psychiatrischer Sicht ergebe sich kein nennenswerter besonderer Pflegebedarf. Festgestellt werden müsse jedoch, dass sich bei dem Kläger eine Fehlhaltung im Sinne einer subjektiven Überzeugung völliger Abhängigkeit, unterstützt durch das Verhalten der Ehefrau, über Jahre entwickelt habe und nunmehr praktisch unabänderlich geworden sei. In dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 8 August 2000 hat der Sachverständige dem Senat ergänzend erläutert, dass der Hirntumor sicherlich als Ausgangspunkt der Entwicklung, die zur Hilflosigkeit geführt habe, anzunehmen sei. Jedoch sei in anderen vergleichbaren Fällen ein derartiges Ausmaß der Folgen nicht zu beobachten. Dies sei am ehesten damit zu erklären, dass der Kläger aufgrund seiner Herkunftskultur und der damit verbundenen Lebensgewohnheit, aber auch aufgrund seiner insgesamt unbefriedigenden, wenig Perspektiven aufweisenden Lebenssituation zu einer Überwindung der durch den Tumor verursachten Folgen durch Willensanspannung nicht in der Lage war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei diese Unfähigkeit auf ein Gemisch aus Ursachen im medizinischen Bereich und sozio-kultureller Prägung zurückzuführen, die als gleichwertig zu bezeichnen seien.

22

Diese Gewichtung der Ursachenbeiträge vermag der Senat indessen nicht nachzuvollziehen, weil der Sachverständige dafür eine überzeugende Begründung nicht gegeben hat. Nach seinen Angaben, die sich auch mit den entsprechenden Äußerungen des vom SG angehörten R. decken, führe der Tumor mit seinen Folgen über verschiedene Zwischenstufen zu einer Einschränkung der Funktionstüchtigkeit, die inzwischen nach Jahren einen relativ stabilen Endzustand erreicht habe und von daher als Behinderung anzusprechen sei. Diese sei indessen als leicht oder gering einzustufen. Wenn ferner bedacht wird, dass der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten die Beeinträchtigung durch den beim Kläger vorliegenden pathologischen psychiatrischen Befund als objektiv nicht so stark bezeichnet, dass sie die völlige Hilflosigkeit des Klägers erkläre, ist seine Wertung, die sozialen bzw. sozio-kulturellen Befunde in Bezug auf das Verhalten des Klägers seien in ihrer Ursächlichkeit als gleichwertig zu erachten, nicht überzeugend. Vielmehr liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die genannten sozialen und sozio-kulturellen Befunde für die Frage des Pflegebedarfs bei weitem im Vordergrund stehen, zumal die Krankheiten und Behinderungen auf internistischem bzw chirurgischem Fachgebiet nach dem Gutachten des X. vom 06. Dezember 1995 keine Funktionsbeeinträchtigungen mit sich bringen, die einen erheblichen Pflegebedarf auszulösen vermögen.

23

Der Senat hat versucht, die Frage der Gewichtung der verschiedenen, den Hilfebedarf des Klägers begründenden Faktoren im Rahmen einer mehrtägigen stationären Begutachtung zu klären. Diese Bemühungen sind indessen fehlgeschlagen. Soweit R. in seiner Stellungnahme vom 7. August 2001 erläutert hat, dass man dem Kläger aufgrund des schweren hirnorganischen Psychosyndroms seiner Ansicht nach eine mehrtägige psychiatrische Untersuchung in einer Klinik ersparen solle, fehlt es dafür an einer nachvollziehbaren Begründung, ebenso wie für seine Einschätzung, der Kläger sei nicht in der Lage, sein Leben selbständig zu gestalten, sondern sei auf die ständige Betreuung durch seine Ehefrau angewiesen.

24

Bei dieser Sachlage lässt sich die Feststellung nicht treffen, dass die nach § 14 Abs 1 SGB XI erforderliche Kausalbeziehung zwischen dem Pflegebedarf und einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung des Klägers besteht. Hilfsmaßnahmen, die nicht objektiv durch Krankheit oder Behinderung geboten sind, sondern im Sinne einer Überversorgung im Rahmen der ehelichen Lebensgemeinschaft unter Einbeziehung religiöser oder kultureller Lebensgewohnheiten erbracht werden, sind nicht als Hilfebedarf im Sinne des § 14 Abs 1 SGB XI zu verstehen. Auch in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit gilt der Grundsatz der objektiven Beweislast insbesondere der Feststellungslast, wonach die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen Beteiligten zu tragen sind, der aus dieser Tatsache Rechte herleiten will (vgl BSGE 6, 72). Das ist hier der Kläger.

25

Nach allem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

27

Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.