Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.10.2001, Az.: L 8 AL 139/00

Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe an einen eingeschriebenen Studenten ; Schutzwürdiges Vertrauen auf den rechtlichen Bestand eines Verwaltungsaktes ; Kenntnis von der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
30.10.2001
Aktenzeichen
L 8 AL 139/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15943
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:1030.L8AL139.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 15.03.2000 - AZ: S 3 AL 256/99

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg,

den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover,

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

ohne mündliche Verhandlung am 30. Oktober 2001

durch

den Richter am Landessozialgericht C. als Einzelrichter

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 15. März 2000 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten streitig ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) sowie eine Erstattungsforderung der Beklagten.

2

Der 1956 geborene Kläger bezog seit Jahren laufend Alhi bis zum 31. August 1998. Die Leistungen wurden eingestellt, nachdem die Beklagte aufgrund einer anonymen Anzeige erfahren hatte, dass der Kläger im 16. Semester Psychologie studierte. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass der Kläger seit dem 1. Oktober 1990 als immatrikulierter Student bei der E. in F. ein Studium der Psychologie aufgenommen hatte, das am 20. Juli 1998 mit dem Diplom abgeschlossen wurde. Die Aufnahme und die Durchführung des Studiums zeigte der Kläger bei der Beklagten nicht an.

3

Nach Auskunft der Universität F. vom 14. Oktober 1998 beträgt die Regelstudienzeit für das Diplomfach Psychologie nach der gültigen Prüfungsordnung 9 Semester. Der Studiengang ist so zu regeln, dass die Diplomvorprüfung nach dem 4. Semester und die Diplomhauptprüfung im 9. Semester, spätestens aber 6 Monate nach dessen Ablauf abgeschlossen werden können. Der Studienumfang beträgt laut Studienordnung im Grundstudium zwischen 18 bis 22 Stunden in der Woche und im Hauptstudium zwischen 17 und 24 Stunden in der Woche.

4

Im Anhörungsverfahren zu der Überzahlung gab der Kläger an, er habe das Studium als zweitrangig angesehen und auf eine längere Zeit gestreckt, so dass er nebenbei hätte arbeiten können. Er habe allenfalls Vorlesungen für 8 Wochenstunden besucht. Anwesenheitslisten seien nicht geführt worden. Er hätte das so konzipierte Studium auch neben einer versicherungspflichtigen Beschäftigung betreiben können.

5

Mit Bescheid vom 6. Januar 1999 nahm die Beklagte die Bewilligungen von Alhi vom 1. Oktober 1990 bis zum 31. August 1998 zurück, weil der Kläger als eingeschriebener Student während des Studiums der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe. Sie verlangte gleichzeitig die für diese Zeitspanne gezahlte Alhi in Höhe von 139.061,59 DM sowie die vom 1. Januar 1993 bis zum 31. August 1998 entrichteten Beiträge zur Krankenversicherung in Höhe von 35.036,30 DM und für den Zeitraum vom 1. Januar 1996 bis zum 31. August 1998 zur gesetzlichen Pflegeversicherung abgeführten Beiträge in Höhe von 1.918,40 DM, insgesamt also 176.016,29 DM zurück. Das Widerspruchsverfahren blieb ebenso wie das Klageverfahren vor dem Sozialgerichts (SG) Hildesheim erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. Juni 1999; Gerichtsbescheid vom 15. März 2000).

6

Gegen den am 27. März 2000 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Hildesheim richtet sich die Berufung des Klägers vom 17. April 2000. Er trägt vor, die Bundessozialgerichts (BSG)-Rechtsprechung sei auf seinen Fall nicht übertragbar, weil er mit relativ geringer Stundenbelastung studiert habe und eine Belastungsobergrenze für Studenten nicht existiere.

7

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 15. März 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 1999 in Ge-stalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 1999 aufzuheben.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung mit Hinweis darauf, dass der Kläger die Vermutung nicht widerlegt habe, neben dem Studium eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausüben zu können.

10

Wegen des umfassenden Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf den Verwaltungsvorgang des Arbeitsamtes F. (StammNr:G.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Der Senat entscheidet durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§§ 124 Abs 2, 155 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

12

Die statthafte Berufung des Klägers ist unbegründet. Zur Recht hat das SG die Klage abgewiesen, weil die angefochtenen Bescheide der Beklagten nicht zu beanstanden sind.

13

Gemäß § 330 Abs 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) iVm § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, ohne dass sich der Begünstigte auf einen Vertrauenstatbestand berufen kann, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers erfüllt. Mit der Immatrikulation bei der Universität in F. ab 1. Oktober 1990 stand der Kläger dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Der Kläger hat diesen Umstand bei der Beklagten nicht angegeben, obwohl er den leistungsrechtlichen Zusammenhang kannte.

14

In dem Merkblatt für Arbeitslose (Stand: April 1990, Seite 8) ist folgender Hinweis enthalten:

"Sind Sie Schüler oder Student einer Schule, Hochschule oder sonstigen Ausbildungsstätte, können Sie grundsätzlich kein Arbeitslosengeld erhalten; eine Ausnahme gilt nur dann, wenn Sie nachweisen, daß die objektiven Anforderungen des Ausbildungsganges eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung neben der Ausbildung zulassen. Zu Einzelfragen erteilt Ihnen Ihr Arbeitsamt Auskunft".

15

Auf Seite 20 des Merkblattes werden redaktionell besonders gekennzeichnet Fälle aufgezählt, bei denen wichtig ist, dass der Arbeitslose dessen Eintritt beim Arbeitsamt sofort anzeigt. Dort wird unter Ziffer 6 folgender anzeigepflichtiger Sachverhalt angeführt:

"wenn Sie als Schüler oder Student eine Schule, Hochschule oder ähnliche Ausbildungsstätte besuchen".

16

Es bestehen keine Zweifel darüber, dass der Kläger mit seinen intellektuellen Fähigkeiten in der Lage war, diese Hinweise zu verstehen. Das bestreitet der Kläger auch nicht. Aus seinem Vortrag im Anhörungs- und Widerspruchsverfahren geht hervor, dass er sich darüber Gedanken gemacht hat. Er ist aber ohne die Angelegenheit mit dem Arbeitsamt zu besprechen, zum Ergebnis gelangt, dass das Studium in seinem konkreten Fall kein Hindernis darstellt. Dieses Argument kann ihn jedoch nicht entlasten. Verlangt wird die wahrheitsgemäße Angabe von Tatsachen und nicht deren rechtliche Würdigung. Der Kläger hat jedoch zu keinem Zeitpunkt während des fast 8-jährigen Leistungsbezugs bei dem Arbeitsamt erwähnt, dass er ein Studium aufgenommen hat. Diese Angaben wären von ihm insbesondere deshalb zu erwarten gewesen, weil zumindest wegen der in jedem Semester anders gelagerten Vorlesungsstunden die Verfügbarkeit eingeschränkt war.

17

Gemäß §§ 134 Abs 4, 103a Arbeitsförderungsgesetz - AFG - (§§ 198, 120 Abs 2 SGB III) wird vermutet, wenn der Arbeitslose Schüler oder Student einer Schule, Hochschule oder sonstigen Ausbildungsstätte ist, dass er nur nach § 169b AFG beitragsfreie bzw nach dem SGB III versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben kann. Die Vermutung ist widerlegt, wenn der Arbeitslose darlegt und nachweist, dass der Ausbildungsgang die Ausübung einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung bzw ab 1. Januar 1998 einer versicherungspflichtigen, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung bei ordnungsgemäßer Erfüllung der in den Ausbildungs- und Prüfungsbestimmungen vorgeschriebenen Anforderungen zulässt. Hiervon kann bei dem Kläger für den streitigen Zeitraum nicht ausgegangen werden. Er hat die Vermutung nicht widerlegt, dass er neben dem Studium nur beitragsfreie bzw versicherungsfreie Beschäftigungen ausüben könnte.

18

Die Vermutung kann von dem Studenten nur durch konkrete, einfach überprüfbare und damit objektivierbare Tatsachen widerlegt werden. Nicht ausreichend ist zB die pauschale Behauptung des Arbeitslosen, durch das Studium nicht voll in Anspruch genommen worden zu sein (BSG SozR 3-4100 § 103a Nr 1). Der Kläger hätte unter Berücksichtigung der semesterweise wechselnden Vorlesungszeiten im Einzelnen aufzeigen müssen, von wann bis wann er täglich durch die vorgesehen Unterrichtsstunden zuzüglich der zu berücksichtigenden Zeiten für Vor- und Nachbearbeitung, Wegezeiten, Praktika und Prüfungen in Anspruch genommen wurde. Allein die theoretische Möglichkeit, dass bei einer angegebenen Semesterstundenzahl eine beitragspflichtige Beschäftigung im Rahmen einer Gesamtbelastung von bis zu 60 Wochenstunden ausgeübt werden könnte, reicht nicht aus, um im konkreten Fall feststellen zu können, ob und inwieweit der Arbeitslose zu den üblichen Arbeitszeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zur Verfügung steht (BSG vom 19. März 1998 - B 7 AL 44/97 R -).

19

Dem Kläger ist zuzugeben, dass diese Darlegung für vergangene Zeiträume äußerst schwierig ist. Das ist aber die Folge der von ihm nicht angezeigten Aufnahme des Studiums und somit seinem Verantwortungsbereich zuzuordnen. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten bestehen für den Senat nicht, so dass die fehlende Feststellbarkeit zu seinen Lasten zu berücksichtigen ist.

20

Nach Aufhebung der Leistungsbewilligung ist die im Streitzeitraum gezahlte Alhi gemäß § 50 Abs 1 SGB X zu erstatten. Rechtsgrundlage für die Rückzahlung der abgeführten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ist § 335 SGB III. Einwände gegen die Berechnung der Beklagten sind vom Kläger nicht vorgebracht worden und sind ansonsten auch nicht ersichtlich.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.