Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.10.2001, Az.: L 6 U 414/00

Entschädigung eines Unfallereignisses; Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls; Versicherungsschutz für gemischte Tätigkeiten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
18.10.2001
Aktenzeichen
L 6 U 414/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15903
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:1018.L6U414.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 18.10.2000 - AZ: S 11 U 42/99

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel, Bezirksverwaltung Bremen, Alfred-Faust-Straße 15, 28277 Bremen,

hat der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

ohne mündliche Verhandlung am 18. Oktober 2001

durch

den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. Wilde,

den Richter am Landessozialgericht Schulte,

die Richterin am Landessozialgericht Klein und

die ehrenamtlichen Richter Rostalski und Kastens

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. Oktober 2000 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfallereignisses vom 11. Januar 1998. Der 1940 geborene Kläger wohnt in C.. Er ist Inhaber eines Schuheinzelhandelsgeschäfts in C. und als Unternehmer bei der Beklagten versichert. Am 11. Januar 1998 gegen 8.45 Uhr befand er sich mit dem PKW auf dem Weg von seiner Wohnung zu seinem in D. gelegenen Wochenendhaus (Entfernung ca. 95 km). Auf der A 7 in Höhe E. geriet er wegen Reifglätte mit dem Wagen ins Schleudern, kollidierte mit einer Leitschutzplanke und rutschte eine Böschung hinunter. Dabei zog er sich einen Schlüsselbeinbruch links und eine distale Unterarmfraktur rechts zu (Durchgangsarztbericht des Dr. F. vom 11. Januar 1998). Zum Zweck der Fahrt gab der Kläger an, das Haus (76 m²) diene privaten Zwecken und außerdem dazu, um in Ruhe größere Büroarbeiten auszuführen. In seinem Geschäft in C. habe er für den PC und kleinere Bürotätigkeiten nur ca. 4 m² zur Verfügung. Der Schreibtisch in seiner Wohnung werde ausschließlich von seiner Ehefrau genutzt. Er habe vorgehabt, am Unfalltag in D. Büroarbeiten fertig zu stellen, mit denen er bereits am 4. Januar 1998 begonnen habe. Dazu habe er sich mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin Frau G. verabredet. Die Frage der Beklagten, ob er die Fahrt auch dann unternommen hätte, wenn er keine Büroarbeiten hätte erledigen wollen, bejahte der Kläger.

2

Mit Bescheid vom 24. September 1998 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, auch wenn der Kläger in dem Wochenendhaus betriebliche Arbeiten habe erledigen wollen, habe auf dem Weg dorthin kein Versicherungsschutz bestanden, weil der Weg nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg zu seiner Tätigkeit stehe. Im Widerspruchsverfahren hat der Kläger vorgetragen, weder in seinem Geschäft noch zu Hause könne er umfangreiche Verwaltungs- und Bürotätigkeiten erledigen. Außerdem lebe er zwar in einer gemeinsamen Wohnung mit seiner Ehefrau, allerdings in Trennung. Nicht zuletzt wegen dieser privaten Umstände nutze er das Wochenendhaus quasi als "zweite Wohnung" und somit auch als Büro. Er fahre regelmäßig an den Wochenenden und zuweilen auch während der Woche in das Wochenendhaus, um dort nahezu sämtliche Verwaltungs- und Bürotätigkeiten zu erledigen. Dabei sei ihm regelmäßig stundenweise Frau H. behilflich. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1999 zurück. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim hat das SG die schriftlichen Zeugenaussagen der Frau G., der Angestellten des Klägers Frau I. und der Ehefrau des Klägers Frau J. eingeholt. Mit Urteil vom 18. Oktober 2000 hat es die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des am 11. Januar 1998 erlittenen Arbeitsunfalls Entschädigungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Weg des Klägers habe der betrieblichen Tätigkeit gedient. Zwar habe er mit der Zurücklegung des Weges auch private Motive verfolgt. Bei einer solchen Konstellation sei darauf abzustellen, ob die Tätigkeit hypothetisch auch dann vorgenommen wäre, wenn der private Zweck entfallen wäre. Das Vorhaben am Unfalltag habe unmittelbare konkrete Bedeutung für das Unternehmen des Klägers gehabt. Es sei auch davon auszugehen, dass der Kläger den Weg auch dann zurückgelegt hätte, wenn er keinen privaten Aufenthalt in dem Haus beabsichtigt hätte. Dafür spreche zum einen die Verabredung mit Frau H., zum anderen die Tatsache, dass der Kläger in seinem PKW weitere betriebliche Unterlagen mitgeführt habe. Auf die Entfernung komme es nicht an, weil auch bei versicherten Geschäftsreisen längere Strecken zurückgelegt würden.

3

Gegen dieses am 25. Oktober 2000 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 17. November 2000 Berufung eingelegt.

4

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. Oktober 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. Oktober 2000 zurückzuweisen.

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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

7

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist zulässig, sie erweist sich auch als begründet, denn die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Entschädigungsleistungen, weil er keinen Arbeitsunfall erlitten hat. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - SGB - VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit).

9

Dazu ist in der Regel erforderlich, dass das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr. 84; BSG Urteil vom 18. April 2000 - B 2 U 7/99 R). Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, und damit der sog. innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (st. Rspr. BSGE 63, 274 = SozR 2200 § 548 Nr. 92; BSG SozR 2200 § 548 Nrn. 82, 95, 97; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 27; BSG SozR 3-2200 § 539 Nr. 38; BSG Urteil vom 18. April 2000, a.a.O.). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr. 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr. 84; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 32; BSG Urteil vom 18. April 2000, a.a.O.). Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen; bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der versicherten Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1 m.w.N.). Es muss also sicher feststehen, dass im Unfallzeitpunkt eine - noch - versicherte Tätigkeit ausgeübt wurde (BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr. 84 m.w.N.). Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund (BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 19).

10

Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten als Unternehmer versichert. Verwaltungs- und Büroarbeiten gehören bei einem Einzelhändler zu den versicherten Tätigkeiten, und zwar auch dann, wenn sie nicht in dem Einzelhandelsgeschäft, sondern an einem anderen Ort (z.B. dem Wochenendhaus) verrichtet werden. Der Senat ist auch davon überzeugt, dass der Kläger am Unfalltag in dem Ferienhaus zusammen mit der Zeugin H. Büroarbeiten ausführen wollte.

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Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die zum Unfall führende Autofahrt nicht nur aus betrieblichen, sondern auch aus privaten Gründen erfolgte. Der Kläger war auf dem Weg in sein Wochenendhaus, das er überwiegend privat nutzte. Dies wird daran deutlich, dass er das Ferienhaus aufgrund seiner familiären Situation (Trennung von der Ehefrau) als "zweite Wohnung" bezeichnet und sich dort regelmäßig an den Wochenenden und zuweilen auch während der Woche aufgehalten hat. Diese Aufenthalte dienten - wie bei einem Ferienhaus üblich - auch der Freizeitgestaltung, z.B. durch Wandern (Aussage der Ehefrau). Für die im Vordergrund stehende private Nutzung spricht zudem die Tatsache, dass das Büro lediglich einen kleinen Teil der Räumlichkeiten (1 Raum im Obergeschoss) einnahm.

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Für Verrichtungen, die sowohl privaten unversicherten als auch betrieblichen Interessen zu dienen bestimmt sind - sog. gemischte Tätigkeiten - besteht Versicherungsschutz dann, wenn die Verrichtung im Einzelfall dazu bestimmt war, auch betrieblichen Interessen wesentlich zu dienen. Die Verrichtung braucht nicht überwiegend betrieblichen Interessen zu dienen bestimmt gewesen sein (BSG Urteil vom 22. August 2000 - B 2 U 18/99 R - m.w.N.). Diese Grundsätze gelten grundsätzlich auch für Betriebswege und Geschäftsreisen (BSGE 3, 240, 245; BSG Urteil vom 22. August 1974, 8 RU 288/73 - USK 74118 - m.w.N.). Ob das betriebliche Interesse wesentlich ist, beurteilt sich in erster Linie nach den aufgrund von objektiven Anhaltspunkten nachvollziehbaren subjektiven Vorstellungen des Versicherten (BSGE 20, 215, 218). Entscheidendes Abgrenzungskriterium für die Frage, ob eine gemischte Tätigkeit wesentlich betrieblichen Interessen zu dienen bestimmt war, ist, ob diese Tätigkeit - dies ist im vorliegenden Fall der Weg zum Ferienhaus - hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn der private Zweck entfallen wäre (BSGE 20, 215, 219; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 19).

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Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass die Beklagte ihm diese Frage nicht gestellt hat, sondern umgekehrt danach gefragt hat, ob er die Fahrt auch dann unternommen hätte, wenn er nicht vorgehabt hätte, Büroarbeiten zu erledigen. Entgegen der im Widerspruchsbescheid geäußerten Ansicht der Beklagten entfällt eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der sog. gemischten Tätigkeit auch nicht deswegen, weil der Kläger die Fahrt auf jeden Fall unternommen hätte.

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Dies führt indes nicht zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis. Denn für den Senat haben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme ergeben, dass der Kläger auch bei Entfallen des privaten Zweckes die konkrete Fahrt angetreten hätte. Bei lebensnaher Betrachtungsweise ist vielmehr anzunehmen, dass der Kläger, wenn das weit von Wohn- und Geschäftsort gelegene Ferienhaus nicht existiert hätte, die Büroarbeiten zu Hause oder im Betrieb erledigt hätte. Selbst wenn dies dort aus Platzgründen nicht möglich gewesen wäre, hätte es jedenfalls ferngelegen, die betrieblichen Arbeiten an einem fast 100 km entfernten Ort auszuführen. Mit anderen Worten: Wenn auch die vom Kläger im Ferienhaus beabsichtigten Büroarbeiten unter Versicherungsschutz gestanden hätten, so gilt das gleiche nicht für den Weg zum Ferienhaus. Dieser und das damit verbundene erhöhte Wegerisiko beruht vielmehr auf dem wesentlich eigenwirtschaftlich geprägten Besitz eines weit entfernt vom Wohn- und Geschäftsort liegenden Ferienhauses.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.