Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 22.10.2001, Az.: 17 UF 178/01

Antrag auf Sicherstellung der sofortigen Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten Kindes; Erledigung der Sache bei bereits erfolgter Verbringung eines Kindes im Zeitpunkt der Rechtsmittelinstanzentscheidung in das Ausland; Anwendungsausschluss der Rückgabeordnung bei zu berücksichtigender Meinung des Kindes

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
22.10.2001
Aktenzeichen
17 UF 178/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 30146
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2001:1022.17UF178.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Celle - AZ: 7 F 7321/01 (HK)

Fundstellen

  • EzFamR aktuell 2002, 148
  • FamRZ 2002, 569-570 (Volltext mit red. LS)
  • IPRspr 2001, 100

In der Familiensache
hat der 17. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Celle
durch
den Richter am Oberlandesgericht B.,
die Richterin am Oberlandesgericht M. und
den Richter am Oberlandesgericht D.
am 22. Oktober 2001
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt.

  2. 2.

    Die Kosten des Verfahrens trägt die Kindesmutter.

  3. 3.

    Beschwerdewert: 5.000 DM.

Gründe

1

I.

Die Beteiligten zu 1 und 2 sind die Eltern der am 2. Dezember 1988 geborenen J. H. Ihre Ehe wurde durch Verbundurteil des Amtsgerichts - Familiengericht - N. vom 23. März 1995 geschieden und die elterliche Sorge für J. der Beteiligten zu 2 übertragen. Seinerzeit lebten J. und ihre Eltern in N. Im Sommer 1995 verzog die Beteiligte zu 2 mit J. nach N. Im Jahre 1995 wurde vor dem Familiengericht O. in N. ein Sorgerechts- und Umgangsrechtsregelungsverfahren geführt und durch Beschluss vom 6. Dezember 1995 ausgesprochen, dass die Mutter das Sorgerecht für J. erhielt. Ferner wurde eine detaillierte Umgangsrechtsregelung des Kindes mit dem Beteiligten zu 1 getroffen. Am 7. Oktober 1999 erfolgte eine weitere Beschlussfassung seitens des Familiengerichts O. Eine weitere Regelung hinsichtlich des Sorgerechts- und Umgangsrechts erfolgte im Beschluss des Familiengerichts O. vom 23. Juni 2000. Insoweit wurde erneut ausgesprochen, dass die Mutter das Sorgerecht für J. hat und detailliert das Umgangsrecht des Beteiligten zu 1 geregelt für die Monate Juni, Juli 2001 dahingehend, dass J. sieben Tage vor Ende des Schulsemesters N. verlassen sollte, um den Beteiligten zu 1 in Deutschland zu besuchen. Deutschland sollte sie nicht später als fünf Tage vor dem Beginn der zweiten Woche des dritten Schulsemesters verlassen. J. besuchte den Beteiligten zu 1 ab 23. Juni 2001 in Deutschland und sollte am 18. Juli 2001 nach N. zurückfliegen. J. wurde jedoch vom Beteiligten zu 1 in der Zeit nach dem 18. Juli 2001 der Mutter nicht zurückgebracht, sondern verblieb in der Obhut des Vaters. Mitschreiben vom 20. Juli 2001 forderte die Beteiligte zu 2 über ihren Verfahrensbevollmächtigten den Beteiligten zu 1 auf, J. herauszugeben. Dem kam der Beteiligte zu 1 nicht nach. Vielmehr stellte er beim Amtsgericht - Familiengericht - S. einen Antrag auf Übertragung des Sorgerechts auf sich und stellte J. der Diplom-Psychologin Dr. K. in B. vor.

2

Unter dem 27. Juli 2001 hat die Beteiligte zu 2 die Herausgabe von J. zum Zwecke der sofortigen Rückführung des Kindes nach N. begehrt. Das Amtsgericht hat nach Anhörung von J. der Beteiligten zu 1 und 2 sowie Einholung einer Stellungnahme des Jugendamtes des Landkreises D. gemäß Artikel 12 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) dem Antrag stattgegeben und die sofortige Vollziehbarkeit der Entscheidung angeordnet. Gegen diesen ihr am 29. August 2001 zugestellten Beschluss hat der Beteiligte zu 1 mit Schriftsatz vom 10. September 2001, eingegangen am 12. September 2001, Beschwerde eingelegt.

3

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Gemäß § 8 Abs. 2 SorgeRÜbkAG findet gegen eine im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 22 FGG statt. Diese wurde hier innerhalb der 2-Wochen-Frist gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 FGG eingereicht.

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Die sofortige Beschwerde ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Entscheidung des Familiengerichts offensichtlich schon vor Einlegung der sofortigen Beschwerde durch Rückgabe zur Abwendung der Vollstreckung vollzogen worden ist (so aber KG Beschluss vom 2. August 1991 - 3 UF 2703/91, zitiert nach Staudinger Pirrung BGB, 13. Auflage, Vorbemerkung zu Artikel 19 EGBGB, Rdnr. 861). Denn Verfahrensgegenstand ist kein materieller Herausgabeanspruch (Artikel 19 HKÜ), sondern der Antrag auf Sicherstellung der sofortigen Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten Kindes. Der Beteiligte zu 1 hat nach wie vor ein berechtigtes Interesse zumindest an der Feststellung der Zulässigkeit der Rückgabeanordnung, zumal er als Rechtsmittelführer gegebenenfalls auch die Rückgängigmachung der Vollziehung verlangen kann. Nach Auffassung des Senats ist jedoch dann, wenn das Kind im Zeitpunkt der Entscheidung durch die Rechtsmittelinstanz bereits in das Ausland verbracht worden ist, festzustellen, dass sich die Hauptsache erledigt hat (so auch OLG München, Beschluss vom 26. März 1997 - 4 UF 1/97; Bach/Gildenast, Internationale Kindesentführung Rdnr. 174).

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III.

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Sie führt zur Feststellung der Erledigung der Hauptsache und zur Auferlegung der Kosten auf die Beteiligte zu 2, denn der zulässige Antrag der Beteiligten zu 2 auf Anordnung der Rückgabe des Kindes J. war unbegründet.

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Die Rechtsgrundlagen für das Rückgabeverlangen folgen aus dem gemäß Artikel 12 des SorgeRÜbkAG vom 5. April 1990 (BGBl. 1990 I 701) vorrangigen Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ, BGBl. 1990 II 206). Das Übereinkommen gilt für N. und ist in D. in Kraft getreten am 1. Dezember 1990 (Bekanntmachung vom 11. Dezember 1990, BGBl. 91 II 329). Ergänzt wird das Übereinkommen durch das SorgeRÜbkAG.

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Auch die sofortige Beschwerde stellt nicht ernsthaft in Abrede, dass der Beteiligte zu 1 die gemeinsame Tochter J. widerrechtlich, nämlich unter Verletzung des Sorgerechts der Mutter, zurückgehalten hat. Denn durch Entscheidung vom 23. Juni 2000 des Familiengerichts O. wurde festgestellt, dass die Beteiligte zu 2 alleinige Inhaberin der elterlichen Sorge für J. ist. Dadurch, dass der Beteiligte zu 1 entgegen der ebenfalls am 23. Juni 2000 getroffenen Umgangsregelung der zwischen den Beteiligten zu 1 und 2 getroffenen Absprachen J. nicht fristgerecht zur Mutter nach N. zurückgeschickt hat, hat er das Sorgerecht der Mutter widerrechtlich im Sinne des Artikel 3 HKÜ verletzt. Da J. das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, unterfällt sie dem Anwendungsbereich des Übereinkommens (Artikel 4 HKÜ), dass grundsätzlich die Voraussetzungen für die Anordnung ihrer Rückgabe gemäß Artikel 12 HKÜ vorgelegen haben.

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Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts stand der Rückgabe jedoch Artikel 13 Abs. 2 HKÜ entgegen. Nach dieser Bestimmung kann von der Rückgabeordnung abgesehen werden, wenn sich das Kind widersetzt und ein Alter und eine Reife erlangt hat, angesichts derer es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen. So hat sich J. mehrfach, insbesondere bei der Anhörung vor dem Amtsgericht der Rückgabe nachdrücklich und nachhaltig widersetzt. J. hat sich, wie dem Bericht des Jugendamtes des Landkreises D. vom 23. Juli 2001 zu entnehmen ist, gegenüber der dortigen Sachbearbeiterin nachhaltig dafür ausgesprochen, beim Kindesvater verbleiben zu dürfen. Sie hat sich geweigert, den Rückflug - wie mit der Kindesmutter ursprünglich vereinbart - durchzuführen. J. hat bei der Anhörung vor dem Amtsgericht keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihr nachhaltiger und unerschütterbarer Wille gewesen ist, in Zukunft beim Kindesvater zu leben und nicht nach N. zurückzukehren. Sie hat dafür eine Reihe von tragfähigen und nachvollziehbaren Gründen genannt. Diesen nachhaltig geäußerten Wunsch hat J. erstmals einige Tage vor der geplanten Rückkehr nach N. geäußert und ist davon - auch nach Gesprächen mit fachkundigen Personen - nicht abgerückt. Vielmehr hat sich ihr deutlich geäußerter Wille weiter manifestiert. Für den Senat nicht recht nachvollziehbar ist die Auffassung des Amtsgerichts zu den Äußerungen J. auf die Frage, was sie machen werde, wenn das Gericht die Rückführung nach Neuseeland anordne. Aus der Äußerung J. sie würde am liebsten Schreien, wenn ihre Mutter käme und sie ins Flugzeug mitnehme, wird nach Auffassung des Senats mit kaum zu überbietender Deutlichkeit sichtbar, dass J. damit nicht nur ihre Missbilligung einer möglichen Gerichtsentscheidung zum Ausdruck bringen wollte, sondern vielmehr ihren manifestierten Willen, nicht mit der Mutter mitgehen zu müssen. Aus der Anhörung J. sowie den Anhörungen der Beteiligten zu 1 und 2 beim Amtsgericht ist deutlich geworden, dass J. aus freien Stücken und nicht erkennbar maßgeblich durch den Beteiligten zu 1 beeinflusst mit Nachdruck die Rückkehr nach N. abgelehnt hat. Zwar gibt es keine feste Altersgrenze, ab der der Wille eines Kindes beachtlich ist (OLG Celle, FamRZ 1995, 955 [OLG Celle 20.10.1994 - 19 UF 134/94]; Bach FamRZ 1997, 1051, 1057) [OVG Hamburg 06.11.1996 - Bs IV 352/96]. Nach Auffassung des Senats ergeben jedoch die Ausführungen von J. bei ihrer Anhörung vor dem Amtsrichter, dass die Äußerungen angesichts ihres Alters und ihrer Reife erfolgt sind aufgrund einer verantwortungsbewussten Entscheidung, sodass ihre Meinung zu berücksichtigen ist (vgl. dazu weiter: OLG Hamm, FamRZ 1999, 948 [OLG Hamm 21.08.1998 - 5 UF 300/98]; OLG Düsseldorf, FamRZ 1999, 949 [OLG Düsseldorf 02.11.1998 - 4 UF 223/98]; OLG Brandenburg, FamRZ 1997, 1098 [OLG Brandenburg 17.09.1996 - 10 UF 114/96]).

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Die Anwendung der Ausnahmevorschrift des Artikel 13 HKÜ ist auch unter Beachtung der Hauptziele des Übereinkommens aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles gerechtfertigt. Nach der Präambel des Übereinkommens wurde dieses in der Erkenntnis vereinbart, dass das Wohl des Kindes in allen Angelegenheiten des Sorgerechts von vorrangiger Bedeutung ist und vor widerrechtlichen Maßnahmen zu schützen ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels soll das Übereinkommen grundsätzlich eine schnelle Rückführung betroffener Kinder dadurch sicherstellen, dass dem entführenden Elternteil die Möglichkeit beschnitten wird, sich im Rückgabeverfahren vor den Gerichten des Entführungsstaates darauf zu berufen, dass sich die Verhältnisse zwischenzeitlich in einer der Herausgabe entgegenstehenden Weise geändert haben. Die Entscheidung soll grundsätzlich nicht berücksichtigen, in welchen Verhältnissen eine dem Wohl der Kinder am besten entsprechende Betreuung gewährleistet ist, vielmehr soll auch aus generalpräventiven Gründen einerseits erreicht werden, dass Elternteile oder Dritte von rechtswidrigen Entführungsmaßnahmen abgehalten werden, und andererseits sichergestellt werden, dass der Status quo vor dem rechtswidrigen Verbringen wiederhergestellt wird. Erst im Anschluss daran soll die Entscheidung über die Verteilung der elterlichen Sorge getroffen werden, die vornehmlich den Gerichten des Herkunftsstaates vorbehalten bleibt. Auch unter Berücksichtigung der grundsätzlich restriktiv anzuwendenden Ausnahmevorschrift des Artikel 13 HKÜ erlangt eine an dem in der Präambel zum Ausdruck gebrachten Anliegen eines besonderen Schutzes des Wohles der Kinder und damit an der Verfassung orientierte Auslegung dieser Regelung, dass die Grundrechte der Kinder aus Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 GG hinreichende Beachtung finden müssen. Unter Berücksichtigung der von J. geäußerten Gründe für ihre nachhaltige Weigerung, nach N. zurückzukehren, kommt deshalb ihrem ernsthaften Widerstand ein besonderes Gewicht zu.

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IV.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 6 SorgeRÜbkAG, 94 Abs. 3 Satz 2 KostO, 13 a Abs. 1 FGG.

Streitwertbeschluss:

Beschwerdewert: 5.000 DM.
Die Festsetzung des Beschwerdewertes ergibt sich aus den §§ 94 Abs. 2, 30 Abs. 2 KostO.