Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 17.10.2001, Az.: 9 U 159/01
Schmerzensgeldanspruch wegen des Verlustes eines Auges nach einem Schuss mit einer Schreckschusspistole aus geringer Entfernung; Sorgfaltspflichten beim Umgang mit einer Waffe ohne Kenntnis des Ladezustands; Einschränkung der Höhe eines Anspruchs auf Schmerzensgeld mittels der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 17.10.2001
- Aktenzeichen
- 9 U 159/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 30666
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2001:1017.9U159.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Stade - 02.03.2001 - AZ: 6 O 370/00
Rechtsgrundlagen
- § 828 Abs. 2 BGB
- § 847 BGB
Fundstellen
- NJW-RR 2002, 674-675 (Volltext mit amtl. LS)
- NZV 2002, 460-461 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 2002, 241-242 (Volltext mit red. LS)
- zfs 2002, 280-282
In dem Rechtsstreit
...
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2001
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Amtsgericht ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung gegen das am 2. März 2001 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Stade wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 6.500 DM abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Dem Kläger wird gestattet, Sicherheit auch in Form einer schriftlichen, unbedingten, unbefristeten, unwiderruflichen und selbstschuldnerischen Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.
Wert der Beschwer: über 60.000 DM.
Tatbestand
Der Kläger beansprucht vom Beklagten Schmerzensgeld wegen des Verlustes des linken Auges und weiterer Verletzungen, die der Beklagte dem Kläger durch einen Schuss mit einer Schreckschusspistole aus geringer Entfernung zugefügt hat. Dazu kam es, als der Beklagte am 7. Februar 1999 im Rahmen einer scherzhaft gemeinten Geste seine Schreckschusspistole dem Kläger vor das Gesicht hielt und dabei versehentlich den Abzug betätigte. Die Waffen (auch der Kläger verfügte über eine solche Schreckschusspistole) hatten sich die damals 14 Jahre alten Parteien zuvor von einem unbekannten Dritten besorgt.
Das verletzte linke Auge des Klägers musste im Rahmen einer Notoperation entfernt werden, darüber hinaus erlitt der Kläger diverse weitere Verletzungen, unter anderem offene Schädelbrüche und eine Liquorfistelschädigung. Wegen der Verletzungsfolgen im Einzelnen wird auf die Berichte der behandelnden Ärzte (Anlagen K 1 ff, Bl. 6 ff d.A.) verwiesen.
Der Kläger hat Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes sowie Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich künftiger Schäden beantragt.
Der Beklagte hat behauptet, weder den Ladezustand der Pistole noch deren Gefährlichkeit gekannt zu haben.
Das Landgericht hat den Beklagten, den Anträgen des Klägers folgend, zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 75.000 DM verurteilt und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, weitere Schäden zu ersetzen.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten. Er vertritt die Auffassung, die uneingeschränkte Anwendung der Haftungsvorschrift des § 828 Abs. 2 BGB zu seinen Lasten verletze ihn seinen Grundrechten. Das Landgericht habe es unterlassen, diese Vorschrift als vorkonstitutionelles Recht auf ihre Verfassungsgemäßheit zu überprüfen. Durch die Zahlungs- und Feststellungsverurteilung werde er, der Beklagte, bei Erreichen der Volljährigkeit auf absehbare Zeit hinaus nicht in der Lage sein, den durch hinzukommende Zinsen anwachsenden Schuldbetrag abzuzahlen. Den späteren Aufbau einer eigenen wirtschaftlichen Existenz mache die Verurteilung nahezu unmöglich.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen
sowie Sicherheitsleistung durch Bankbürgschaft zu gestatten.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung erweist sich als unbegründet.
1.
Das Landgericht hat die Voraussetzungen eines Schmerzensgeldanspruches des Klägers gegen den Beklagten zutreffend bejaht, §§ 823, 847 BGB. Ungeachtet der Frage, ob dem Beklagten der Ladezustand der Waffe zum Zeitpunkt des Geschehens bewusst gewesen ist, hätte er diese - bei Beachtung der im Umgang damit gebotenen Sorgfalt - nicht aus kurzer Distanz auf das Gesicht des Klägers richten dürfen. Die Einsichtsfähigkeit (§ 828 Abs. 2 BGB) des seinerzeit fast 15 Jahre alten Beklagten und sein Verschulden (s. dazu näher unter 2. b) stehen außer Frage. Auch ist die vom Landgericht zuerkannte Höhe des Schmerzensgeldbetrages angesichts der vom Kläger erlittenen Verletzungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen, des Geschehensherganges im Einzelnen und der persönlichen Lebensumstände der Parteien angemessen, jedenfalls nicht übersetzt. Sie entspricht (mindestens) dem allgemeinen Schmerzensgeldniveau, an dem sich die Gerichte im Interesse der Gleichbehandlung aller Geschädigten zu orientieren haben. So ist beispielsweise im Jahre 1981 einem 14 jährigen, der infolge der Einwirkung eines gleichaltrigen Spielkameraden ein Auge (nicht auch, wie der Kläger, zusätzlich den Geruchssinn) verloren hat, ein Schmerzensgeld von 55.000 DM zugesprochen worden (Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge, 19. Aufl., Nr. 2000), was unter Berücksichtigung eines inflationsbedingten Wertausgleiches in etwa dem vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeld entspricht. Ähnliches gilt hinsichtlich der bei Hacks/Ring/Böhm, a.a.O., zitierten Entscheidungen zu Nrn. 2060 sowie 2079.
2.
Die Entscheidung des Landgerichts begegnet auch nicht den vom Beklagten mit der Berufung angeführten verfassungsrechtlichen Bedenken mit der Folge, dass die Forderung des Klägers - beispielsweise durch eine Heranziehung des Grundsatzes von Treu und Glauben, § 242 BGB - einzuschränken wäre. Die in Rechtsprechung und Literatur gegen die uneingeschränkte Anwendung des § 828 Abs. 2 BGB ("Alles oder Nichts-Prinzip") teilweise geäußerten Bedenken (OLG Celle, 4. Zivilsenat, NJW-RR 1989, 791 ff [OLG Celle 26.05.1989 - 4 U 53/88]; mit Besprechung von Canaris, JZ 1990, 679; LG Dessau, NJW-RR 1997, 214 ff [LG Dessau 25.09.1996 - 8 O 853/96]; Goecke, NJW 1999, 2305 ff m.w.N.) greifen zumindest im vorliegenden Fall nicht durch.
Es kann dabei hinstehen, ob es in bestimmten, besonders gelagerten Fällen geboten sein kann, die Haftung Minderjähriger unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten einzuschränken, etwa wenn Kinder leicht fahrlässig einen für sie existenzvernichtend hohen Schaden verursacht haben und deswegen von der eintrittspflichtigen Versicherung in Regress genommen werden (so das OLG Celle, a.a.O.; dagegen Staudinger/Oechsler, BGB, 13. Aufl. 1998, Rdnrn. 2 und 41 ff. zu § 828; Soergel/Zeuner, BGB, 12. Aufl. 1998, Rdnr. 4 zu § 828; Mertens in MünchKomm. zum BGB, 3. Aufl. 1997, Rdnr. 14 zu § 828). Eine derartige, besonders gelagerte Fallkonstellation, die nach der geschilderten erstgenannten Auffassung eine Einschränkung der Haftung des Beklagten als Minderjährigen erforderlich machen könnte, liegt - aus mehreren Gründen - hier nicht vor:
a)
Zum einen sieht sich der Beklagte nicht Schadensersatz- oder Regressansprüchen eines Versicherungsunternehmens ausgesetzt, sondern Schmerzensgeldansprüchen des unmittelbar Geschädigten, der als ebenfalls Minderjähriger keinen geringeren Grundrechtsschutz beanspruchen kann als der Beklagte selbst und dessen immaterielle, aber erhebliche und lebenslang fortwirkende Schäden von dritter Seite nicht reguliert werden (die Haftpflichtversicherung des Beklagten tritt nach dessen Mitteilung deswegen nicht ein, weil sich der Beklagte unbefugt im Besitz der Waffe befand). Den Grundrechten des Beklagten, insbesondere mit Blick auf seine spätere wirtschaftlich freie Persönlichkeitsentfaltung, stehen auf der anderen Seite die den Kläger in seiner körperlichen Integrität, für deren Verletzung er Ausgleich verlangt, schützenden Rechte gegenüber. Es ist nicht ersichtlich, weshalb angesichts des der Forderung zugrunde liegenden Geschehens im Ergebnis die Interessen des Beklagten als fahrlässigen Schädigers höher zu gewichten sein sollten als die des Klägers als Geschädigten. Die Interessen des Beklagten überwiegen die des Klägers weder teilweise, noch - dies wäre Konsequenz der vom Beklagten auch in der Berufungsinstanz beantragten gänzlichen Klagabweisung - insgesamt.
b)
Zum anderen ist, anders als in der zitierten Entscheidung des 4. Zivilsenats, des hiesigen Oberlandesgerichts, vorliegend nicht von einer nur ganz geringen Fahrlässigkeit des Beklagten auszugehen, sondern von einem erheblich größeren Verschulden. Der Beklagte, der (ebenso wie auch der Kläger selbst) die Wirkweise der unerlaubterweise erworbenen Schreckschusspistole zuvor verschiedentlich bei Schießübungen im Wald erprobt hatte, hat dem Kläger die Schreckschusspistole trotz - wie er selbst behauptet - unbekannten Ladezustands aus nächster Nähe vor dessen Gesicht gehalten und dabei versehentlich den Abzug betätigt. Der ausgelöste Schuss hat nicht nur ein Auge des Klägers zerstört, sondern auch den dahinterliegenden Schädelknochen zertrümmert, Knochensplitter sind bis ins Gehirn gedrungen. Angesichts der dem Beklagten aus den Schießübungen bekannten Wirkweise der Schreckschusspistole (einschließlich des sog. Druckpunkts) ist sein Verhalten als jedenfalls mittlere, wenn nicht sogar grobe Fahrlässigkeit zu bewerten.
c)
Auch die wirtschaftliche Belastung des Beklagten für die Zukunft rechtfertigt keine Einschränkung des Anspruchs gegen den Beklagten. Dabei kann es dahin stehen, ob der im April des nächsten Jahres die Volljährigkeit erreichende Beklagte angesichts der ausgeurteilten 75.000 DM zuzüglich auflaufender Zinsen und etwaiger, jedoch noch nicht sicher absehbarer Folgeschäden sich jetzt bereits einer untragbaren Belastung für die Zukunft ausgesetzt sehen muss (der Entscheidung des 4. Senats aus dem Jahre 1989 lag eine Schadensersatzforderung von über 300.000 DM nebst Zinsen zugrunde). Der (im materiellen Recht grundsätzlich unbeachtlichen) Frage der individuellen Leistungsfähigkeit des Schuldners ist vom Gesetzgeber im wirtschaftlichen Existenzinteresse des Schuldners mittlerweile im Verfahrensrecht durch die Einführung des Verbraucherinsolvenzverfahrens mit Restschuldbefreiung Rechnung getragen worden (vgl. dazu Staudinger/ Oechsler, a.a.O., Rdnr. 2 zu § 828; Soergel/Zeuner, a.a.O., Rdnr. 4 zu § 828; Mertens in MünchKomm., a.a.O., Rdnr. 14 zu § 828). Die in der Literatur teilweise vertretenen Bedenken gegen die faktische Durchführbarkeit des Restschuldbefreiungsverfahrens in Fällen der vorliegenden Art (Goecke, a.a.O., Seite 2308, insbesondere Fußn. 26) teilt der Senat nicht. Sollte sich, was erst die Zukunft erweisen kann, der Beklagte angesichts der Forderung des Klägers oder auch weiterer Belastungen einer Situation ausgesetzt sehen, die die Einleitung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens rechtfertigt, so wäre die Befreiung - auch - von der Schuld gegenüber dem Kläger grundsätzlich möglich, weil es sich nicht um eine solche aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung handelt (§ 302 InsO). Dass der Beklagte (wie jeder Schuldner eines Verbraucherinsolvenzverfahrens) zur Eröffnung des Verfahrens zunächst einen entsprechenden Kostenvorschuss aufzubringen hätte, kann daran nichts ändern, zumal es auch andere Möglichkeiten der Kostendeckung gibt (beispielsweise durch künftigen Erwerb, vgl. Kübler/Prütting/Pape, InsO, 2001, Rdnr. 9 h zu § 26).
d)
Die von der Berufung angeführte Erwägung, der Beklagte als Minderjähriger könne sich gegen Haftpflichtrisiken, anders als ein Erwachsener, mangels Geschäftsfähigkeit nicht durch den Abschluss einer entsprechenden Haftpflichtversicherung absichern (so auch Goecke, a.a.O., Seite 2309), greift bereits deswegen nicht, weil der Beklagte über seine Eltern haftpflichtversichert war, die Haftpflichtversicherung hier jedoch wegen besonderer Umstände Versicherungsschutz versagt hat. Angesichts des grundsätzlichen Bestehens einer Haftpflichtversicherung steht der Beklagte in dieser Beziehung nicht schlechter da als ein Erwachsener, der für sich selbst Vorsorge durch den Abschluss einer solchen Versicherung getroffen hat.
3.
Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen §§ 97 Abs. 1 ZPO; 708 Nr. 10, 711; 546 Abs. 2.