Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 08.07.2008, Az.: 3 A 3779/05
Kostenerstattung für Jugendhilfeleistungen; Beginn der Leistung; gewöhnlicher Aufenthalt; Ausland; Inland; Subsidiarität
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 08.07.2008
- Aktenzeichen
- 3 A 3779/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45447
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2008:0708.3A3779.05.0A
Verfahrensgang
Rechtsgrundlagen
- § 10 II 3 SGB VIII
- § 86 SGB VIII
- § 10 IV 2 SGB VIII
- § 105 SGBX
- § 86 I 3 SGB VIII
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Der zuständigkeitsrechtlich relevante Beginn der Leistung ist der Zeitpunkt, zu dem der Jugendhilfeträger anfängt, die materielle Leistung an den Hilfeempfänger zu erbringen.
- 2.
Hat ein nicht nach § 86 Abs. 1 bis 3 SGB VIII maßgeblicher Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland, so sind § 86 Abs. 2, 3 SGB VIII anwendbar. Für eine analoge Anwendung von § 86 Abs. 1 S. 3 VIII fehlen die Voraussetzungen.
- 3.
Ein Kostenerstattungsanspruch eines Jugendhilfeträgers gegen einen anderen Jugendhilfeträger aus § 105 SGB X ist gegenüber einem Kostenerstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger nicht nachrangig.
Tenor:
Im Umfang der Klagerücknahme wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 20 339,12 EUR zu zahlen.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Kostenerstattung für Jugendhilfeleistungen, die sie ab Mai 2004 an die Hilfeempfängerin E.F. erbracht hat.
E.F. wurde am 28.06.2000 im Friederikenstift in G. geboren. Sie hatte Trisomie 21 (Downsyndrom) und einen Herzfehler. Nach der Geburt wurde sie ins Kinderkrankenhaus auf der H. in G. verlegt und am 24.07.2000 von dort aus im Kinderheim "Haus I." in J. untergebracht. Dort blieb sie bis zum 15.05.2004, als sie in eine Sonderpflegefamilie wechselte. Die Kosten der Unterbringung im "Haus I." übernahm der Rechtsvorgänger des beigeladenen Amtes zu 2) als überörtlicher Sozialhilfeträger nach §§ 39, 100 BSHG.
Die Mutter des Kindes, K.F., war bei der Geburt von E. noch minderjährig und lebte in G.. Bis zu ihrer Volljährigkeit am 25.02.2001 war das Jugendamt der Klägerin der gesetzliche Amtsvormund von E.. Am 27.03.2001 stellte das Amtsgericht G. das Ruhen der elterlichen Sorge fest und bestellte das Jugendamt der Klägerin zum Vormund, weil K.F. seit Beginn des Jahres 2001 für die Behörden nicht mehr erreichbar und ihr Aufenthalt unbekannt war. Ab Mai 2001 lebte K.F. unter verschiedenen Anschriften in L.. Unter dem 05.08.2003 meldete sie sich wieder in G. an. In der Zwischenzeit hatte sie wiederholt eine Aufnahme ihrer Tochter in ihren Haushalt angestrebt, jedoch besuchte sie das Kind nur unregelmäßig und ließ den Kontakt phasenweise auch ganz abreißen.
Der Vater von E., M.N., wurde erst mit Urteil vom 06.08.2002 festgestellt. Er war zum Zeitpunkt von E. s Geburt schon nicht mehr mit K.F. befreundet. Ein Kontakt zu E. entstand nicht.M.N. lebte durchgängig in G., bis er ab dem 22.10.2002 eine Haftstrafe (Jugendstrafe von zwei Jahren und einem Monat) verbüßen musste. Zunächst war er in der Jugendanstalt O. -P. inhaftiert, ab dem 22.01.2003 befand er sich im offenen Vollzug in der Jugendanstalt Q. und wechselte dann später in die Abteilung J. der JVA G.. Während der Haftzeit war er weiterhin in G. gemeldet. Am 06.05.2004 wurde er in die R. abgeschoben. Von dort aus stellte er am 27.07.2006 im deutschen Generalkonsulat in S. erfolglos einen Visumsantrag.
Das Jugendamt der Klägerin wurde schon im August 2000 eingeschaltet und es gab bereits seit dem Jahr 2001 Überlegungen, für E. eine Sonderpflegefamilie zu suchen. Nachdem im Spätsommer 2003 deutlich geworden war, dass es nicht zu einer Aufnahme E. s in den Haushalt ihrer Mutter kommen würde, stellte das Jugendamt der Klägerin als Vormund am 08.09.2003 bei der Klägerin einen Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege.
Am 15.05.2004 wurde E. in die Sonderpflegefamilie T. in U. aufgenommen. Bereits seit März 2004 hatte die Familie T.E. mehrfach besucht.
Nachdem die Klägerin am 17.05.2004 von der Abschiebung M.N. s erfahren hatte, wandte sie sich mit am 25.05.2004 eingegangenem Schreiben vom 18.05.2004 an die Beklagte und bat diese darum, den Fall in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen. Sie meinte, dass sich die Zuständigkeit der Beklagten gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 S. 4 SGB VIII nach dem Aufenthalt von E. vor Leistungsbeginn im "Haus I." in J. richte.
Die Beklagte stellte sich demgegenüber auf den Standpunkt, dass mit der Abschiebung des Vaters gem. § 86 Abs. 5 SGB VIII die vorher gegebene Zuständigkeit der Klägerin bestehen geblieben sei.
Mit Bescheid vom 24.06.2004 bewilligte die Klägerin dem Vormund mit Wirkung ab dem 15.05.2004 Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege.
Mit Schreiben vom 25.06.2004 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten ab dem 15.05.2004 Kostenerstattung gemäß § 89c SGB VIII geltend.
Zum 01.06.2004 verzog K.F. nach V.. Mit vormundschaftsgerichtlichem Beschluss vom 15.11.2004 wurde ihr die elterliche Sorge entzogen und mit Beschluss vom 07.12.2004 wurde das Jugendamt des Landkreises W. zum Vormund von E. bestellt. Während des Klageverfahrens zog K.F. spätestens am 01.07.2006 nach L. um.
Da die Beklagte weder zur Übernahme des Falles noch zur Kostenerstattung bereit war, beantragte die Klägerin vorsorglich auch bei den Beigeladenen Kostenerstattung.
Mit Schreiben vom 10.04.2007 erkannte der Landkreis W. seine Zuständigkeit ab dem 15.05.2006 an und übernahm den Hilfefall mit Wirkung ab dem 01.05.2007.
Am 29.06.2005 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, als Leistungsbeginn sei der 15.05.2004 zu betrachten, weil der Bedarf des Kindes während des Zeitraumes zwischen Antragstellung und Beginn der Leistungsgewährung durch die Unterbringung im Haus I. gedeckt gewesen sei. Ihre zu Beginn des Verwaltungsverfahrens gegebene Zuständigkeit habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bestanden. Die von der Beklagten befürwortete analoge Anwendung von § 86 Abs. 1 S. 3 SGB VIII sei abzulehnen, weil der gewöhnliche Aufenthalt eines Elternteiles auch nach dessen Abschiebung ins Ausland noch feststellbar sei und diese Situation nicht mit dem Tod eines Elternteiles gleichgesetzt werden könne. Die Jugendhilfeleistung sei auch nicht subsidiär gegenüber vom Sozialhilfeträger zu gewährenden Eingliederungshilfeleistungen gewesen, weil der Schwerpunkt der Aufnahme in die Pflegefamilie die Abwehr eines Erziehungsdefizits gewesen sei. Keiner der Elternteile sei dem Versorgungs- und Erziehungsanspruch des Kindes nachgekommen. Ausschlaggebend für die Aufnahme in die Pflegefamilie sei der Umstand gewesen, dass die Mutter erziehungsunfähig und nicht in der Lage gewesen sei, ihr Kind im eigenen Haushalt zur betreuen, zu versorgen und zu erziehen. Der Ausgleich des Betreuungs- und Erziehungsdefizits habe im Vordergrund gestanden, zumal E. noch ein Kleinkind gewesen sei, bei dem diese Aspekte naturgemäß besonders dominant seien.
Die für die Jugendhilfe an E.F. aufgewendeten Leistungen hat die Klägerin für den Zeitraum vom 15.04.2004 bis zum 24.04.2004 auf 845,15 EUR und für den Zeitraum vom 25.05.2004 bis zum 14.05.2006 auf 20 339,12 EUR beziffert.
Nachdem sie zunächst beantragt hatte, die Beklagte zur Erstattung der in dem Zeitraum vom 15.05.2004 bis auf weiteres aufgewendeten Kosten zu verurteilen und zur Übernahme des Jugendhilfefalles zu verpflichten, hat sie die Klage in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Verpflichtung zur Fallübernahme und in Bezug auf die Kosten, die im Zeitraum vom 15.05.2004 bis zum 24.05.2004 entstanden waren, zurückgenommen.
Sie beantragt nunmehr,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 20 339,12 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, angesichts des Krankheitsbildes von E.F. hätten deren Unterbringung in der Sonderpflegestelle T. ebenso wie die Leistungen im Haus I. vorrangig behindertenspezifischen Zielen gedient. Deshalb seien die erbrachten Jugendhilfeleistungen subsidiär gegenüber einem Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem BSHG bzw. dem SGB XII gewesen. Im Übrigen sei als maßgeblicher Zeitpunkt vor Beginn der Leistung das Datum der Antragstellung anzusehen, zumal auch spätestens damals die Suche nach einer geeigneten Pflegefamilie begonnen habe. Zu diesem Zeitpunkt hätte beide Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich der Klägerin gehabt, so dass diese zunächst gem. § 86 Abs. 1 SGB VIII zuständig gewesen und nach der Abschiebung des Vaters gem. § 86 Abs. 5 S. 2 SGB VIII zuständig geblieben sei. Eine Zuständigkeit der Klägerin ergebe sich auch noch aus einem anderen gedanklichen Ansatz: Da in § 86 SGB VIII die Konstellation, dass sich ein Elternteil im Ausland aufhalte, bis auf die hier nicht einschlägige Regelung des § 86 Abs. 4 SGB VIII nicht berücksichtigt sei, müsse § 86 Abs. 1 S. 3 SGB VIII analog angewendet werden. Zudem sei zu beachten, dass die Klägerin keinerlei Ermittlungen über den Aufenthalt des Kindsvaters angestellt habe.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.
Der Beigeladene zu 1) hält es für unklar, ob die Klägerin Leistungen auf der Grundlage von § 33 SGB VIII oder von § 43 SGB I erbracht habe. Er meint, dass die geistige Behinderung und die dadurch erforderliche Betreuung im Vordergrund gestanden habe, so dass Jugendhilfeleistungen nachrangig gewesen seien und ein Kostenerstattungsanspruch gegen den zuständigen Sozialhilfeträger zu richten sei.
Das beigeladene Amt zu 2) hält die im Mai 2004 erfolgte Umstellung der Hilfeart von Eingliederungshilfe auf Jugendhilfe für statthaft. Selbst wenn von einem Nachrang der Jugendhilfe im Verhältnis zu Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach Sozialhilferecht auszugehen wäre, hätte dies keine Auswirkungen auf das Leistungsverhältnis zwischen dem Hilfesuchenden und der Klägerin, sondern wäre lediglich für die Kostenerstattung zwischen dem Jugendhilfeträger und dem Sozialhilfeträger von Bedeutung. Als Beginn der Leistung sei auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Dies sei im Hinblick auf eine von Anfang an bestehende Rechtssicherheit sachgerecht, weil bei Antragstellung häufig die bei Erbringung der materiellen Leistung bestehenden Zuständigkeitsverhältnisse noch nicht bekannt seien und sich bis dahin auch wiederholt geändert haben könnten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO einzustellen.
Hinsichtlich des nicht zurückgenommenen Teiles ist die Klage als allgemeine Leistungsklage zulässig und hat in der Sache Erfolg.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der im Zeitraum vom 25.05.2004 bis zum 14.05.2006 für Jugendhilfeleistungen an E.F. aufgewendeten Kosten in Höhe von 20 339,12 EUR. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 105 Abs. 1 S. 1 SGB X.
Diese Vorschrift ist auch im Bereich jugendhilferechtlicher Kostenerstattungen neben den spezialgesetzlichen Erstattungsregelungen des SGB VIII anwendbar (vgl. Urt.d. Nds. OVG v. 23.08.1989, Az. 4 L 56/89, FEVS 39, 378 ff.; Bay. VGH, Urt.v. 29.04.2004, Az. 12 B 00 877, FEVS 56, 75 ff.; Wiesner in Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, Vorbemerkungen zu § 89 Rn. 13).
Nach § 105 SGB X ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen.
1.
Die Beklagte war im Zeitraum vom 25.05.2004 bis zum 14.05.2006 zuständig für die Jugendhilfeleistungen an E.F..
Dies ergibt sich aus § 86 Abs. 3, Abs. 2 S. 4 SGB VIII. Danach ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben, die Personensorge keinem Elternteil zusteht und das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung bei keinem Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
a)
Diese Zuständigkeitsregelung ist anwendbar.
Zwar wird teilweise vertreten, dass § 86 Abs. 2, 3 SGB VIII in Konstellationen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt eines Elternteiles nicht feststellbar oder im Ausland festgestellt ist, nicht anwendbar und stattdessen § 86 Abs. 1 S. 3 VIII analog heranzuziehen sei (Kunkel, "§§ 86, 87c SGB VIII - die Leuchttürme der örtlichen Zuständigkeit", ZfJ 2001, S. 361, 364, und in LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 86 Rn. 19; Schellhorn in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Aufl. 2007, § 86 Rn. 31). Zur Begründung stützt Kunkel sich darauf, dass § 86 Abs. 4 SGB VIII nicht einschlägig sei, weil er die Anwendbarkeit der Absätze 2 und 3 und damit das Vorliegen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte voraussetze. Schellhorn hingegen nimmt Bezug auf den Sinn und Zweck des Gesetzes. Für die genannten Konstellationen würden die Vorschriften des Absatzes 4 gelten, nicht aber die Absätze 2 und 3.
Diesen Auffassungen kann jedoch nicht gefolgt werden.
aa)
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist nicht auf einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland beschränkt. Maßgeblich ist die über § 37 S. 1 SGB I auch im Bereich des SGB VIII geltende Legaldefinition in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I. Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Umschreibung weist keinen Bezug zu einem bestimmten Staatsgebiet auf. Zwar legt § 30 Abs. 1 SGB I fest, dass die Vorschriften dieses Gesetzbuches für alle Personen gelten, die ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben. Damit wird indes lediglich der personelle Anwendungsbereich der Regelungen des SGB I bestimmt, nicht jedoch die in Absatz 3 gegebene Begriffsdefinition modifiziert. Gegen eine Verkürzung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthaltes auf einen gewöhnlichen Aufenthalte im Inland spricht zudem, dass in § 86 Abs. 4 SGB VIII ausdrücklich auch der Fall geregelt wird, dass Eltern keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Damit wird die Möglichkeit eines gewöhnlichen Aufenthaltes im Ausland begrifflich vorausgesetzt.
bb)
Eine Regelungslücke liegt ebenfalls nicht vor. Denn die Konstellationen, in denen sich aus dem Auslandaufenthalt eines oder beider Elternteile die Folge ergeben würde, dass nach den Absätzen 1 bis 3 kein örtlicher Träger im Inland bestimmt werden kann, sind in § 86 Abs. 4 SGB VIII geregelt worden. In den anderen Fällen, in denen sich der Elternteil, an dessen Aufenthalt die Zuständigkeit nicht direkt anknüpft, mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland befindet, können die Absätze 2 und 3 dem Wortlaut nach angewendet werden und führen auch zu einem Ergebnis.
cc)
Schließlich ist auch eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs von § 86 Abs. 2, 3 SGB VIII ausgeschlossen. Das Regelungskonzept des § 86 SGB VIII ist nicht eindeutig genug, um eine planwidrige Abweichung feststellen zu können.
Zwar folgt die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit in § 86 Abs. 1 bis 3 SGB VIII dem Grundsatz, dass die örtliche Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern anknüpft. Wenn dieser keine Zuordnung ermöglicht, weil die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben, wird als Hilfskriterium das Sorgerecht eines Elternteiles und bei gemeinsamem Sorgerecht der letzte Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil genutzt. Danach wäre es konsequent, in Konstellationen, in denen ein Elternteil sich im Ausland befindet und dort ohnehin keine örtliche Zuständigkeit eines inländischen Jugendhilfeträgers begründet werden kann, an den Aufenthalt des im Inland verbliebenen anderen Elternteiles anzuknüpfen. Diese Lösung hat der Gesetzgeber jedoch nicht gewählt. Stattdessen hat er in § 86 Abs. 4 SGB VIII geregelt, dass für den Fall, dass der nach den Absätzen 1 bis 3 maßgebliche Elternteil im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht feststellbar ist, sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der Leistung richtet.
b)
Aus § 86 Abs. 3, Abs. 2 S. 4 SGB VIII ergibt sich die Zuständigkeit der Beklagten.
Die Eltern von E. hatten bei Beginn der Leistung am 15.05.2004 und durchgängig bis zum 14.05.2006 verschiedene gewöhnliche Aufenthalte. Dabei ist Beginn der Leistung der Zeitpunkt, zu dem der Jugendhilfeträger anfängt, die materielle Leistung an den Hilfeempfänger zu erbringen (vgl. auch Beschl.d. OVG Saarland v. 03.09.2007, Az. 3 Q 133/06, FEVS 59, 134 ff., das ohne explizite Auseinandersetzung mit der Problematik an den materiellen Leistungsbeginn anknüpft; das BVerwG spricht im Urt.v. 29.01.2004, 5 C 9/03, FEVS 55, 310 ff., vom Einsetzen der Hilfegewährung als maßgeblichem Zeitpunkt des "Beginns der Leistung" und stellt im Urt.v. 07.07.2005, Az. 5 C 9/04, FEVS 57, 342 ff., auf das Datum ab, ab dem die materielle Leistung erbracht wurde). Der Begriff der Leistung wird in § 2 Abs. 2 SGB VIII konkretisiert. Demnach sind Leistungen der Jugendhilfe die dort im Einzelnen aufgeführten verschiedene Angebote und Hilfen, unter anderem Hilfe zur Erziehung und ergänzende Leistungen (§§ 27 bis 35, 36, 37, 39, 40). Hier ist der Beginn der Vollzeitpflege als Hauptleistung maßgeblich.
Demgegenüber überzeugt der Ansatz, für den Beginn der Leistung auf den Beginn des Verwaltungsverfahrens abzustellen, die Kammer nicht (so aber OVG für das Land Nordrhein-Westfalen , Urt.v. 13.06.2002, Az. 12 A 3177/00, FEVS 54, 275; Urt.v. 30.04.2004, Az. 12 A 4295/01; Bayerischer VGH, Beschl.v. 19.01.2006, Az. 12 ZB 04 696; Urt.v. 01.04.2004, Az. 12 B 99.2510; Urt.v. 11.2.01, Az. 12 B 00.1280; Urt.v. 28.09.2006, Az. 12 B 04.1266, jeweils veröffentlicht in juris; Schellhorn in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Aufl. 2007, § 86 Rn. 29, 34; eine kontextabhängige Interpretation je nachdem, ob es auf den Zeitpunkt "vor Beginn der Leistung" oder einen Zeitpunkt "nach Beginn der Leistung" ankommt, wählen Kunkel in LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 86 Rn. 7, und wohl auch Grube in Hauck/Haines, SGB VIII, 40. Lfg. 2008, § 86 Rn. 14, 16; Wiesner in Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 86 Rn. 18, 27). Diese Auffassung stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Jugendhilfeträger bereits bei der Prüfung der Voraussetzungen und der Vorbereitung der Hilfeentscheidung die Frage seiner Zuständigkeit beantworten können müsse. Dieses Argument erscheint jedoch nicht zwingend, da es dem Leistungsträger bei zuständigkeitsrechtlich relevanten Veränderungen während des Verwaltungsverfahrens durchaus möglich ist, den Fall an den zuständig werdenden Träger abzugeben. Mithin setzt diese Meinung sich lediglich aus Gründen der Praktikabilität über den Wortlaut "Leistung" hinweg.
Zu Beginn der Leistung am 15.05.2004 hatte die Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt in G. und der Vater hatte nach seiner Abschiebung in die R. dort einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Davon geht das Gericht im Einvernehmen mit den Beteiligten aus, zumal er im Juli 2006 von der R. aus einen Visumsantrag gestellt hat.
Der Vater von E. hatte kein Sorgerecht, und das Sorgerecht der Mutter ruhte seit der Feststellung im vormundschaftsgerichtlichen Beschluss vom 27.03.2001. Das Ruhen der Personensorge steht dem Fehlen der Personensorge gleich (vgl. auch Schellhorn in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Aufl. 2007, § 86 Rn. 32 m.w.N.).
Schließlich hatte E. auch während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung bei keinem Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt, so dass für die örtliche Zuständigkeit an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt E. s vor ihrer Aufnahme in die Pflegefamilie anzuknüpfen war, den sie im "Haus I." im Bereich der Beklagten hatte.
2.
Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X lagen nicht vor, da die Klägerin die Leistungen an E.F. nicht auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig erbracht hat. Es waren weder die Bedingungen für eine fortdauernde Leistungsverpflichtung nach § 86c SGB VIII noch für ein vorläufiges Tätigwerden nach § 86d SGB VIII erfüllt.
a)
Gemäß § 86c SGB VIII bleibt bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Diese Norm ist nur anwendbar, wenn zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels tatsächlich Leistungen erbracht wurden (vgl. Beschl.d. Nds. OVG v. 05.12.1994, Az. 4 M 4924/94, FEVS 46, 62 ff.). Hier hat die Klägerin die Leistung erst ab dem 15.05.2004 erbracht, als bereits die Beklagte zuständig war.
b)
Die Klägerin hat die Kosten auch nicht im Rahmen einer Verpflichtung nach § 86d SGB VIII aufgewendet. Gemäß § 86d SGB VIII ist dann, wenn die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird, der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Vor Beginn der Jugendhilfeleistung hatte E.F. sich aber im Bereich der Beklagten und nicht in dem der Klägerin aufgehalten.
3.
Der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der im Zeitraum vom 25.05.2004 bis zum 14.05.2006 von der Klägerin für Jugendhilfe an E.F. aufgewendeten Kosten in Höhe von 20 339,12 EUR besteht in vollem Umfang.
a)
Nach § 105 Abs. 2 SGB X richtet sich der Umfang der Erstattung nach den für den zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Das sind hier die Vorschriften des SGB VIII, mit denen die Hilfegewährung der Klägerin im Einklang stand. Insbesondere kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, dass die erbrachte Jugendhilfeleistung subsidiär gegenüber Leistungen der Eingliederungshilfe des Sozialhilfeträgers gewesen sei. Für die Frage der Subsidiarität von Jugendhilfeleistungen gegenüber Eingliederungshilfeleistungen der Sozialhilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen nach § 10 Abs. 2 S. 3 SGB VIII in der bis zum 30.09.2005 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII in der ab dem 01.10.2005 geltenden Fassung ist nicht auf den Schwerpunkt des Hilfebedarfs abzustellen, da ein Vor- beziehungsweise Nachrangverhältnis nur bei deckungsgleichen Leistungen bestehen kann (vgl. BVerwG, Urt.v. 23.09.1999, Az. 5 C 26.98, BVerwGE 109, 325 ff.; Urt.v. 02.03.2006, Az. 5 C 15.05, BVerwGE 125, 95 ). Hier fehlt es hinsichtlich der im Pflegegeld enthaltenen Leistungen zum Lebensunterhalt bereits an der Kongruenz zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG/SGB XII (vgl. Urt.d. BVerwG v. 02.03.2006, ebenda). Darüber hinaus berührt ein Vorrang der Eingliederungshilfeleistungen der Sozialhilfe aber auch nicht die Leistungsverpflichtung des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegenüber dem Hilfebedürftigen (BVerwG, Urt.v. 23.09.1999, ebenda). Die Leistungserbringung des Jugendhilfeträgers ist daher auch bei gegebener Subsidiarität rechtmäßig.
Die Beklagte kann die Klägerin auch nicht darauf verweisen, dass sie vorrangig einen Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger geltend machen müsse. Im Hinblick auf einen Kostenerstattungsanspruch aus § 86c SGB VIII hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass der Nachrang der Maßnahmen der Jugendhilfe gegenüber Maßnahmen der Eingliederungshilfe wegen geistiger Behinderung den Kostenerstattungsanspruch des früher örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers gegen den örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträger nicht tangiere, da er nur für die Kostenerstattung zwischen dem Jugendhilfeträger und dem Sozialhilfeträger von Bedeutung sei. Den gesetzlichen Bestimmungen lasse sich nicht entnehmen, dass der Anspruch eines örtlich nicht mehr zuständigen, nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen einen vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger auf Kostenerstattung dem Anspruch nach § 89c SGB VIII vorgehe. Für einen solchen Vorrang gebe es auch keinen sachlichen Grund. Im Gegenteil sei davon auszugehen, dass dem Anspruch nach § 89c SGB VIII Vorrang zukomme. Andernfalls müsste nämlich nicht der örtlich zuständige, sondern der nicht mehr in eigener Zuständigkeit tätige, ausschließlich im Interesse des Hilfeempfängers zur Leistung verpflichtete Jugendhilfeträger sowohl prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger vorliegen, als auch das Prozessrisiko bei einem Rechtsstreit mit dem Sozialhilfeträger tragen ( Nds. OVG, Urt.v. 25.07.2007, Az. 4 LB 90/07, EuG 119 ff.) Diese Ausführungen, denen die Kammer folgt, sind im Wesentlichen auch auf den Erstattungsanspruch aus § 105 SGB X übertragbar. Auch wenn dieser anders als ein Anspruch aus § 89c SGB VIII gegenüber einem Kostenerstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger nicht vorrangig sein mag, so ist er doch auch nicht nachrangig.
b)
Dem Anspruch auf Kostenerstattung steht auch nicht § 105 Abs. 3 SGB X entgegen. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Absätze 1 und 2 gegenüber den Trägern der Jugendhilfe nur von dem Zeitpunkt ab gelten, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorliegen. Hier hat die Beklagte das Schreiben der Klägerin vom 18.05.2004, in dem der maßgebliche Sachverhalt mitgeteilt wurde, am 25.05.2004 erhalten und damit ab diesem Zeitpunkt die erforderliche Kenntnis gehabt.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO. Der zurückgenomme Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme des Falles fällt wertmäßig nicht eigenständig ins Gewicht. Hinsichtlich des zurückgenommenen Teils des Antrags auf Verurteilung der Beklagten zur Erstattung der im Zeitraum vom 15.05.2004 bis zum 24.05.2004 aufgewendeten Kosten in Höhe von 845,15 EUR ist die Klägerin im Vergleich zu der erfolgreich eingeklagten Summe von 20 339,12 EUR nur zu einem geringen Teil unterlegen, so dass die Kammer der Beklagten die Kosten ganz auferlegt. Den Beigeladenen können gem. § 154 Abs. 3 VwGO keine Kosten auferlegt werden, weil sie keine Anträge gestellt haben.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind weder den anderen Beteiligten noch der Staatskasse aus Billigkeitsgründen gem. § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen, da sie sich keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO.
Die Berufung war nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da sowohl die Frage, welcher Zeitpunkt als Beginn der Leistung anzusehen ist, als auch die Frage einer analogen Anwendung von § 86 Abs. 1 S. 3 SGB VIII im Falle des Auslandaufenthaltes eines Elternteiles im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung einer Klärung bedürfen.