Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 02.03.1999, Az.: 5 U 176/98

Zulässigkeit einer Totalextraktion von 18 Zähne erst nach vorheriger Erklärungsdiagnostik; Verpflichtung eines Zahnarztes zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil die von ihm vorgenommene Behandlung nicht dem geschuldeten guten fachärztlichen Standard entsprochen hat; Endgültige Sanierung eines Problempatienten in einer Sitzung entspricht veralteten Standards und begründet eine Schadensersatzpflicht ; Aus dem Fehlen jeglicher Dokumentation kann auf das Unterbleiben einer ausreichenden Eingriffsaufklärung geschlossen werden

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
02.03.1999
Aktenzeichen
5 U 176/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 29098
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1999:0302.5U176.98.0A

Fundstellen

  • ArztR 1999, 168-169
  • MDR 1999, 676-677 (Volltext mit amtl. LS)
  • MedR 2000, 230
  • NJW-RR 1999, 1329-1330 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1999, 1499-1500 (Volltext mit red. LS)

Amtlicher Leitsatz

Eine Totalextraktion (hier: 18 Zähne) ist erst nach vorheriger Erklärungsdiagnostik zulässig - 18.000 DM Schmerzensgeld bei vorgeschädigtem Gebiss.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Zukunftsschäden, die sie aus einer zahnärztlichen Behandlung des Beklagten im Mai/Juni 1995 ableitet.

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Am 10. Mai 1995 zog der Beklagte, in dessen Behandlung sich die 1978 geborene Klägerin wegen ihres insbesondere durch starken Kariesbefall erheblich vorgeschädigten Gebisses begeben hatte, nach Voruntersuchungen unter Vollnarkose sämtliche noch vorhandenen 14 Zähne des Oberkiefers und jedenfalls 4 Zähne des Unterkiefers. Die anschließende Behandlung bis zur Eingliederung einer provisorischen Zahnprothese wurde nach Differenzen zwischen den Parteien abgebrochen und nach Bewilligung der Krankenkasse durch einen anderen Arzt fortgesetzt.

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Die Klägerin hat behauptet, der Beklagte habe die noch erhaltenswerten und durch andere auch teilprothetische Maßnahmen erhaltbaren Zähne nicht ziehen dürfen. Die Totalextraktion sei medizinisch nicht indiziert und fehlerhaft gewesen. Sie habe darin ohne jegliche Aufklärung auch nicht über die Folgen und alternative Behandlungsmöglichkeiten nicht wirksam eingewilligt. Ihre Schmerzensgeldvorstellung hat sie mit 27.000,00 DM angegeben und die Notwendigkeit künftigen Behandlungsbedarfs besonders mit einer extraktionsbedingten fortschreitenden Kieferdeformation begründet.

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Der Beklagte hat sein Behandlungskonzept, über das er ausführlich aufgeklärt habe, zunächst vor allem mit dem Umfang der Vorschädigung, der Behandlungsunwilligkeit und -unfähigkeit der Klägerin, die ihre Zähne habe verkommen lassen, und ihre Zahnarztphobie gerechtfertigt und betont, die Mutter der Klägerin habe Erhaltungsversuche bezüglich einiger Zähne abgelehnt. Bei von ihm dennoch als erhaltungswürdig angesehenen drei Zähnen habe sich intraoperativ herausgestellt, dass sie nicht zu retten gewesen seien. Die Entscheidung zur Extraktion sei auch insoweit nach streng medizinischer Indikation gefällt worden, wobei zu berücksichtigen sei, dass der kassenärztlich tätige Zahnarzt verpflichtet sei, für Füllungstherapien eine Gewährleistung von zwei Jahren zu geben. Bei der mangelhaften Mitarbeit der Klägerin seien andere notwendige und sehr kostenintensive Behandlungsmaßnahmen wirtschaftlich nicht zu vertreten gewesen.

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Das Landgericht hat sachverständig beraten, dem Schmerzengeldbegehren in Höhe von 18.000,00 DM und dem Feststellungsantrag stattgegeben, da die vorgenommene Totalextraktion angesichts von 3 bis 7 erhaltbaren Zähnen fehlerhaft gewesen sei und mangels ausreichender Aufklärung auch ein wirksames Behandlungseinverständnis nicht vorgelegen habe.

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Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgt der Beklagte sein Klagabweisungsbegehren insgesamt weiter; die Klägerin begehrt im Wege der Anschlussberufung ein höheres Schmerzensgeld und Zahlung des vom Landgericht abgewiesenen materiellen Schadensersatzes.

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Unter Bezugnahme auf seinen erstinstanzlichen Vortrag rügt der Beklagte, das Landgericht habe prozesserhebliches und unter Beweis gestelltes Vorbringen unberücksichtigt gelassen.

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Die Entfernung dieser Zähne sei nicht nur lege artis, sondern sogar im Interesse einer vernünftigen, ordnungsgemäßen und wirtschaftlichen zahnärztlichen Behandlung zwingend geboten gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen und die Anschlussberufung nur hinsichtlich des materiellen Schadenseratzbegehrens Erfolg.

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Der Beklagte ist der Klägerin zum Schadensersatz gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB verpflichtet, weil die von ihm vorgenommene sog. Reihenextraktion nicht dem gemäß § 276 BGB geschuldeten guten fachärztlichen Standard entsprochen hat, also vorwerfbar fehlerhaft gewesen und mangels entsprechender Aufklärung auch nicht von einem wirksamen Einverständnis gedeckt, mithin rechtswidrig vorgenommen worden ist.

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Nach der ausführlichen, widerspruchsfreien insgesamt überzeugenden Erläuterung des ohne jeden Zweifel fachkompetenten Gutachters zu den medizinischen Zusammenhängen und der danach gebotenen ärztlichen Behandlung mag das Vorgehen des Beklagten dem vor 20 Jahren geltenden Standard entsprochen haben, nachdem es in Grenzen für zulässig gehalten wurde, bei einer Behandlung in Narkose "alt bewährte Grundregeln" der Zahnmedizin im Interesse einer möglichst schnellen, endgültigen Sanierung eines Problempatienten in einer Sitzung zu vernachlässigen, was häufig auf radikale Extraktionstherapien hinauslief. Von dieser rein palliativen, d.h., Symptome - aber nicht Ursachen beseitigenden Behandlungsmaxime wurde jedoch bereits 1981 zunächst bei Kindern und Jugendlichen zu Gunsten von restaurativen und schließlich präventiven Therapien abgewichen. Eine rein palliative Zahnsanierung durch Reihenextraktion gilt - so der Sachverständige ausdrücklich - nicht einmal mehr bei schwerstbehinderten, völlig unkooperativen Patienten als adäquates Behandlungskonzept.

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Dagegen hat der Beklagte verstoßen, als er ohne vorherige Erhaltungsdiagnostik und Erhaltungstherapieversuche sich zur Extraktion von 18 Zähnen entschloss. Der Status der Klägerin als Kassenpatientin ändert daran ebenso wenig etwas wie ihre unzureichende Zahnpflege und fehlende Kooperationsfähigkeit bzw. -bereitschaft. Für diese Feststellungen besteht kein weitergehender oder zusätzlicher gutachterlicher Erläuterungsbedarf; ein solcher wird auch von dem Beklagten, der erstinstanzlich seinen Antrag auf Anhörung des

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Sachverständigen sogar für erledigt erklärt hat, in seiner Berufung nicht dargetan.

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Auf der Grundlage der vom Beklagten dokumentierten Befunderhebung, der Auswertung der OPT-Aufnahme durch den Zahnarzt Dr. O. und der eigenen Untersuchung der Klägerin ist der Sachverständige zu der überzeugenden Beurteilung gekommen, dass die Entfernung der Zähne ohne die jedenfalls erforderliche diagnostische Überprüfung der Extraktionsindikation aller Zähne, wie z.B. durch Vitalitätsproben, Einzelzahnfilme, Taschentiefenmessung, Feststellung des Grades der Zahnlockerung und der Ausdehnung von kariösen Läsionen und ohne jegliche Versuche von Zahnerhaltungsmaßnahmen wie Füllungstherapien, Paradontal- und Wurzelbehandlungen erfolgt ist. Solche Behandlungsmaßnahmen sind insgesamt nicht dokumentiert. Die Vornahme auch nur einzelner dieser Maßnahmen trotz der unterbliebenen, medizinisch aber gebotenen Dokumentation hat selbst der Beklagte nicht substantiiert behauptet. Sein Vorbringen beschränkt sich im Kern darauf, der Schädigungszustand, die

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Operationsverhältnisse und der Persönlichkeits- sowie Versicherungsstatus der Klägerin hätten einer solchen Vorgehensweise entgegengestanden.

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Diese Einwände sind nicht erheblich. Die genannten konservativ orientierten Behandlungsmethoden sind, daran lässt der Sachverständige keine Zweifel, auch in Vollnarkose bei so schwierigen Patienten wie der Klägerin und ganz besonders angesichts ihres jugendlichen Alters nicht "akademischer Natur" oder "lebensfremd", sondern gehören zu den notwendigen Routinemaßnahmen, die Extraktionen voranzugehen haben und deren Unterbleiben einen Verstoß gegen die zahnärztliche Sorgfaltspflicht bedeutet.

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Dem auf den intraoperativen Zustand von 3 Zähnen gerichteten Zeugenbeweisantritt war aus diesem Grunde ebenfalls nicht nachzugehen. Abgesehen davon, dass auch nicht andeutungsweise gesagt wird, welchen Befund diese Zeugin im Einzelnen bestätigen können soll und in welcher Weise sie zu welchem Zeitpunkt in die Behandlung miteingebunden gewesen sein soll, übersieht der Beklagte, dass es um die Extraktionsindikation durch - wie ausgeführt - entsprechende vorrangige Befunderhebungen und erhaltende Vorsorgemaßnahmen insgesamt geht. An dem haftungsbegründenden Unterlassen dieser Therapie vermag der interoperativ vom Beklagten erkannte Zustand nichts zu ändern.

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Entgegen der Berufung geht es auch nicht nur um diese "3 allein streitbefangenen" Zähne. Nach dem genannten maßgeblichen Beurteilungsgrundlagen wird auch die Schlussfolgerung des Sachverständigen, dass "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 3 bis 7 Zähne hätten erhalten werden können" dadurch nicht in Zweifel gezogen. Den Beweis, dass auch bei regelgerechtem Vorgehen durch die genannte auf Zahnerhaltung gerichtete Behandlungskonzeption der Verlust der Zähne nicht zu vermeiden gewesen wäre, hat der Beklagte nicht führen können.

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Ohne Erfolg bleibt auch der Versuch der Berufung, aus der unter Zeugenbeweis gestellten Darstellung seines ursprünglichen Behandlungskonzepts eine ordnungsgemäße Aufklärung der Patientin abzuleiten. Zunächst muss aus dem Fehlen jeglicher Dokumentation, die dem Gerichtssachverständigen aber auch dem vorprozessual eingeschalteten

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Versicherungsgutachter zufolge unbedingt, d.h. auch in einer ambulanten Zahnarztpraxis vorzunehmen ist, das Unterbleiben einer ausreichenden Eingriffsaufklärung geschlossen werden. Zwar verbleibt dem behandelnden Arzt grundsätzlich die Möglichkeit, den Beweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung auf andere Weise zu führen. Dem vermag der Beklagte mit dem vorgenannten Beweisantritt aber nicht zu genügen. Denn diese Aufklärung hätte umfassend auch die Gesamtheit der konservativ orientierten Diagnostik und sonstigen erhaltenden Behandlungsmaßnahmen miteinbeziehen müssen, die der Beklagte nach seinem eigenen Vorbringen gerade nicht vorgenommen hat, weil er sie nicht für geboten hielt. Ein etwaiges Einverständnis ohne diese umfassende Unterrichtung wäre aber - unabhängig von der Frage, inwieweit Extraktionen auf Wunsch von Patienten trotz zahnmedizinisch sinnvoller Zahnerhaltung vorgenommen werden dürfen - nicht wirksam.

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Schließlich ist auch die Höhe des zuerkannten Schmerzensgeldes und die vom Landgericht dafür gegebene Begründung, auf die verwiesen wird (LGU 6 letzter Absatz - LGU 7 erster Absatz) nicht zu beanstanden. Entgegen der Berufung haben das Landgericht und auch der Gerichtssachverständige bei der Beurteilung der Extraktionsfolgen nicht in unzulässiger Weise die Vorschädigung der Klägerin außer Acht gelassen und stattdessen den Verlust "gesunder, schöner Zähne" zu Grunde gelegt. Die dahingehenden Ausführungen des Sachverständigen belegen nur die grundsätzliche Bedeutung eines Zahnbildes generell und die damit zusammenhängende Wertigkeit einer auch nur teilerhaltenden Behandlung. muss aber zu Gunsten der Klägerin von einer Teilerhaltung auch im Sichtbereich ausgegangen werden und zugleich von wesentlich günstigeren Prothetikbedingungen, ist das ausgeurteilte Schmerzensgeldvolumen durchaus gerechtfertigt, aber vor allem angesichts der Vorschädigung auch nicht zu gering angesetzt.

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In Anbetracht der nicht abgeschlossenen behandlungsbedingten Kieferverhältnisse und der damit zusammenhängenden Möglichkeit der Veränderung der prothetischen Versorgung gehen auch die Angriffe gegen den Feststellungsausspruch ins Leere.