Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 16.03.1999, Az.: 5 U 194/98

Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Zukunftsschäden wegen einer Lidheberschwäche nach Legen eines Venenkatheters; Unterbliebene Auswertung von Krankenunterlagen im Rahmen des Sachverständigengutachtens; Aufklärungspflicht des Arztes über die Wahl des Zuganges für einen zentralvenösen Katheter (ZVK)

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
16.03.1999
Aktenzeichen
5 U 194/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 29348
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1999:0316.5U194.98.0A

Fundstellen

  • NJW-RR 1999, 1327-1328 (Volltext mit amtl. LS)
  • OLGReport Gerichtsort 1999, 155-157
  • VersR 2000, 191-193 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Unterbliebene Auswertung von Krankenunterlagen - Zugang der Venenkatheder für künstliche Ernährung - Lidheberschwäche nach Halsvenenpunktion kein Hinweis auf Behandlungsfehler.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt Ersatz immaterieller Schäden und Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Zukunftsschäden wegen einer Lidheberschwäche nach Legen eines Venenkatheters.

2

Am 18.3.1996 wurde die Klägerin im deutlich verminderten Ernährungszustand wegen eines akuten Schubes ihrer chronischen Darmentzündung (Morbus Crohn) in der von dem Beklagten zu 2) geleiteten Klinik für Gastroenterologie des von der Beklagten zu 1) getragenen Krankenhauses aufgenommen. Nach erfolglosem Versuch für die künstliche Ernährung einen zentralvenösen Katheter (ZVK) im Halsbereich über die Vena jugularis interna rechts zu legen, brachten die Beklagten zu 3) und 4) den Katheter in die Vena basilica in der linken Ellenbogenbeuge ein. Danach - laut Dokumentation erstmals am 20.3.1996 - trat eine Lidspaltenenge ein. Neurologisch und augenärztlich wurde eine Lidheberparese i.S.e. inkompletten Horner-Syndroms diagnostiziert.

3

Die Klägerin hat behauptet, die Beklagten zu 3) und 4), für die der Beklagte zu 2) mangels ausreichender Überwachung einzustehen habe, hätten, statt den gebotenen - weil einfacheren und risikoärmeren - Zugang über die Ellenbogenvene zu wählen, ohne jegliche Aufklärung über die Gefahr von Nervenläsionen durch unsachgemäße stundenlanger Versuche, die Halsvene zu punktieren, vermeidbar das benachbarte Nervengeflecht geschädigt. Infolgedessen sei ihre Sehfähigkeit rechts wegen der geringen Lidöffnung praktisch aufgehoben; im Haushalt und Straßenverkehr sei sie nachhaltig verunsichert, leide unter Verspannungen und Belastungsschmerzen im Augenbereich, fühle sich verunstaltet und sei dadurch psychisch insgesamt stark belastet. Es handele sich um einen Dauerschaden; eine Korrekturoperation berge das Risiko in sich, dass das Auge nicht mehr vollständig geschlossen werden könne. Ihre Schmerzensgeldvorstellung hat sie mit 25.000,- DM angegeben.

4

Die Beklagten haben behauptet, die beiden für den Eingriff versierten Ärzte hätten nach je einem mangels Blutaspiration erfolglosen Versuch über den schulmäßigen Zugang der Halsvene sich umgehend für die Ellenbogenvene entschieden. Ein Zusammenhang zwischen den Punktionsversuchen und der Nervschädigung bestehe nicht und werde auch in der Fachliteratur nicht beschrieben; allenfalls sei eine temporäre Nervlähmung mit dem lokal eingebrachten Betäubungsmittel vorstellbar.

5

Das Landgericht hat - sachverständig beraten (Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens, Anhörung des Gutachters) - die Klage abgewiesen, da nicht bewiesen sei, dass die Nervschädigung Folge eines unsachgemäßen Vorgehens der Beklagten zu 3) und 4) sei und die Klägerin in Ermangelung einer risikoärmeren Alternative ihr Einverständnis gegeben hätte, auch wenn sie in der von ihr jetzt geforderten Art und Weise aufgeklärt worden wäre.

6

Mit der dagegen gerichteten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

8

Der Klägerin stehen keine deliktischen und vertraglichen Schadensersatzansprüche aus §§ 823 Abs. 1, 847 BGB, PVV des Behandlungsvertrages zu im Zusammenhang mit der vom 18.3.1996 an erfolgten künstlichen Ernährung im Krankenhaus des Beklagten zu 1). Es ist weder ein haftungsbegründender Behandlungsfehler festzustellen, noch dass die Behandlung infolge einer unwirksamen weil nicht von ausreichender Aufklärung beim Legen des ZVK gedeckten Einwilligung rechtswidrig erfolgt ist.

9

Nach den Erläuterungen des Sachverständigen ist zwar nicht mehr zweifelhaft, dass die Lidheberparese auf den Punktionsversuchen an der Halsvene beruht. Die Wahl dieses Zuganges für den ZVK ist aber ebenso wenig zu beanstanden wie die getroffene Indikationsstellung für eine parenterale Ernährung. Auch lässt sich ein vorwerfbares Vorgehen der Beklagten zu 3) und 4) dabei nicht feststellen, insbesondere spricht dafür weder die Erfolglosigkeit dieser Katheterisierung noch die dadurch hervorgerufene Nervschädigung.

10

Die Notwendigkeit einer künstlichen Ernährung auf Grund ihres akuten Unterernährungszustandes infolge ihrer jahrelangen Darmerkrankung wird von der Klägerin bereits in der Klageschrift ausdrücklich eingeräumt. Die diesbezüglichen Feststellungen des Sachverständigen haben ihre Grundlage in den eigenen Angaben der Klägerin bei ihrer Untersuchung; der deutlich reduzierte Ernährungszustand der Klägerin ist auch in den Behandlungsunterlagen festgehalten. Für die von der Berufung ohne nähere Untermauerung erstmals demgegenüber bezweifelte medizinische Notwendigkeit für die Versorgung über einen ZVK wegen möglicher und vorzuziehender medikamentöser Behandlung bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Die von ihr an sich zu Recht gerügte bei der Begutachtung unterbliebene Berücksichtigung der Krankenunterlagen hat sich nicht ausgewirkt, da - wie ausgeführt - die medizinische Beurteilung durch den Sachverständigen auf der Grundlage der zutreffenden eigenen Krankheitsbeschreibung durch die Klägerin ihre Überzeugungskraft behält.

11

Gleiches gilt hinsichtlich des Versuchs, zunächst über die Halsvene die Versorgung der Klägerin zu erreichen. Dies entspricht laut Sachverständigem dem schulmäßigen Vorgehen bei einer parenteralen Ernährung, weil so ein größeres Volumen ermöglicht wird bei insgesamt weniger Komplikationsrisiken, und steht der von der Berufung lediglich wiederholten Behauptung entgegen, ein Katheter über die Ellenbogenbeuge sei risikoärmer. Die Gesamtrisikoeinschätzung hat der Sachverständige auch vor dem Hintergrund der von ihm zuvor erläuterten Nähe zum Armnervengeflecht bei einer Punktion der Halsvene getroffen; dadurch bedingte Risiken sind von ihm mit einbezogen worden.

12

Für ein fehlerhaftes Vorgehen bei der Punktion selbst gibt es keinen Anhalt. Das Vorbringen der Klägerin über die Länge dieser Punktionsversuche war offensichtlich von der Gesamtdauer ihrer Abwesenheit aus dem Krankenzimmer beeinflusst und wird auch jetzt nicht wieder aufgegriffen. Der Sachverständige hat im Übrigen ausdrücklich festgehalten, dass wiederholte Versuche bei einer Halsvenenpunktion üblich seien.

13

Auch die erstmals in der Berufung erhobene Rüge, dem Beklagten zu 3) hätte dieser Eingriff mangels ausreichender Qualifikation nicht überlassen werden dürfen, greift nicht durch. Zunächst streitet bereits die gegebene Möglichkeit, sofort einen erfahrenen Kollegen hinzuzuziehen - die Qualifikation des Beklagten zu 4) wird nicht einmal von der Klägerin in Zweifel gezogen - für eine ausreichende organisatorische Vorsorge. Abgesehen davon hat die Klägerin nicht unter Beweisantritt dargelegt, dass es ein Fehler war, den Beklagten zu 3) einzusetzen.

14

Damit ist sie aber belastet (vgl. allgemein BGH VersR 1985, 343). Das Legen eines ZVK ist kein Spezifikum der Gastroenterologie mit den dafür erforderlichen fachärztlichen Kenntnissen, sodass es auf das darauf gerichtete Auskunftsverlangen der Klägerin nicht ankommt. Die bloße Behauptung, ein Assistenzarzt dürfe keinen Katheter legen, ist insoweit nicht schlüssig; ein entsprechender Beweisantritt fehlt. Im Übrigen bestätigen der erfolglose Versuch auch des hinzugezogenen erfahrenen Arztes und die vom Sachverständigen betonte Üblichkeit mehrerer Punktionsversuche, dass hier die Qualifikationsfrage nicht im Zusammenhang mit der Nervenläsion zu bringen ist. Für eine dahingehende, von der Behandlungsseite zu widerlegende Vermutung nach den Grundsätzen der so genannten Anfängeroperation ist daher insgesamt kein Raum.

15

Schließlich bleiben auch den Aufklärungsrügen der Erfolg versagt.

16

Zwar lässt sich eine Aufklärungspflicht grundsätzlich nicht mit einem statistisch geringen Risiko verneinen. Der Senat hält in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung Statistiken für die Frage, über welche Risiken aufzuklären sind, für wenig bedeutsam, da auch über sehr seltene Risiken aufzuklären ist, wenn sie im Falle ihrer Verwirklichung die Lebensführung des Patienten schwer belasten und trotz ihrer Seltenheit für den Laien überraschend sind (vgl. nur Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 7. Aufl., Rn. 332 ff m.v.w.N. aus der Rechtsprechung).

17

Zweifelhaft ist aber bereits, ob die Wahl des Zuganges für einen ZVK aufklärungspflichtig ist oder ob dies nicht lediglich die operationstechnische Seite eines Eingriffs betrifft, über die ein Arzt nach den eigenen Erfahrungen und Fertigkeiten zu entscheiden hat, auch wenn der Sachverständige selbst Patienten über die Möglichkeit sich regelmäßig dann aber zurückbildender Nervenschäden bei Halsvenenpunktionen unterrichten würde. Zu Recht ist das Landgericht aber davon ausgegangen, dass die Klägerin einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel dargelegt hat, wenn ein solcher Hinweis erfolgt wäre. Ihrer mündlichen Anhörung bedurfte es dafür nicht. Denn dieser Hinweis hätte nur im Zusammenhang mit der weiteren Erklärung erfolgen können, dass der vorgeschlagene Behandlungsweg - wie vorstehend dargelegt - dem schulmäßigem insgesamt weniger komplikationsträchtigen Vorgehen entspricht. Demgegenüber ist die pauschale Behauptung der Klägerin, sie hätte sich für den risikoärmeren Zugang entschieden oder sich diesen zumindest doch überlegen wollen, nicht nachzuvollziehen, weil es diesen risikoärmeren Weg dem Sachverständigen zufolge gerade nicht gibt. Es ist vor diesem Hintergrund nicht verständlich, wodurch bei der Patientin gegenüber dem schulmäßig gebotenen Standard als Behandlungsmethode der Wahl Bedenken ausgelöst worden wären.