Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 20.03.2013, Az.: L 15 AS 477/12 B

Anspruch auf Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit der Neubemessung der Regelbedarfe beim Anspruch auf Arbeitslosengeld II

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.03.2013
Aktenzeichen
L 15 AS 477/12 B
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 36324
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:0320.L15AS477.12B.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - AZ: S 21 AS 221/12

Fundstellen

  • FStBW 2013, 771-772
  • FStHe 2013, 698-700
  • FStNds 2013, 505-507
  • GV/RP 2013, 602-604
  • NZS 2013, 559

Redaktioneller Leitsatz

1. Eine Rechtsverfolgung ist als mutwillig anzusehen, wenn der Kläger ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Neubemessung der Regelbedarfe nach dem SGB II zum 1.1.2011 geltend macht und er den Grundsicherungsträger in Kenntnis der zu dieser Frage beim Bundessozialgericht anhängigen Revisionsverfahren zur Bescheidung des Widerspruchs innerhalb der Frist des § 88 Abs. 2 SGG aufgefordert hat, anstatt das Widerspruchsverfahren zur Vermeidung der Anwaltsgebühren für ein sozialgerichtliches Verfahren nicht weiter zu betreiben.

2. In Verfahren, in denen ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfe ohne Besonderheiten im Einzelfall geltend gemacht wird, ist ein Ruhen des Verfahrens nach § 202 SGG in Verbindung mit § 251 ZPO auf Antrag der Beteiligten möglich und zweckmäßig. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Tenor:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Beschwerde der Kläger gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) für das erstinstanzliche Verfahren S 21 AS 221/12 versagenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 13. November 2012 hat keinen Erfolg.

Zugunsten der Kläger geht der Senat davon aus, dass die Klageforderung, welche die Gewährung höherer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für eine fünfköpfige Bedarfsgemeinschaft für den Bewilligungszeitraum vom 1. November 2011 bis 30. April 2012 wegen geltend gemachter Verfassungswidrigkeit der bei der Leistungsberechnung zugrunde gelegten Regelbedarfe betrifft, den für eine zulassungsfreie Berufung maßgeblichen Beschwerdewert von 750,00 EUR (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) übersteigt und danach die Beschwerde gegen die Versagung von PKH nicht nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 2 Satz 2 HS 2 Zivilprozessordnung (ZPO) ausgeschlossen ist.

Die Beschwerde ist aber in der Sache nicht begründet. Der Senat lässt offen, ob die Klage entsprechend der Begründung des angefochtenen Beschlusses keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Gegen das Argument, dass das auf Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II gerichtete Klagebegehren ohne Erfolgsaussicht sei, da es selbst bei unterstellter Verfassungswidrigkeit der Regelsätze fernliegend erscheine, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die zugrunde liegenden einfachgesetzlichen Regelungen rückwirkend für verfassungswidrig erkläre bzw. eine Übergangsregelung mit Rückwirkung für die Vergangenheit treffe (so u. a. auch Landessozialgericht - LSG - Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. Oktober 2011 - L 2 AS 99/11 B - Rdnr. 31 ff.; LSG Niedersachsen-Bremen - 13. Senat -, Beschluss vom 25. April 2012 - L 13 AS 80/12 B - mit weiteren Nachweisen), ließe sich einwenden, dass das BVerfG dem Gesetzgeber in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 u. a.) aufgegeben hat, eine den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende Neuregelung bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen. Ferner könnte eine hinreichende Erfolgsaussicht unabhängig von der Frage, ob die Kläger für den Fall der Verfassungswidrigkeit der von ihnen angegriffenen gesetzlichen Regelungen mit ihrem Begehren auf Gewährung höherer Leistungen für den streitbefangenen Bewilligungszeitraum durchdringen könnten, unter den Gesichtspunkt bejaht werden, dass mit der Klage letztlich die Klärung der Frage angestrebt wird, ob die Neuberechnung der Regelbedarfe den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht (vgl. zu diesem Gesichtpunkt LSG Niedersachsen-Bremen - 11. Senat -, Beschluss vom 18. Oktober 2012 - L 11 AS 1165/11 B - Rdnr. 12). Zwar liegen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Neuermittlung des Regelbedarfs für Alleinstehende zwischenzeitlich die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Juli 2012 (B 14 AS 153/11 R und B 14 AS 189/11 R) vor; die Verfassungsbeschwerden gegen diese Urteile wurden nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG - 3. Kammer -, Beschlüsse vom 20. November 2012 - 1 BvR 2203/12 - und vom 27. Dezember 2012 - 1 BvR 2471/12). Die im vorliegenden Fall auch entscheidungserhebliche Verfassungsmäßigkeit der Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche ist bislang aber noch nicht höchstrichterlich geklärt (vgl. hierzu Vorlagebeschlüsse des SG Berlin vom 25. April 2012 - S 55 AS 9238/12 u. a.).

Der Senat lässt die Frage der hinreichenden Erfolgsaussicht letztlich offen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung jedenfalls als mutwillig i. S. d. § 114 Satz 1 ZPO anzusehen ist. Das BVerfG hat im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Klärung von verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, dass die sich aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergebende Rechtsschutzgleichheit keine vollständige Gleichheit Unbemittelter, sondern nur eine weitgehende Angleichung gebietet. Vergleichsperson ist derjenige Bemittelte, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Ein sein Kostenrisiko vernünftig abwägender Bürger, der die Prozesskosten aus eigenen Mitteln finanzieren muss, wird ein Verfahren nicht (weiter) betreiben, solange dieselbe Rechtsfrage bereits in anderen Verfahren in der Revisionsinstanz anhängig ist (sogenannte unechte Musterverfahren). Er kann auf diesem Wege - im Falle einer in seinem Sinne positiven Entscheidung des Revisionsgerichts - vom Ausgang dieser Verfahren profitieren, ohne selbst einem (weiteren) Kostenrisiko zu unterliegen. Solange ein Betreiben des eigenen Verfahrens in zumutbarer Weise zurückgestellt bzw. auch formell ruhend gestellt werden kann, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte davon ausgehen, dass eine anwaltliche Vertretung nicht erforderlich ist. Sind die unechten Musterverfahren zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits beim Revisionsgericht anhängig, gilt dies regelmäßig auch für die Klageerhebung selbst (vgl. zum Vorstehenden: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 18. November 2009 - 1 BvR 2455/08 - Rdnr. 9 ff.).

Der Senat geht mit dem Schleswig-Holsteinischen LSG (Beschluss vom 9. Juli 2012 - L 6 AS 12/12 B PKH - Rdnr. 20 ff.) davon aus, dass ein Beteiligter, der das Kostenrisiko eines sozialgerichtlichen Verfahrens im Hinblick auf die Anwaltsgebühren vernünftig abwägt, versuchen wird, sein Ziel höherer Leistungen wegen aus seiner Sicht verfassungswidrig zu niedrig festgelegter Regelbedarfe möglichst ohne Inanspruchnahme der Gerichte zu erreichen, und daher ein Widerspruchsverfahren nicht weiter betreiben wird, sobald diese Frage bereits in anderen Verfahren in der Revisionsinstanz anhängig ist. Durch eine solche Vorgehensweise entstehen dem Leistungsberechtigten auch keine Nachteile; es bei der Massenverwaltung im SGB II, in der in nahezu jedem Einzelfall die Höhe der Regelbedarfe leistungsrelevant ist, gerade nicht erforderlich ist, dass zahllose gleichartige Verfahren vor den Sozialgerichten betrieben werden (so zutreffend Schleswig-Holsteinisches LSG, aaO. Rn. 22).

Hier haben die Kläger bereits im Widerspruchsverfahren ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der bei der Leistungsberechnung des Beklagten zugrunde gelegten Regelbedarfe geltend gemacht. Weitere Einwände gegen den angefochtenen Bewilligungsbescheid vom 24. Oktober 2011 haben sie nicht erhoben, insbesondere die Berechnung ihrer Leistungsansprüche nicht beanstandet. Über die Leistungen für Unterkunft und Heizung hatte der Beklagte ohnehin nur vorläufig entschieden. Bereits in dem von ihrem jetzigen Prozessbevollmächtigten verfassten Widerspruchsschreiben vom 21. November 2011 hatten die Kläger auf die seinerzeit bei dem BSG anhängigen Revisionsverfahren zu den Aktenzeichen B 14 AS 131/11 R und B 14 AS 153/11 R Bezug genommen. Gleichzeitig hatten sie die den Beklagten ohne nähere Widerspruchsbegründung aufgefordert, über ihren Widerspruch zur Vermeidung einer Untätigkeitsklage binnen der Frist des § 88 Abs. 2 SGG zu entscheiden. Mit dieser Vorgehensweise haben die Kläger den Beklagten zu einer möglichst kurzfristigen Bescheidung des Widerspruchs gedrängt, obwohl ein das Kostenrisiko vernünftig abwägender Bürger - wie ausgeführt - nach Wegen gesucht hätte, ein gerichtliches Verfahren zu vermeiden. Namentlich wäre hier ein Antrag in Betracht gekommen, das Widerspruchsverfahren bis zur Entscheidung der in der Widerspruchsbegründung genannten Revisionsverfahren ruhend zu stellen und damit eine Vorgehensweise zu wählen, wie sie etwa regelmäßig in beamtenrechtlichen Widerspruchsverfahren wegen der Höhe der Besoldung gerade zur Vermeidung der Kosten eines Gerichtsverfahrens gewählt wird. Auch wäre die Erwirkung einer vorläufiger Entscheidung nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - SGB III - in Betracht gekommen.

Selbst wenn der Beklagte das Widerspruchsverfahren trotz eines entsprechenden Antrags der Kläger nicht ruhend gestellt hätte und damit nach Erteilung des Widerspruchsbescheides eine Klageerhebung unumgänglich geworden wäre, um das Verfahren "offen" zu halten, wäre hierfür eine anwaltliche Vertretung nicht erforderlich gewesen (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. Oktober 2011 - L 2 AS 99/11 B - Rdnr. 33 und Schleswig-Holsteinisches LSG, aaO. Rdnr. 22 zu gleich gelagerten Verfahren). Der Senat schließt sich auch insoweit der Auffassung des Schleswig-Holsteinischen LSG an, wonach in Verfahren, in denen ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfe ohne Besonderheiten im Einzelfall geltend gemacht wird, ein Ruhen des Verfahrens nach § 202 SGB i. V. m. § 251 ZPO auf Antrag der Beteiligten möglich und zweckmäßig ist. Diese Möglichkeit haben die Kläger am Ende ihrer umfangreichen Klagebegründung, bei der es sich um einen standardisierten Schriftsatz ohne Einzelfallbezug handelt, selbst angesprochen. Das SG hat bereits mit der Eingangsverfügung vom 8. Februar 2012 sowie erneut mit Verfügung vom 15. März 2012 das Ruhen des Verfahrens vorgeschlagen. Während der Beklagte sich mit Schriftsatz vom 20. März 2012 hiermit einverstanden erklärt hat, ist eine Zustimmung des Klägerseite bislang offensichtlich allein daran gescheitert, dass im Hinblick auf die erfolgte anwaltliche Vertretung zuvor noch eine Entscheidung über den PKH-Antrag begehrt worden ist (vgl. Schriftsatz vom 29. Mai 2012).

Kosten des PKH-Beschwerdeverfahrens werden gemäß § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.