Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 13.03.2013, Az.: L 7 AS 808/12 B

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
13.03.2013
Aktenzeichen
L 7 AS 808/12 B
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 36326
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:0313.L7AS808.12B.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - 26.06.2012 - AZ: S 46 AS 150/12 ER

Fundstelle

  • NZS 2013, 480

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 26. Juni 2012 aufgehoben.

Der Antragstellerin wird zwecks Durchführung des erstinstanzlichen Eilverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K., Lüneburg, bewilligt. Raten sind nicht zu zahlen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I. Die Antragstellerin begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Eilverfahren zwecks Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1969 geborene Antragstellerin bezog für den hier nicht streitigen Bewilligungszeitraum vom 1. Oktober 2011 bis zum 31. März 2012 SGB II-Leistungen unter Anrechnung eigener Einkünfte und anteiligen Kindergeldes für den mit ihr zusammen wohnenden und volljährigen Sohn D., soweit es seinen Bedarf überstieg. Über diese Leistungsbewilligung war ein Widerspruchsverfahren anhängig (zwischenzeitlich ist Klage erhoben worden), in dem die Antragstellerin die Modalitäten der Anrechnung des übersteigendes Kindergeldes als auch die Höhe der Freibeträge für das eigene Erwerbseinkommen gerügt hatte. Unter dem 20. Januar 2012 teilte die Antragstellerin ferner mit, dass die Lebensgefährtin ihres Sohnes nebst eigener Tochter in ihre Wohnung eingezogen seien und mit ihr mit Zustimmung des Vermieters einen Untermietvertrag abgeschlossen habe.

Für den hier streitigen Weiterbewilligungszeitraum ab 1. April 2012 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 16. März 2012 die Bewilligung von Leistungen ganz ab, weil der Bedarf der Antragstellerin durch das eigene Erwerbseinkommen sowie sonstiges Einkommen vom überschießenden Kindergeld gedeckt sei. Die Antragstellerin legte am 16. April 2012 hiergegen fristwahrend Widerspruch ein und beantragte Akteneinsicht. Am gleichen Tage stellte sie beim Sozialgericht (SG) Lüneburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Sie machte geltend, dass - wie bereits für den früheren Bewilligungszeitraum ab 20. Januar 2012 angezeigt - ihr Sohn eine Bedarfsgemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin und deren Kind bilde, so dass auf ihren Bedarf allein ihre Erwerbseinkünfte unter Berücksichtigung eines höheren Freibetrages und ohne das Kindergeld anzurechnen seien. Nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 10. Mai 2012 der Antragstellerin ab 1. April 2012 SGB II-Leistungen in Höhe von 310,04 EUR und ab 1. Mai bis zum 30. September 2012 in Höhe von 300,04 EUR bewilligte, erklärte die Antragstellerin den Eilantrag in der Hauptsache für erledigt. Der Antragsgegner lehnte eine Kostenübernahme ab, weil die Antragstellerin den Untermietvertrag mit der Lebensgefährtin ihres Sohnes erst später vorgelegt und weiter nicht vorgetragen habe, dass ihr Sohn mit der Lebensgefährtin eine Bedarfsgemeinschaft bilde.

Das SG hat mit rechtskräftigem Beschluss vom 26. Juni 2012 entschieden, dass die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten haben. In den Gründen hat es ausgeführt, der Antragsgegner habe keine Veranlassung gegeben, ihn zeitgleich mit dem Widerspruch mit einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren in Anspruch zu nehmen. Gerade einem anwaltlich vertretenen Hilfesuchenden sei es zumutbar, vor Stellung eines Eilantrages bei dem Grundsicherungsträger durch einen Telefonanruf oder auf schriftlichem Wege abzuklären, ob der Grundsicherungsträger auf seiner im Ablehnungsbescheid dargestellten Berechnung des Einkommens beharre, die Einschaltung des SG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens also unumgänglich sei.

Mit weiterem Beschluss vom 26. Juni 2012 hat das SG Lüneburg den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die Einleitung eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes sei nicht erforderlich gewesen. Wenn aber ein bemittelter, verständiger Beteiligter, der für seine Prozesskosten selbst aufzukommen habe, seine Rechte nicht in gleicher Weise durch Anrufung des SG geltend gemacht, sondern vernünftigerweise einen kostengünstigeren Weg zur Durchsetzung seiner Rechte gewählt hätte, so erweise sich die Rechtsverfolgung durch den mit dem Widerspruch gleichzeitig angebrachten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als mutwillig.

Gegen den Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 12. Juli 2012. Die Antragstellerin könne nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen ein Normalbürger eine kostenfreie einstweilige Anordnung nicht gleichzeitig mit der Einlegung des Widerspruchs beantragt hätte. Das gelte erst Recht für einen anwaltlich vertretenen Antragsteller, weil sich ein Rechtsanwalt möglicherweise dem Vorwurf des fehlerhaften Verhaltens durch den Mandanten aussetzen müsse, wenn er noch Tage warten würde mit dem Einreichen der einstweiligen Anordnung, weil ein Zusprechen erst ab Eingang des Antrages erfolgen könne. Das SG verkenne insbesondere, dass im vorliegenden Fall die Antragstellerin bereits für den davor liegenden Bewilligungszeitraum erfolglos dieselben Einwände bezüglich der Höhe des anrechnungsfähigen Einkommens vorgetragen habe. Die Antragstellerin habe folglich nicht damit rechnen können, dass eine schnelle Abhilfe seitens des Antragsgegners erfolgen könne, nachdem ab 1. April 2012 die Leistungen voll eingestellt worden seien, obwohl sämtliche Auskünfte bereits am 20. Januar 2012 bei dem Antragsgegner vorgelegen hätten.

II. Die Beschwerde der Antragstellerin ist statthaft und im Übrigen zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG - i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung - ZPO -). Der Ausschlussgrund nach § 172 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegt nicht vor, weil in der Hauptsache (Streitzeitraum: 16. April bis 30. September 2012) die Berufung zulässig wäre, denn der Wert des Streitgegenstandes übersteigt 750,00 EUR (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Beschwerde der Antragstellerin ist auch begründet und führt zur Aufhebung des Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses des SG Lüneburg.

Der Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe zwecks Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu bewilligen, weil hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne des § 73a SGG i. V. m. § 114 ZPO vorliegen. Ein Anordnungsanspruch war gegeben, wie das prozessual im Teilabhilfebescheid des Antragsgegners vom 10. Mai 2012 verkleidete Teilanerkenntnis zeigt. Ein Anordnungsgrund war ebenfalls gegeben, weil die Antragstellerin unaufschiebbare existenzsichernde Leistungen begehrte und der Antragsgegner nicht glaubhaft gemacht hat, wie sich die Antragstellerin sonst die ihr ab April 2012 zustehenden Leistungen in Höhe von mindestens 310,04 EUR beschaffen könnte.

Entgegen der Auffassung des SG entfällt die Eilbedürftigkeit nicht deswegen, weil einem anwaltlich vertretenden Antragsteller zuzumuten sei, erst einige Tage nach Einlegung des Widerspruchs und nach erfolgter Fristsetzung gegenüber der Behörde gerichtlichen Eilrechtsschutz zu beantragen. Dieses Argument kann schon deshalb die grundsätzliche Ablehnung von Prozesskostenhilfe nicht rechtfertigen, weil spätestens nach Ablauf einer vom SG als angemessen angesehenen Wartefrist, ohne dass der Antragsgegner auf den Antrag auf gerichtlichen Rechtsschutz abgeholfen hätte, die erforderliche Eilbedürftigkeit eingetreten sein müsste. Denkbar ist allenfalls, wenn davor ein Versuch zur gütlichen Einigung möglich und zumutbar erscheint, Leistungen erst nach Ablauf dieser Frist zuzusprechen, und nicht bereits ab Eingang des verfrühten Eilantrages. Jedenfalls bei der vorliegenden Fallgestaltung, in der der Antragsgegner fast vier Wochen gebraucht hat, um dem berechtigten Begehren der Antragstellerin zu entsprechen, kann der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein eingeleitetes Eilverfahren über existenzsichernde Leistungen nicht als willkürlich angesehen werden.

Die einstweilige Verfügung in der Form der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Zum streitigen Rechtsverhältnis gehört eine ausdrückliche Ablehnung durch die Behörde oder ein als Ablehnung zu deutendes Verwaltungshandeln. Der Leistungsberechtigte muss sich grundsätzlich an die Verwaltung wenden, dort einen Antrag auf die Leistung stellen und die normale Bearbeitungszeit abwarten. Ausnahmsweise kann aber auch davor ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen, wenn die Sache sehr eilig ist und der Antragsteller aus besonderen Gründen mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, bei der Behörde kein Gehör zu finden (Keller, in: Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 10. Auflage, § 86b Rdn. 26b). In diesem Verfahrensstadium ist in der Regel zur verlangen, dass der Antragsteller, bevor er ein Verfahren des gerichtlichen Rechtsschutzes einleitet, an den Leistungsträger herantritt, versucht auf diesem Wege die Sache zu klären, und unter gewissen Umständen eine Frist setzt, bis wann die Verwaltung eine abschließende Entscheidung mitteilen muss. Anders verhält es sich jedoch im Falle eines Ablehnungsbescheides. In diesen Fällen wird der Antragsteller allein durch die versagte Leistung beschwert und erlangt nicht erst dann ein Rechtsschutzbedürfnis, nachdem er möglicherweise unter Fristsetzung die Behörde um eine andere Entscheidung bittet. Der vom SG aufgestellte Grundsatz, ein anwaltlich vertretender Kläger dürfte nicht gleichzeitig Widerspruch einlegen und einstweilige Anordnung beantragen, ist in dieser Allgemeinheit nicht ersichtlich. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Reaktionen. Der Widerspruch begründet lediglich das streitige Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten. Dagegen verfolgt die einstweilige Anordnung die vorläufige Sicherung von Rechten des Antragstellers, die ansonsten einen spürbaren Nachteil erleiden würden. Das Hinausschieben des Eilrechtsschutzes um einige Tage nach Einlegung des Widerspruchs ist zumindest im Grundsicherungsrecht unzumutbar, weil dann existenzsichernde Leistungen erst ab diesem späteren Zeitpunkt zugesprochen werden dürfen. Vielmehr gibt der Antragsgegner mit Erlass eines ablehnenden Bescheides grundsätzlich Veranlassung für die gebotenen rechtlichen Schritte, um die verletzten Rechte durchzusetzen einschließlich eines Eilantrages.

Es ist zweifelsohne richtig, dass ein sozialgerichtliches Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht aus freien Stücken eingeleitet werden darf und davor sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, um ohne gerichtlichen Rechtsschutz Abhilfe zu erlangen, soweit dies zumutbar und möglich erscheint. Dieser Ansatz führt im vorliegenden Fall aber nicht dazu, dass die Antragstellerin nicht gleichzeitig mit dem Widerspruch den Eilantrag beim SG stellen durfte. Sie hat nämlich aus objektiver Sicht nicht die geringste Veranlassung für die hoffnungsvolle Annahme gehabt, der Antragsgegner würde auf ihre formlose Bitte hin kurzfristig die ablehnende Haltung aufgeben. Dagegen sprach vor allem der Umstand, dass die Antragstellerin ihre Einwände bereits Monate davor in dem Widerspruchsverfahren bzgl. des vorherigen Bewilligungsabschnitts erfolglos vorgetragen hatte. Die Antragstellerin hatte ferner - nach ihren unbestrittenen Angaben - bereits am 20. Januar 2012 die Änderung der Verhältnisse in ihrer Wohnung angezeigt, ohne dass seitens des Antragsgegners eine Leistungskorrektur erfolgt wäre. Der Einwand des Antragsgegners, die Antragstellerin habe den Untermietvertrag nicht vorgelegt und keine Bedarfsgemeinschaft zwischen ihrem Sohn und seiner Lebensgefährtin behauptet, ist abwegig. Ob eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 SGB II vorliegt, ist eine Rechtsfrage, die von der Behörde unabhängig von Behauptungen und Rechtsauffassungen der Beteiligten zu klären und zu beantworten ist. Die maßgeblichen Umstände dafür waren aktenkundig; ein schriftlicher Untermietvertrag nicht entscheidungserheblich. Die vom SG verlangte telefonische Rücksprache scheiterte bereits daran, dass der Antragsgegner in der Korrespondenz die Telefonnummer der Sachbearbeiter nicht anführt (auch gegenüber dem Landessozialgericht nicht, obwohl diese Verfahrensweise ihm bereits prozessuale und wirtschaftliche Nachteile zugefügt hat). Schließlich zeigt der Umstand, dass der Antragsgegner sogar auf den Antrag auf gerichtlichen Rechtsschutz vom 16. April 2012 bis zum 10. Mai 2012 brauchte, um dem Begehren abzuhelfen, dass auch die vom SG der Antragstellerin auferlegte Pflicht, vorab beim Antragsgegner schriftlich um eine gütliche Einigung zu bitten, sinnlos gewesen wäre.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.