Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 11.05.2005, Az.: 1 A 397/01
Abschiebungshindernis; Abschiebungsverbot; Asyl; Asylbewerber; Ausländer; Durchentscheiden; exilpolitische Betätigung; Flüchtling; Folgeantrag; Folgenabwägung; Folgeverfahren; objektiver Nachfluchtgrund; Umsetzung; Umsetzungsfrist; Vietnam; vietnamesische Staatsangehörigkeit; Wiederaufgreifen
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 11.05.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 397/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 51040
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 1 AufenthG 2004
- § 60 Abs 7 AufenthG 2004
- § 60 Abs 5 AufenthG 2004
- § 51 VwVfG
- § 51 Abs 1 Nr 1 VwVfG
- § 77 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 28 Abs 2 AsylVfG 1992
- § 71 AsylVfG 1992
- Art 33 EG
- Art 3 MRK
- Art 4 MRK
- Art 7 MRK
- Art 8 MRK
- Art 2c EGRL 83/2004
- Art 4 Abs 4 EGRL 83/2004
- Art 4 Abs 5 EGRL 83/2004
- Art 4 Abs 3 EGRL 83/2004
- Art 4 Abs 3a EGRL 83/2004
- Art 4 Abs 5 EGRL 83/2004
- Art 9 EGRL 83/2004
- Art 5 EGRL 83/2004
- Art 5 Abs 3 EGRL 83/2004
- § 28 Abs 2 AufenthG 2004
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG ist unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/83/EG zu beurteilen.
2. Das gerichtliche Verfahren ist für Wiederaufgreifensgründe offen.
3. In Vietnam haben sich die Gesamtverhältnisse deutlich verschärft.
Tatbestand:
Dem Kläger geht es um seine Anerkennung als Asylberechtigter sowie um die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. von Abschiebungshindernissen.
Der 1970 geborene Kläger kam als vietnamesischer Staatsangehöriger im Rahmen bilateraler Abkommen 1988 in die ehem. CSSR. Von dort reiste er im März 1991 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter, was nach seiner Anhörung vom 5.4.1991 mit Bescheid des Bundesamtes vom 6. Juni 1991 abgelehnt wurde; zugleich wurde festgestellt, dass auch ein Abschiebungsverbot nicht vorliege. Die insoweit erhobene Klage wurde durch rechtskräftiges Urteil des Einzelrichters der Kammer vom 5. August 1993 (1 A 649/91) abgewiesen.
Im Dezember 2001 stellte der Kläger mit der Begründung einen Folgeantrag auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. als Flüchtling (§§ 51, 53 AuslG), er sei Mitglied einer exilpolitischen Organisation und betätige sich in entsprechender Weise seit 1999 bis in die jüngste Zeit auf vielen Veranstaltungen. Er setze sich für Menschenrechte und Freiheit in Vietnam ein. Ohne Anhörung wurde dieser Antrag durch Bescheid vom 12. Dezember 2001 mit der Begründung abgelehnt, der Antrag scheitere angesichts des § 51 Abs. 3 VwVfG an seiner Unschlüssigkeit sowie daran, dass exilpolitische Betätigungen bei einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Bestrafung führten. Auch Abschiebungshindernisse gem. § 53 AuslG lägen unter diesen Umständen nicht vor. Der Kläger wurde bei Androhung der Abschiebung zur Ausreise binnen 1 Woche aufgefordert.
Zur Begründung seiner am 21. Dezember 2001 erhobenen Klage erweitert und vertieft der Kläger seinen Standpunkt, als aktives Mitglied eines exilpolitisch weltweit tätigen - antikommunistischen - Vereins, dessen Mitglieder in Vietnam verfolgt würden, müsse er bei seiner Rückkehr ernsthaft mit Inhaftierung und Verfolgung rechnen. Er habe zusammen mit anderen Asylsuchenden eine Internetzeitung namens „Viet Nam moi“ (Neues Vietnam) gegründet, deren hauptverantwortlicher Betreuer und Korrektor er sei. Die Zeitung sei seit Februar 2002 für jeden zugänglich (Bl. 34 GA). Außerdem sei im März 2002 ein Verein mit dem Namen „Demokratische Bewegung für die Zukunft Vietnams“ gegründet worden (Bl. 48 GA), in dem er als Vorstandsmitglied der Kassenwart sei. Dieser Verein sei beim Amtsgericht Winsen/L. im Vereinsregister eingetragen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11. Dezember 2001 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger gemäß seinem Antrag (nur) noch um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.
Im Übrigen - wegen der ursprünglich begehrten Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16 a Abs. 1 GG - ist die Klage nach der Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2005 kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).
Auf Abschiebungshindernisse iSv § 60 Abs. 7 AufenthG - ggf. iVm der EMRK (vgl. dazu Urt. d. Nds. OVG v. 21.1.1997 - 10 L 1313/96 -) kommt es damit nicht mehr an.
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist jener der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG, für den - entgegen wiederholten Äußerungen des Bundesamtes - eine Gleichsetzung retrospektiv-politischer Verfolgung iSv Art. 16 a GG mit einer prognostischen Bedrohung iSv § 60 AufenthG nicht möglich ist. Der zeitliche Unterschied zwischen der zurückliegenden Verfolgungssituation und der prognostischen Einschätzung einer Bedrohung ist - von inhaltlichen Differenzen abgesehen - derart erheblich, dass eine Gleichsetzung nicht in Betracht kommt.
2. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention iVm § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in seine Heimat bei prognostischer Einschätzung eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Denn gem. § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung der in den Art. 3, 4, 7 und 8 EMRK genannten Rechtsgüter oder aber der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004; BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Die Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).
Soweit § 60 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland "bedroht" ist, lässt sie erkennen, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss und die bloße, selbst durch Präzedenzfälle bestätigte Möglichkeit allein noch nicht ausreicht. Andererseits genügt im Rahmen der erforderlichen Prognose schon eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt künftiger politischer Verfolgung, so dass insoweit nicht etwa eine „Sicherheit“ gegeben sein muss. Da inzwischen die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist (am 20. Tag nach ihrer am 30. September 2004 - L 304/12 - erfolgten Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union / Art. 39 der Richtlinie), sind heute auch deren Standards im Wege der Auslegung bereits zu beachten. Soweit diese Richtlinie in Art. 2 c) und Art. 4 Abs. 4 die subjektive „Furcht des Antragstellers vor Verfolgung“ zum Ausgangspunkt nimmt und auf diese Weise in § 60 Abs. 1 AufenthG ein - schon früher in § 51 Abs. 1 AuslG enthaltenes (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. § 51 AuslG Rdn. 4) - subjektives Element trägt, ist es jedoch so, dass auch diese Furcht sachlich „begründet“ sein muss (Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie). Auch der in der gen. Richtlinie angesprochene Wille, nicht in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren (Art. 2 c), muss auf eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ zurückgehen.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist aufgrund einer individuellen Prüfung und Wertung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) somit dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (Art. 9 der Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen unter Wertungsgesichtspunkten überwiegen (vgl. dazu schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).
Solche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Menschenwürde- und Freiheitsrechten des Klägers ist hier auf der Grundlage einer entsprechenden Würdigung und Bewertung der Sach- und Rechtslage gegeben.
2.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass der neu angefügte Abs. 2 des § 28 AsylVfG die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren vermag, wenn ausnahmslos rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, vornehmlich schon dann, wenn subjektive und objektive Nachfluchtgründe nur miteinander verwoben sind, kommt der allgemeine Grundsatz des Art. 5 der gen. Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 zur Geltung. Denn die Regelung des AufenthG stellt sich als Ausnahme iSv Art. 5 Abs. 3 der gen Richtlinie 2004/83/EG dar und ist nach allgemeinen Grundsätzen eng auszulegen. Demzufolge ist auch die in § 28 Abs. 2 AufenthG enthaltene Regel eng auszulegen und jede von ihr abweichende Ausnahme - gemäß dem Grundsatz der gen. Richtlinie in Art. 5 - großzügig und weit.
Im Übrigen stellt es einen objektiven Nachfluchttatbestand dar, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber Dissidenten und regimekritischen Betätigungen verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4). Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/ EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen in besonderem Maße, so dass Verschärfungen bis hin zu Repressionen und Folterungen, im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.
2.2 Soweit die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes darauf zurückgeht, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen nicht erfüllt seien, ist dem Kläger zuzubilligen, dass er entsprechende Gründe selbstverständlich auch noch während des gerichtlichen Verfahrens jederzeit nachschieben kann (und deshalb nicht etwa noch bei der Beklagten jeweils erneut gesonderte Folgeanträge zu stellen hätte, Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 71 Rdn. 21 mwN.). Denn das gerichtliche Verfahren ist für derartige Gründe selbstverständlich offen, § 77 AsylVfG. Nur auf diese Weise können ansonsten durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken (Art. 20, 19 Abs. 4 GG) vermieden werden. Zwar sind einzelne Wiederaufnahmegründe wie auch Dauersachverhalte - z.B. die Mitgliedschaft in einer Organisation oder Verschärfungen im Heimatland - im Verwaltungsverfahren vor dem Bundesamt innerhalb von 3 Monaten nach deren Eintritt oder Beginn geltend zu machen, bei Verschärfungen oder Neueinschätzungen 3 Monate nach einer entsprechenden Neubewertung. Sachverhalte aber, die sich als Fortsetzung rechtzeitig eingeführter Grundsachverhalte darstellen, sind nicht einmal vor dem Bundesamt in der dargestellten Weise fristgebunden. Hier genügt es, wenn der Grundsachverhalt schon einmal fristgemäß vorgetragen wurde.
Bei der exilpolitischen Betätigung, die sich nicht auf einzelne „Aktionen“ reduzieren lässt, die vielmehr stets durch neue Entschlüsse „getragen“ wird, genügt es zudem, wenn sie anlässlich eines Entschlusses und einer Betätigung fristgerecht vorgetragen wurde. Liegt ein neuer oder erneuerter Entschluss regimekritischer Betätigung vor, ist der entsprd. Vortrag auch im Verwaltungsverfahren fristgerecht, wenn er binnen 3 Monaten nach dem neuen Entschluss vorgebracht wurde. Für die weitere Entwicklung und Einschätzung kommt es dann darauf an, in welchem Ausmaß eine regimekritische Betätigung mit asylrechtlicher Relevanz vorliegt.
Auch bei politischen Verschärfungen im Heimatland reicht es aus, wenn die entsprechende Einschätzung, die sich bei schleichenden, sehr langsam oder sich stufenweise darstellenden Entwicklungen nur schwer zeitlich ein- und abgrenzen lässt, einmal fristgerecht - in zeitlicher Nähe zu einer möglichen Neueinschätzung - in das Verfahren eingeführt wurde. Der weitere Vortrag kann dann darauf Bezug nehmen, da er nur deren Vertiefung dient.
Diesen Anforderungen genügt der Vortrag des Klägers:
2.2.1 Die vom Kläger im gerichtlichen Verfahren erst vorgelegten - überaus zahlreichen - Nachweise seiner exilpolitischen Betätigung in Deutschland sind als zulässigerweise nachgeschobene Gründe und Belege je für sich geeignet, die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 VwVfG zu überwinden. Hierbei mag es sein, dass die reine Mitgliedschaft im gen. Verein nicht rechtzeitig vorgetragen wurde. Damit sind aber nicht auch exilpolitische Betätigungen anderer Art wie z.B. die Teilnahme an Demonstrationen pp. präkludiert. Es ist dem Kläger nicht versagt, solche Betätigungen als Anlass für ein Folgeverfahren vorzutragen. Insoweit ist anerkannt, dass bereits die bloße Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung ausreicht (Renner, aaO., § 71 Rdn. 19; Thür.OVG, Urt. v. 6.3.2002 - 3 KO 428/99). Der materielle Anspruch auf Asyl oder Feststellung von Abschiebungsverboten bzw. -hindernissen selbst ist noch nicht Gegenstand der (Vor-)Frage, ob ein Folgeverfahren durchzuführen ist (VGH Mannheim, AuAS 2000, S. 152). Daher braucht nicht festzustehen, dass die Sach- und Rechtslage anders als zuvor zu bewerten ist. Das muss nur möglich erscheinen.
2.2.2 Auch die Änderung der Rechtslage im Hinblick auf das ab dem 1.1.2005 geltende Zuwanderungsgesetz, aber auch hinsichtlich der Richtlinie 2004/83/EG des Jahres 2004 rechtfertigt eine Befassung mit dem Folgeantrag, da es sich insoweit um erhebliche Änderungen der Rechtslage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG handelt.
2.2.3 Ebenso rechtfertigen die Hinweise auf eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), das „Drohen bzw. Bestehen von Verhaftungswellen“, die Verfolgung von Religionsangehörigen (Christen und Buddhisten) und die Aufstände des Jahres 2001 und 2004, die in der Presse kaum Erwähnung gefunden haben, eine Befassung mit dem Folgeantrag: Neben der Offenheit des gerichtlichen Verfahrens dafür (§§ 77 AsylVfG, 86 VwGO) ist festzustellen, dass der Kläger diese Vorgänge naturgemäß noch nicht im Jahre 2001 vortragen konnte und dem Kläger diesbezüglich auch nur eine normale Zeitungslektüre angesonnen werden kann. Ihm könnte es daher nicht einmal in einem Verwaltungsverfahren als grobes Verschulden vorgehalten werden, wenn er den Dauersachverhalt einer Verschärfung der Verhältnisse in Vietnam erst nach dessen Erkennbarkeit vorgebracht hat.
2.3. In diesem Fall, dass nämlich die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG erfüllt sind, ist in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.) davon auszugehen, daß eine Zurückverweisung des Verfahrens an das Bundesamt nicht mehr in Betracht kommt, vielmehr das Verwaltungsgericht selbst in der Sache durchzuentscheiden hat (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO). Somit ist hier materiell-rechtlich maßgeblich, ob in der Sache Abschiebungsverbote oder -hindernisse gegeben sind.
2.4. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - Mai 2005 - stellt sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Entscheidung so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam verändert, nämlich deutlich verschärft haben. Weiterhin ist im Europäischen Raum zwischenzeitlich die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten (Amtsblatt der EU v. 30.9.2004 / L 304/12). Außerdem ist im deutschen Recht das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.
2.4.1 Die gen. Richtlinie ist bereits anwendbar, obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005):
„In einem Beschluss vom 29.12.2004 hatte der VGH Hessen sogar darüber hinausgehend und bezogen auf die sog. "Freizügigkeitsrichtlinie" nochmals ausdrücklich festgestellt, dass sich aus der Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der gemeinschaftsrechtliche Stand der Freizügigkeitsrechte entnehmen ließe (VGH Hessen, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 CG 3649/04 -).“
Bei der somit gebotenen individuellen Prüfung aller Angaben des Klägers sowie der allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass der Kläger sich offenkundig um einen kohärenten und plausiblen Vortrag hinsichtlich seines Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte in Vietnam bemüht hat, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit der Kläger festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen der Kläger, der in der mündlichen Verhandlungen vom 11. Mai 2005 einen überzeugenden Eindruck hinterließ, keines weiteren, über seine Aussagen noch hinausgehenden Nachweises (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. auch BVerwGE 55, 82).
2.4.2 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Insoweit heißt es im Sinne einer aktuellen Lagebeschreibung in der FR v. 29.4.2005, S. 1:
„Die Kommunisten lassen keine Meinungs-, Versammlungs- oder Gewerkschaftsfreiheit zu, unterdrücken jede Opposition, kontrollieren Medien und Internet. ´Vietnams elende Menschenrechtslage ist in neue Tiefen gesunken´, schrieb 2003 die Organisation Human Rights Watch. 2004 berichtete HRW, die Lage habe sich noch verschlimmert. Dissidenten würden verhaftet, manche gefoltert. Besonders gefährlich lebten Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten, vor allem Buddhisten und Christen im Hochland“.
Das politische Engagement eines Einzelnen ist nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Registrierungen, (Gegen-) Aktionen, Reaktionen und Repressionen. „Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt“ (so auch der Lagebericht AA v. 12.2. 2005, S. 5). Insoweit ist heute - 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):
„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)
Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. AA Lagebericht v. 12.02.2005) aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ bzw. solche, die dafür gehalten werden, inhaftiert oder bestraft werden und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lagebericht, aaO., S. 5). In Vietnam werden demgemäß „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (Lagebericht, aaO. S. 6). Viele Journalisten üben „Selbstzensur“. Versuche, mit politischen Flugblättern oder Zeitungen Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht, aaO. S. 6).
In Übereinstimmung hiermit heißt es im IGFM-Jahresbericht 2004 (v. Febr. 2004, zu Pkt. 1) u.a.:
„Spionagetätigkeiten werden in Vietnam mit hohen Strafen - auch mit der Todesstrafe geahndet. Die IGFM zweifelt an dem Rechtfertigungscharakter dieses Vorwurfs, weil er sehr weit ausgelegt und in den letzten Monaten exzessiv gegen Dissidenten angewandt wurde, die Informationen über das Internet verbreitet hatten. Für die vietnamesische Strafverfolgung ist nicht die Art, sondern allein der Nutzungszweck der übermittelnden Informationen relevant. Allein das Ansammeln und Weiterleiten von Informationen aus öffentlichen bzw. offiziellen Quellen, die der Empfänger für seine Kritik an der Politik des vietnamesischen Staates nutzen könnte, erfüllen den Tatbestand "Spionage". Nguyen Khac Toan, Pham Hong Son und Nguyen Vu Binh wurden sogar für Kontakte mit vietnamesischen Oppositionellen im Exil bestraft. Der Fall von den drei Verwandten des katholischen Pfarrers Nguyen Van Ly, die kurz nach seiner Verhaftung im Juni 2001 ebenfalls festgenommen wurden, verdeutlicht die Willkür und den politischen Charakter dieser Verfolgung. Ihnen wurde anfangs Spionage vorgeworfen, weil sie Berichte über die Verfolgung der Religionsgemeinschaften in Vietnam an einen Radiosender und eine Menschenrechtsorganisation in den USA weitergegeben hatten. Infolge weltweiter Proteste wurde der Prozess zweimal verschoben, die Anklage wegen Spionage später fallen gelassen und auf "Missbrauch der freiheitlich demokratischen Rechte" (mit Strafmaß zwischen sechs Monaten und sieben Jahren) umgeändert. Im Revisionsverfahren im November 2003 wurden die im September 2003 verhängten Haftstrafen von drei, vier und fünf Jahren auf entsprechend vier Monate, und zwei mal 32 Monate reduziert. In einem weiteren Revisionsverfahren im August 2003 wurde die Strafe von Dr. Pham Hong Son nach weltweiten Protesten auf fünf Jahre Haft und drei Jahre Hausarrest reduziert.“
Dabei schreckt die vietnamesische Polizei und Justiz auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK / Verbot der Folter) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:
„Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi Hong Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen. Die sechs Mennoniten um Pastor Nguyen Hong Quang waren Mitte November wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" zu Haftstrafen zwischen neun Monaten und drei Jahren verurteilt worden. Die Brüder Nguyen Huu Nghia und Nguyen Thanh Nhan kamen am 2. bzw. 3. Dezember frei, nachdem sie am 2. März dieses Jahres verhaftet worden waren. Ihre Zeugenaussagen, die der in Frankfurt ansässigen IGFM vorliegen, belegen die Gewaltanwendungspraxis der vietnamesischen Polizei und der Justizbehörden.
Polizei und Staatsanwalt hatten versucht, die Gefangenen zu zwingen, Pastor Quang als Anstifter und Rädelsführer der März-Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Mennoniten zu denunzieren. Sie wurden zum Verhör bestellt, meist nachdem kriminelle Häftlinge sie schwer geschlagen hatten. Den Brüdern wurden vorgefertigte Verhörprotokolle zur Unterschrift vorgelegt, in dem sie ihre angeblichen Straftaten zugeben und Reue zeigen. Weil die Gefangenen dies nicht taten, wurden sie misshandelt. Heute können die beiden Brüder infolge der Misshandlungen nicht mehr arbeiten. Im Gefängnis wurden sie mehrmals ins Gesicht bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Ihre Nasenbeine wurden gebrochen. Nhan wurde gezwungen, vier Monate lang auf Zehenspitzen zu hocken. Das lange Sitzen und die Schläge auf die Wirbelsäule im Lendenbereich haben zur Nervenschädigung geführt. Das linke Bein von Nhan ist heute gelähmt und er kann nicht mehr schmerzfrei sitzen. Zwei Monate verbrachte er in Isolationshaft, in einer kleinen Zelle ohne Fenster und Belüftung. Zweimal wurde er bewusstlos aus der Zelle getragen. Sein Bruder Nghia leidet infolge von Schlägen und Tritten auf Brust und Kopf an schweren Atembeschwerden, chronischen Schwindelgefühlen und Kopfschmerzen. Die Gefängniswärter sollen kriminelle Mitgefangene angestiftet haben, ihn zu misshandeln. Bis zu seiner Freilassung wurde er fast zwei Monate lang in der Krankenstation des Gefängnis Chi Hoa behandelt. Übereinstimmend berichteten Nhan und Nghia von weiteren Misshandlungen an zwei anderen inhaftierten Mennoniten, Pham Ngoc Thach und Nguyen Van Phuong, ihre Schmerzschreie und Hilferufe seien in allen Gefängniszellen zu hören gewesen. Nhan und Nghia trafen die Mennonitin Le Thi Hong Lien zum ersten Mal wieder am Prozesstag 12.11.2004. Frau Lien war in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung. Sie redete nicht und weinte andauernd. Im Gericht antwortete sie nicht auf die Fragen des Richters, so dass man sie aus dem Gerichtssaal entfernen ließ. Trotz ihrer Unzurechnungsfähigkeit wurde sie zu 12 Monaten Haft verurteilt.“
Gegen diese äußerst negative Gesamteinschätzung spricht nicht, dass der vietnamesische Pater Nguyen Van Ly - Shalompreisträger des Jahres 2004 -, der sich beharrlich für Religions- und Meinungsfreiheit in Vietnam eingesetzt hat und seit 1983 wiederholt willkürlich angeklagt und verurteilt wurde, anlässlich des Tet-Festes jetzt (2005) offenbar vorzeitig aus der Haft entlassen wurde - einer Haft, die er zeitweise unter menschenunwürdigen Bedingungen in Isolationshaft verbringen musste (so die Eichstätter Ortsgruppe von ai v. Febr. 2005). Denn die allgemeine Menschenrechtslage, wie sie von sachkundigen Beobachtern der Lage in Vietnam beurteilt wird, hat sich dadurch noch nicht grundlegend verändert.
Gleiches gilt für die Freilassung der 21-jährigen Christin Le Thi Hong Lien in Ho Chi Minh Stadt zum 30. April 2005 (vgl. die in der mündlichen Verhandlung überreichte Pressemitteilung der IGFM v. 27.4.2005 ; siehe dazu auch obige Meldung der IGFM v. 17.12.2004):
„Die durch Folter psychisch schwer erkrankte Christin Le Thi Hong Lien soll nach Informationen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) am 30. April aus vietnamesischer Haft freikommen. Die mennonitische Lehrerin war im November zusammen mit anderen Christen zu zwölf Monaten Haft verurteilt worden. Der IGFM liegen Augenzeugenberichte vor, daß die Verurteilten wiederholt gefoltert wurden, oft bis zur Bewußtlosigkeit. Die IGFM führt die Freilassung auf internationale Proteste zurück. idea und die IGFM hatten die 21jährige im Dezember als „Gefangene des Monats“ benannt“ (Evangeliums-Rundfunk Österreich - ERF/ Evangelische Nachrichtenagentur, idea v. 3.5.2005).
Das Schicksal der Freigelassenen belegt vielmehr die drastische vietnamesische Verfolgungspraxis gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen, die dafür gehalten werden, einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK).
Indiz dafür, dass es vielmehr sogar eine bis nach Deutschland reichende, gezielte Verfolgung von Regimegegnern aus Vietnam gibt, ist die aus Vietnam bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg am 17. März 2005 eingegangene Anzeige gegen einen vietnamesischen Staatsbürger, der hier als Flüchtling anerkannt wurde (Az. der Staatsanwaltschaft Lüneburg: 1107 Js 6546/05).
Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen mit Härte unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht 2004 von amn. Intern. - ai - (Vietnam, S. 414 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern sogar der Zugang zum Land verweigert wird (S. 415 r. Spalte) und die Justiz gegen Regierungskritiker vorgeht.
Denn Meinungsfreiheit wird in Vietnam als Gefährdung des Staates verstanden. Schon öffentliche Stellungnahmen im Internet für „Demokratie“ und „hoffnungsvolle Anzeichen“ dafür werden mit unverhältnismäßig hohen (Verfolgungs-)Strafen belegt (vgl. dazu den Country Report des Englischen „Home Office“ v. April 2004), etwa mit 13-jähriger Gefängnisstrafe, die vom vietnam. Supreme court auf dann immer noch 5 Jahre herabgesetzt wurde. Für die Richtigkeit dieser Nachricht spricht die Meldung von news (heise-online v. 26.8. 2003):
„Ein vietnamesisches Berufungsgericht hat die Haft für einen Dissidenten, der einen Artikel über Demokratie im Internet veröffentlicht hatte, von 13 auf 5 Jahre verringert. Das teilte ein Justiz-Sprecher am Dienstag in der Hauptstadt Hanoi mit. Phan Hong Son war im Juni nach den Gesetzen des kommunistischen Landes der Spionage für schuldig befunden worden, weil er einen Aufsatz des US- Außenministeriums mit dem Titel "Was ist Demokratie?" übersetzt und ins Netz gestellt hatte. Der Haftstrafe soll sich allerdings ein dreijähriger Hausarrest anschließen, sagte der Sprecher.
Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch rief die vietnamesische Führung auf, Son umgehend freizulassen. Das Verfahren sei nicht fair und widerspreche internationalen Vereinbarungen über die Menschenrechte. "Verteidiger können nichts ausrichten, weil es ein politischer Prozess ist", sagte Regionaldirektor Brad Adams. Die vietnamesische Regierung blockiert bereits den Zugriff auf rund 2000 Webseiten, von denen die meisten politischen oder pornografischen Inhalt haben. Sämtliche Medien des Landes unterliegen strikter Kontrolle des Staates.“
Die Stellungnahme des „Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt“ v. Juni 2004 bestätigt das, der zufolge nämlich
„Menschenrechtsverletzungen an Andersdenkenden und Intellektuellen sowie die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten ... an der Tagesordnung sind“.
Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde beispielsweise Dr. Nguyen Dan Que lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte (vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004, S. 416). Für das Menschenrechtsdefizit spricht auch die Verweigerung der Einreise von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.)
2.4.3 Die dem Kläger als einem fundamental „Andersdenkenden“ bzw. Dissidenten bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem seine „politische Überzeugung“ zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Er ist Mitbegründer und Betreuer einer Internet-Zeitung mit dem Namen „Viet Nam Moi, auf der kritische Stellungnahmen und Briefe zur vietnamesischen Diktatur veröffentlicht werden. Hierbei ist es unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie „unerheblich“, ob der Kläger aufgrund seiner „Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung“ in irgendeiner Weise „tätig geworden ist“ (Art. 10 aaO.). Auch die politische Überzeugung Andersdenkender ist gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG schon als solche geschützt. Dabei ist davon auszugehen, dass der gesamte Vortrag des Kläger eine politische Überzeugung widerspiegelt, die auf die Wahrnehmung von Freiheitsgrundrechten zurückgeht:
„Politische Überzeugung“ sollte im weitesten Sinn verstanden werden und jede Meinung zu jeder Angelegenheit einschließen, auf die der Staatsapparat, die Regierung, die Gesellschaft oder die Politik Einfluss nehmen. Dazu kann auch eine Meinung zu den Rollenbildern der Geschlechter gehören. Auch unangepasstes Verhalten, das den Verfolger veranlasst, der Person eine politische Überzeugung zuzuschreiben, fällt in diese Kategorie. An sich gibt es in diesem Sinn keine immanent politische oder immanent unpolitische Tätigkeit, doch kann ihr Wesen anhand des Gesamtbildes des Falles bestimmt werden. Ein mit politischer Überzeugung begründeter Antrag setzt hingegen voraus, dass der Antragsteller oder die Antragstellerin Auffassungen vertritt oder vermeintlich vertritt, die von den Behörden oder der Gesellschaft nicht toleriert werden, da sie Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber ihrer Politik, Tradition oder Methodik sind. Voraussetzung ist ferner, dass diese Ansichten den Behörden oder den betreffenden Teilen der Gesellschaft zur Kenntnis gelangt sind oder gelangen könnten oder von diesen den Antragstellenden unterstellt werden. Eine solche Meinung muss nicht unbedingt zum Ausdruck gebracht worden sein, und es ist auch nicht erforderlich, dass bereits irgendeine Form von Diskriminierung oder Verfolgung stattgefunden hat. Unter diesen Umständen müssten bei der Entscheidung, ob begründete Furcht vorliegt oder nicht, die Folgen berücksichtigt werden, die Antragstellende mit einer bestimmten politischen Einstellung zu tragen hätten, wenn sie in dieses Land zurückkehren würden.“
(UNHCR Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32):
Bei einer derartigen Folgenbetrachtung ist hier für den Kläger einzubeziehen, dass in Vietnam gerade die (politische) Gesinnung, das Denken, die Einstellung sehr genau kontrolliert und überwacht wird. Ein Staatsbürger, der bereits durch abweichendes Verhalten, durch Herausgabe einer kritischen Internet-Zeitung und sonstige exilpolitische Aktivitäten, aufgefallen ist und der sich sehr engagiert betätigt hat, dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit aus Gründen seiner abweichenden politischen Gesinnung erheblich diskriminiert, verfolgt und ggf. auch gefoltert, zumindest mit Härte „umerzogen“ werden.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2005 glaubwürdig dargestellt, dass sein Engagement und seine Teilnahme an Demonstrationen letztlich darauf abzielen, mehr Freiheit und Demokratie in Vietnam zu erreichen, dass er sich „für Menschenrechte und Freiheit in Vietnam“ einsetze und „hierfür kämpfe“ (S. 2 d. Protokolls). Ihm ist im Verein „Demokratische Bewegung Vietnam“ die Zuständigkeit für die Betreuung einer Web-Seite im Internet übertragen worden, damit auf diesem Wege Informationen nach Vietnam gelangen. Er ist Herausgeber und Betreuer dieser Internet-Zeitung. Als Anhänger einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsform ist er daher im Falle einer Rückkehr nach Vietnam in einem sehr hohen Maße gefährdet.
2.4.4 Denn eine eigene Meinung darf in Vietnam nicht vertreten und öffentlich geäußert werden. Vgl. zur Meinungsfreiheit den Human-Rights-Watch / HRW-Bericht 2000 (Pkt. 2):
„Im Berichtszeitraum gab es mehrere Veröffentlichungen von altgedienten Parteimitgliedern, die öffentlich die Korruption, die Unterdrückung und die Bürokratie anprangerten. Sie zeigten die Mißstände und Täter an, schrieben Petitionen oder klagten ein. Die Autoren wurden aus der Partei ausgeschlossen, kurzzeitig in Haft genommen, zu Hause unter Hausarrest bzw. unter strenger Bewachung des Sicherheitsdienstes gestellt, schikaniert und in Gemeindesitzungen gedemütigt. Im Mai 1999 haben 11 altgediente Parteimitglieder einen Brief unterschrieben, in dem sie ein Politbüromitglied der Korruption bezichtigten. Sie wurden von der Polizei und vom Parteiapparat schikaniert und verhört. Im Juli 1999 beklagte Tran Do, der in der jüngsten Zeit mehrere kritische Veröffentlichungen hatte, daß sein Telefon gestört, seine Briefe geöffnet und konfisziert worden seien. Er sei auch überall von Polizeibeamten beschattet worden. Im Oktober 1999 beschwerte sich Dr. Nguyen Thanh Giang, ein bekannter Regimekritiker, über die repressiven Maßnahmen gegen seine Familie. Die Polizei habe seine PC-Anlage beschlagnahmt, ihn mehrmals im Revier verhört und sein Telefon stillgelegt.“
Diese Praxis der Behinderung und Verfolgung hat sich seit dem Berichtszeitraum erheblich verschärft. Im IGFM-Jahresbericht 2004 (Febr. 2004, Pkt. 1) heißt es u.a.:
„Der Geschäftsmann und frühere Soldat der nordvietnamesischen Volksarmee Nguyen Khac Toan wurde im Dezember 2002 zu 15 Jahren Haft und Hausarrest verurteilt, weil er Korrespondenz mit einer vietnamesischen Frau im Ausland geführt und angeblich Berichte über Bauerndemonstrationen in Hanoi per Internet übermittelt hatte. Der Arzt Pham Hong Son wurde im Juni 2003 zu 16 Jahren Haft und Hausarrest verurteilt, weil er Email-Korrespondenz mit einigen Exilvietnamesen geführt und den Beitrag "What is Democracy?" von der Website des US Außenministeriums übersetzt hatte. Der Journalist Nguyen Vu Binh wurde im Dezember 2003 zu zehn Jahren Haft und Hausarrest verurteilt, weil er Email-Kontakt mit mehreren Exilvietnamesen gehabt und einen Bericht über die Menschenrechtssituation in Vietnam an den US Kongress geschickt hatte“.
Derartige Strafmaßnahmen bleiben nicht auf jene Vietnamesen beschränkt, die in Vietnam schon leben, sondern werden mit Sicherheit auf Exilvietnamesen erstreckt, sofern sie nach Vietnam zurückkehren (können). Der Kläger wird im Hinblick auf sein Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart, seine Tätigkeit als Betreuer einer Web-Seite wie im Übrigen auch durch seine AsylantragsteIlung somit in Vietnam als aktiver Regimegegner, als Andersdenkender, als Dissident angesehen und behandelt werden.
Denn politische Betätigung auf der Grundlage einer eigenen Meinung - ob nun im In- oder Ausland - wird in Vietnam nach wie vor regelmäßig verfolgt und hart bestraft. Vgl. dazu das Gutachten von G. Will v. 2. Mai 2003:
„2. Bis zu dem oben unter 1) geforderten Beweis des Gegenteils muss davon ausgegangen werden, dass Verfasser regimekritischer Internetbeiträge wie Verfasser regimekritischer Zeitschriftenbeiträge im Falle einer Rückkehr nach Vietnam mit einer Bestrafung rechnen müssen. Die entsprechenden Artikel des vietnamesischen StGB lassen hier keine Zweifel zu. Für die Erhebung einer Anklage spielt das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist vielmehr, ob der oder die Beschuldigte gute Beziehungen zu hohen Führungspersönlichkeiten hat, die bereit sind, ihn zu schützen oder ob der oder die Beschuldigte selbst zur Nomenklatura gehört bzw. gehört hatte, sodass eine Anklageerhebung und Verurteilung zu unerwünschten politischen Folgen führen könnten. Das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten wird allenfalls bei der Zumessung des Strafmaßes Berücksichtigung finden.
Meine diesbezüglichen Erwartungen stützen sich zunächst auf die auch Ihnen bekannten drakonischen Haftstrafen, mit denen in jüngster Zeit regimekritische Internetaktivisten verurteilt wurden, obwohl einige von ihnen keineswegs zum Sturz des Regimes aufgerufen, sondern lediglich die Politik der Regierung gegenüber der VR China kritisiert hatten. Es ist weder aus logischen Gründen noch von den Bestimmungen des vietnamesischen StGB her betrachtet einzusehen, warum ein regimekritischer Internetaktivist, wenn er im Inland agiert, hart bestraft wird, aber wenn er vom Ausland aus agiert, straffrei ausgehen soll. Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, so hat eine Reihe von wütenden Angriffen auf regimekritische Internetbeiträge, die Mitte April dieses Jahres in der Armee-Zeitung erschienen sind, deutlich gemacht, dass die vietnamesische Führung entschlossen ist, gegen "feindliche Kräfte", ganz gleich ob sie im Inland oder vom Ausland aus sich des Internets bedienen, um ihre regimekritischen Vorstellungen zu verbreiten, mit aller Härte vorgehen und die Kontrolle über das Internet weiter verschärfen wollen.
Somit ist es für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam unerheblich, in welchem Maße exilpolitische Betätigungen vorliegen und ob sie eine bestimmte - mehr oder weniger hohe - „Schwelle“ überschreiten. Allein entscheidend ist die abweichende Gesinnung, die hinter den entsprechenden Aktivitäten steht. Für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam selbst sind dann (Partei-)Beziehungen entscheidend, über welche der Kläger nicht verfügt, oder aber Zufälligkeiten anderer Art.
2.4.5 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Die Präsidenten der „Volkskomitees“ auf Provinzebene dürfen hiernach jede Person bis zu 2 Jahren ohne Gerichtsverfahren inhaftieren - und auch verbannen (AA Lagebericht v. 12.2. 2005, S. 6). Es ist allerdings unklar, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die unstreitig existierenden Arbeits- und Verbannungslager verbracht und dort - durch welche Methoden auch immer - „abgestraft“ werden. Angesichts des engagierten Verhaltens des Klägers bei Demonstrationen in Deutschland und angesichts seiner Betreuung der Internetseite liegt es unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten überaus nahe, dass der Kläger bei einer Rückkehr - wie befürchtet - mit einer längeren Administrativhaft nebst Schikanen / Folterungen oder ähnlicher Maßnahmen belegt werden wird.
Amnesty International geht nämlich davon aus, dass politisch Andersdenkende („Illoyale“) und Oppositionelle, die ihre abweichende Gesinnung einmal offenbart hätten, mit Mitteln staatlicher Maßnahmen aller Art, des Strafrechts sowie durch Haft - ohne jeden Prozess - in Vietnam drastisch verfolgt würden. Auch durch die ai-Stellungnahme gegenüber dem VG Neustadt/Wstr. vom 7.1.1997 wird bestätigt, dass „regimekritisches“ Verhalten, wozu in Einzelfällen auch schon humanitäre Hilfsaktionen zugunsten von Überschwemmungsopfern im Mekong-Delta zählen können (siehe FR v. 17.8.1995), ggf. hart bestraft wird, u.zw. auf der Grundlage der Staatsschutzvorschriften oder administrativer Haft (s.o.). Auch andere Erkenntnisquellen belegen diese Tendenz der harten Bestrafung „antisozialistischer Tätigkeit“ (IGFM-Jahresbericht v. Febr. 2004; AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5; ai-Jahresbericht 2004, S. 414 f.; HRW-Bericht 2000; ai-Stellungn. v. 2.2.1999, ai-Schr. v. 5.11.1996 an VG Frankf./Oder; Prof. Lulei, Schr. v. 24.2.1998 an VG Frankfurt/Oder; Stellungn. Dr. G. Will an VG Berlin v. 17. Nov. 1999).
Nach einem Artikel des Sicherheitsministers in der Parteizeitung Nhân Dân vom 18.8. 2000 müsse die Regierung den „feindlichen Kräften unter den im Ausland lebenden Vietnamesen“ mit der ganzen Härte des Gesetzes begegnen. Von einer Schwelle exilpolitischer Betätigung oder Exponiertheit als Voraussetzung für staatliche Maßnahmen ist hier nicht die Rede gewesen, so dass potentiell jeder engagiert Andersdenkende, der das ein-mal gezeigt hat, betroffen sein kann.
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass durch administrative Maßnahmen der in Vietnam zugelassenen und praktizierten Art (vgl. AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5) gegen Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verstoßen wird, zumal aus der RegierungsVO Nr. 31-CP nicht hervorgeht, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen administrative Haftstrafen verhängt werden dürfen. Derartige Maßnahmen „unterminieren die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5).
Der vietnamesische Dissident Doan Viet Hoat warnte im Februar 1999 denn auch davor zu glauben, dass ein wirtschaftlich prosperierendes Land automatisch schon demokratische Strukturen entfalte; bei einer Abschiebung regierungskritischer Vietnamesen drohe ihnen vielmehr Unterdrückung (so FR v. 6.2.1999). Schon das „Lesen“ regierungskritischer Zeitungen kann Verfolgungsmaßnahmen des vietnamesischen Staates auf der Grundlage der Administrativhaft nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003), so dass Meinungsbekundungen und das öffentliche Eintreten dafür - wie es der Kläger getan hat - erst recht dazu führen dürfte. Auf eine „breite Öffentlichkeitswirkung“ kommt es wegen der permanenten territorialen Gesinnungskontrolle in Vietnam nicht an. Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind stets gefährdet und werden als „politische Straftäter“ härter als andere abgestraft (durch Isolationshaft, Limitierung von Besuchen, Briefzensur), vgl. dazu den Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 8. Da Vietnam bislang nicht der VN-Anti-Folter-konvention beigetreten ist, sind Folterungen der oben geschilderten Art bzw. „einzelne Übergriffe von Sicherheitsorganen“ (Lagebericht AA v. 12.2.2005) in keiner Weise ausgeschlossen. Das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten reicht hierfür regelmäßig schon aus (so ai -Jahres-bericht 2002, S. 604)
2.4.6 Aufgrund dieser vielschichtigen, von alten Dogmen und einem Kurs der Erneuerung sowie einer - allerdings ins Stocken geratenen - wirtschaftlichen Öffnung des Landes bestimmten Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden bei der Anwendung des vietStGB und der Befugnis zur administrativen Haft nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. Es ist damit mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv „behandelt“ wird oder nicht. Richter werden nach ihrer politischen Zuverlässigkeit ausgesucht und haben den politischen Organen strikt zu gehorchen. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht eingehalten wird (so schon Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999).
Staatliche Repressionen hängen oft von lokalen Gegebenheiten ab (Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 9). Allein der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Politik werden willkürlich verfolgt und schikaniert (ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Vgl. dazu den IGFM-Jahresbericht 2004:
„In den letzten zwei Jahren wurden die politischen Dissidenten wie bei einer Entführung festgenommen. Die Familien der Opfer wurden von der Verhaftung nicht informiert und erhielten monatelang weder Information über den Verhaftungsgrund noch den Haftort.
Die Untersuchungshaft überschreitet in der Regel die vom Gesetz vorgegebene Frist. Während der Untersuchungshaft (in einigen Fällen bis zu 16 Monaten) durften die politischen Gefangenen ihre Familien nicht sehen, um den Druck auf sie zu verstärken. So durften die Ehefrauen von Dr. Pham Hong Son und Herrn Nguyen Vu Binh ihre Ehemänner 15 bzw. 16 Monaten lang nicht besuchen.
Selten stimmten die bei der Verhaftung angegebenen Gründe mit der Anklage überein, in manchen Fällen wurden sie während der Untersuchungshaft mehrmals geändert, so dass der Eindruck entstand, Anklage und Urteilsspruch würden politisch diktiert. Die Verteidigung wurde in ihrer Arbeit vehement gehindert, in einzelnen Fällen konnte sie ihren Mandanten nur wenige Stunden vor Beginn der Verhandlung treffen und die Akten einsehen. Die meisten Prozesse gegen Dissidenten dauerten nicht länger als ein paar Stunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Meistens durfte nur ein enger Verwandter des Angeklagten an dem Prozess teilnehmen.
Es gibt Hinweise, dass die Haftbedingungen bewusst schlecht gehalten wurden, um Schuldgeständnisse zu erpressen. Le Chi Quang, der an akuten Nieren- und Magenerkrankungen leidet, bekam keine adäquate medizinische Behandlung in der Haft, so dass er nach Angaben seiner Mutter keine Berufung eingelegt haben möchte, um die Zeit in der U-Haft zu verkürzen. Nguyen Viet Cuong litt so sehr in der Isolationshaft (kleine Zelle ohne Licht und Luftöffnung, Hauterkrankungen), dass er sich vor Gericht in jedem Anklagepunkt schuldig bekannte. Die Angehörigen von Pfarrer Nguyen Van Ly, der sich seit 2001 in Isolationshaft befindet, berichteten in Übereinstimmung mit der Beobachtung einer Delegation des US-Kongress, die ihm am 5. Januar 2004 im Gefängnis besucht hatte, von Anzeichen der geistigen Verwirrung bei dem Pfarrer.“
Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellgn. v. 14.9.2000 an VG München, S. 3):
„Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerte Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können.“
Die Gefahr einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG besteht dabei generell für Personen, die in Opposition zur gegenwärtigen Regierung und herrschenden Ideologie stehen und öffentlich Aktivitäten unternehmen bzw. (wie der Kläger) bereits unternommen haben - Aktivitäten, die gegen die Regierung und deren Linie, die Kommunistische Partei, die Einheit des Staates oder das internationale Ansehen Vietnams gerichtet sind. Im Falle eines auffälligen, inhaltlich regimekritischen, von der Parteidoktrin abweichenden Verhaltens kann die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung - mit der erforderlichen Beachtlichkeit - ohne weiteres angenommen werden (vgl. dazu OVG Saarland, aaO.; vgl. die Äußerungen des vietn. Dissidenten Doan Viet Hoat lt. FR v. 6.2.1999; vgl die ai-Stellungnahme v. 2.2.1999).
Somit ist es (prognostisch) beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Vietnam „bedroht“ ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Der Kläger ist folglich als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen. Es ist also festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
3. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG analog).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.