Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 10.05.2005, Az.: 1 A 872/03
Abschiebungsschutz; Afghanistan; Apostasie; Asyl; Christ; Islam; Konversion; Nachfluchtgrund
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 10.05.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 872/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50748
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 1 AufenthG
- § 77 AsylVfG
- Art 16a GG
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt ihre Anerkennung als Asylberechtigte und Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.
Die am ...1964 in Kabul geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige, Volkszugehörige der Hazara und war bisher moslemisch-schiitischen Glaubens; sie ist ledig. Nach ihren Angaben reiste sie mit Hilfe eines Schleppers und eines auf den Namen ... ausgestellten gefälschten Reisepasses am 16. August 2001 auf dem Luftweg über Teheran/Iran nach Hamburg mit dem Flug IR 41 23 00 der Iran Air zu ihrem in Hamburg lebenden und inzwischen eingebürgerten Bruder ein und stellte am 30. Oktober 2001 einen Asylantrag, den sie mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 15. Oktober 2001 und während ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 12. November 2001 im Wesentlichen wie folgt begründete: Sie gehöre der schiitischen Glaubensrichtung und dem Stamm der Hazaras an. Ihr Vater sei 1993 ums Leben gekommen. Sie sei alleinstehend und habe keine Kinder. Nach dem Gymnasium habe sie bis 1989 die Fachrichtung Mathematik und Physik studiert und anschließend bis zum Einmarsch der Taliban in Kabul im Jahr 1996 als Lehrerin gearbeitet. Die Taliban hätten die Schulen geschlossen. Sie sei im Jahr 1996 von den Taliban derart geschlagen worden, dass sie auch heute noch erhebliche Schmerzen am rechten Auge und Kopfschmerzen habe. Unter den Taliban sei die Situation für die Frauen sehr schlecht und brutal gewesen. Aber auch in der Zeit der Talibanherrschaft habe sie weiterhin heimlich Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet. Am 2. August 2001 sei einer ihrer Schüler nach dem Unterricht von Taliban auf der Straße kontrolliert worden. Dieser Schüler habe Bücher und eine englischsprachige Sportzeitschrift bei sich gehabt. Auf Nachfrage der Taliban habe er ihren, der Klägerin, Namen und Anschrift genannt. Daraufhin seien Angehörige der Religionspolizei der Taliban zu ihr nach Hause gekommen und hätten ihre Tante nach ihr gefragt. Die Taliban hätten ihre Tante brutal zusammengeschlagen. Sie selbst, die Klägerin, habe sich zu dieser Zeit nicht zu Hause, sondern im Haus einer Nachbarin aufgehalten und das Erscheinen der Taliban mitbekommen. Mit Hilfe ihrer Nachbarin habe sie dann Kontakt zu einer Freundin aufgenommen und sich in deren Haus versteckt. Dort habe sie heimlich ihre Tante besucht, die ihr Geld mitgebracht habe. Im Anschluss hieran sei sie mit Hilfe eines Schleppers zunächst in den Iran gegangen und anschließend auf dem Luftweg nach Hamburg geflogen. Sie habe nicht direkt am Flughafen einen Asylantrag gestellt, weil sie durcheinander gewesen sei. Nach ihrer Ankunft in Hamburg habe sie bei ihrem Bruder angerufen und jemand habe sie vom Flughafen abgeholt. In Afghanistan habe sie bis auf eine Tante keine Verwandten mehr.
Mit Bescheid vom 12. Dezember 2003 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Klägerin ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht gegeben sind. Zugleich forderte es sie zur Ausreise auf und drohte ihr die Abschiebung nach Afghanistan an.
Daraufhin hat die Klägerin am 17. Dezember 2003 Klage erhoben, zu deren Begründung sie ihren bisherigen Vortrag vertieft und ergänzend ausführt, sie habe aufgrund des von ihr erlittenen Schicksals erhebliche Persönlichkeitsstörungen und sei gegenüber männlichen Personen nicht in der Lage, das erlebte Schicksal physisch überhaupt zu schildern. Ihre Rückkehr nach Afghanistan ohne Garantie der weitergehenden medizinischen Betreuung würde angesichts des dortigen desolaten Gesundheitssystems zu einer lebensbedrohlichen Lage führen. Sie habe in Afghanistan keine Angehörigen mehr, zu denen sie Kontakt habe. Insbesondere habe sie keine männlichen Angehörigen mehr, die ihr Schutz geben könnten. Zudem sei sie in Deutschland zum christlichen Glauben übergetreten und wolle sich in Kürze taufen lassen. Sie kenne seit zwei Jahren eine deutsche Familie, mit der sie regelmäßig in der Bibel lese. Sie besuche regelmäßig den Gottesdienst in einer freikirchlichen evangelischen Gemeinde in ihrem Wohnort in Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 12. Dezember 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG,
hilfsweise, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Die Klägerin hat Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (dazu 2.). Die Anerkennung als Asylberechtigte kommt hingegen nicht in Betracht (dazu 1.) Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist daher auch nur teilweise rechtswidrig und verletzt die Klägerin auch nur insoweit in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG.
Sie ist zwar sowohl nach Meinung des Bundesamtes als auch der des Einzelrichters auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist, so dass der Ausschlusstatbestand des Art. 16 a Abs. 2 GG/§ 26 a AsylVfG nicht greift. Soweit sie sich aber auf eine Verfolgung durch die Taliban wegen ihrer früheren heimlichen Unterrichtstätigkeit in Afghanistan beruft, kann dieser Vortrag ihrem Asylbegehren nicht zum Erfolg verhelfen. Denn inzwischen ist im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund der allgemein bekannten Veränderungen in Afghanistan infolge der Ereignisse des 11. September 2001 eine asylerhebliche Verfolgung durch diese Gruppierung jedenfalls in Kabul, der Heimatstadt der Klägerin, nicht mehr zu erwarten. Die Taliban sind in Afghanistan nicht mehr an der Macht und verfügen über keinen nennenswerten Einfluss mehr. Konkrete Anhaltspunkte für eine gegenwärtige asylrelevante individuelle Gefährdungslage der Klägerin aufgrund einer Verfolgung durch „staatliche“ Stellen der Regierung des Präsidenten Karzai bestehen nicht. Auch sind die einschneidenden, unter Umständen potentiell asylerheblichen Beschränkungen, denen Frauen unter der Taliban-Herrschaft unterworfen waren (insbesondere das Verbot der Ausbildung und der beruflichen Betätigung sowie die Gebote für das Auftreten außer Haus) formal außer Kraft, so dass Rückkehrerinnen von „staatlicher“ Seite nicht mehr mit einer zwangsweisen Durchsetzung der aus dem radikalen Islamverständnis der Taliban resultierenden Ordnungsvorstellungen konfrontiert sind. Für Kabul jedenfalls gilt, dass Frauen frei ausgehen, sich ohne Burka zeigen, einen Beruf ausüben sowie öffentliche Ämter übernehmen können. Auch Schulen für Mädchen werden wieder eröffnet (vgl. hierzu etwa OVG Münster, Urt. v. 20.3.2003 - 20 A 4270/97.A - m. w. N).
Sonstige möglicherweise asylrechtlich relevante Anknüpfungspunkte für eine im Fall der Rückkehr der Klägerin drohende politische Verfolgung sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang auf ihren in Deutschland vollzogenen Übertritt zum christlichen Glauben (Apostasie) verweist, ist dies asylrechtlich nicht relevant. Dieser Umstand stellt einen subjektiven Nachfluchtgrund dar; denn diese Hinwendung zum christlichen Glauben ist eine subjektive Entscheidung des Einzelnen aus eigenem Entschluss. Das „eigene Zutun“ des von der Verfolgung Bedrohten bei der Entstehung der ihm drohenden Gefahr politischer Verfolgung ist aber das maßgebliche Kriterium für die Abgrenzung zwischen den selbst geschaffenen (subjektiven) Nachfluchtgründen gegenüber den von einem Willensentschluss unabhängig entstandenen (objektiven) Nachfluchtgründen. Subjektive Nachfluchtgründe werden aber vom Asylgrundrecht des Art. 16 a GG nach seinem Gewährleistungsinhalt grundsätzlich nicht umfasst. Nur ausnahmsweise kann auch ein subjektiver Nachfluchtgrund asylrelevant sein. Dieses ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in der Regel dann der Fall, wenn die selbst geschaffenen Nachfluchttatbestände sich als Ausdruck und Fortführung einer (schon während des Aufenthalts im Heimatstaat) vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellen, mithin als notwendige Konsequenz einer dauernden, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen Lebenshaltung erscheinen. Hierdurch werden die Betroffenen nicht schutzlos gestellt, da ihnen die Sicherheit vor einer Abschiebung in den Verfolgerstaat über die Gewährung von Abschiebungsschutz bisher gemäß § 51 Abs. 1 AuslG und nunmehr nach § 60 Abs. 1 AufenthG erhalten bleibt (vgl. hierzu etwa Nds. OVG, Beschl. v. 14.2.2001 - 11 L 2856/00 - m. w. N.). Im vorliegenden Fall kann mangels entsprechenden Vortrages der Klägerin oder sonstiger Anhaltspunkte von einer die eigene Identität prägenden Hinwendung der Klägerin zum christlichen Glauben auch schon in der Vergangenheit in Afghanistan nicht ausgegangen werden. Die Gewährung von Asyl ist daher ausgeschlossen.
2. Die Klägerin hat wegen der von ihr glaubhaft vorgetragenen Apostasie aber einen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Das Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift deckt sich in seinen Voraussetzungen im Prinzip mit denen der politischen Verfolgung i. S. d. Art. 16 a Abs. 1 GG; die Vorschrift hat ihre besondere Bedeutung in den Fällen, in denen ein politisch verfolgter Asylsuchender zum Beispiel wegen seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht als Asylberechtigter anerkannt werden kann oder wenn - wie hier - subjektive Nachfluchtgründe vorliegen, die im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG unbeachtlich sind. Seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 kommt hinzu, dass nach § 60 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG die geschlechtsspezifische und nunmehr auch - im Gegensatz zum bisherigen Recht (vgl. hierzu etwa BVerwG, Urt. v. 20.2.2001 - 9 C 20.00 -, NVwZ 2001, 815 m. w. N.) - die nichtstaatliche Verfolgung als abschiebungsschutzrechtlich relevanter Fluchtgrund anerkannt ist.
Ein Anspruch auf Gewährung von Asyl nach Art. 16 a Abs. 1 GG und auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht, wenn der betroffene Ausländer selbst in eigener Person politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asyl- und abschiebungsschutzerhebliche Merkmale in seinem Heimatstaat gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind, oder ihm solche Rechtsverletzungen unmittelbar gedroht haben. Die Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie an die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung, die Volkszugehörigkeit oder andere unverfügbare Merkmale des Verfolgten, die sein Anderssein prägen, anknüpft.
Anspruch auf Gewährung politischen Asyls und auf Abschiebungsschutz besteht ferner nur dann, wenn der Asylsuchende zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bei einer Rückkehr in sein Heimatland politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (sog. gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit). Dies ist dann der Fall, wenn dem Asylsuchenden aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen eine Rückkehr in sein Heimatland nach Abwägung aller bekannten Umstände nicht zuzumuten ist. Hierfür hat das Gericht eine Prognose über einen in die Zukunft gerichteten absehbaren Zeitraum anzustellen. Einem Asylbewerber, der bereits in seinem Heimatland verfolgt wurde (sog. Vorverfolgung), kann dagegen die Rückkehr in seine Heimat nur dann zugemutet werden, wenn die Gefahr, erneut mit Verfolgungsmaßnahmen überzogen zu werden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Ihm ist bereits dann politisches Asyl zu gewähren, wenn an seiner Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat ernsthafte Zweifel bestehen. Bei der Prognose über eine drohende Verfolgung im Fall der Rückkehr bereits vorverfolgt ausgereister Asylbewerber ist daher ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden.
Kein Anspruch auf Gewährung politischen Asyls und auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG besteht des Weiteren dann, wenn die Verfolgung eines Asylbewerbers in seinem Heimatland nur regional begrenzt stattfindet und es ihm zuzumuten ist, in anderen Teilen Zuflucht zu suchen (sog. inländische Fluchtalternative). Das Vorliegen einer solchen Fluchtalternative kann jedoch nur dann bejaht werden, wenn der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten seines Heimatlandes vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm auch keine anderen Nachteile oder Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen.
Verfolgungsmaßnahmen, die nicht unmittelbar vom Staat selbst ausgehen (unmittelbare Gruppenverfolgung), konnten nach der bisherigen Rechtslage als politische Verfolgung angesehen werden, wenn sie dem Staat zuzurechnen waren (mittelbare Gruppenverfolgung). Verfolgungshandlungen Dritter waren dem Heimatstaat des Asylsuchenden dann als mittelbare Verfolgung zuzurechnen, wenn er Einzelne oder Gruppen zu Verfolgungsmaßnahmen anregt oder derartige Handlungen unterstützt oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt. In Erweiterung dieser Grundsätze bestimmt § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nunmehr, dass eine Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - neben dem Staat (Buchst. a) sowie Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (Buchst. b) - auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn es besteht eine inländische Fluchtalternative.
Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin nach dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, weil sie im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine abschiebungsschutzrelevante Verfolgung i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG zu befürchten hat.
Nach den ins Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln besteht für die Klägerin bei einer Rückkehr und einem Bekanntwerden ihrer Konversion in Afghanistan eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie wegen des Abfalls vom islamischen Glauben abschiebungsschutzrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist, die der Regierung Karzai zumindest zuzurechnen wären. Bereits unter der Herrschaft der Taliban mussten Konvertiten zum Christentum mit der Todesstrafe rechnen. Auch zurzeit ist nicht erkennbar, dass sich die Einstellung „staatlicher“ Stellen gegenüber Konvertiten unter der Regierung Karzais in erheblicher Weise geändert hätte, zumal die im Januar 2004 in Kraft getretene neue Verfassung Afghanistans in Artikel 3 einen Islamvorbehalt enthält. Präsident Karzai hat Afghanistan als islamisches Land bezeichnet. Nach dem Verständnis der islamischen Rechtslehre auch in Afghanistan ist der Abfall vom Glauben ein todeswürdiges Verbrechen. Die Scharia wird in Afghanistan und auch in Kabul praktiziert. Seit Mitte August 2002 gibt es beim Obersten Gerichtshof Afghanistans eine mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen ausgestattete spezielle Abteilung zur „Bekämpfung des Lasters“, die unter den Taliban als Sittenpolizei fungierte und deren wesentliche Funktion in der Vermittlung afghanischer Werte besteht. Im Religionsministerium ist eine Abteilung zur „Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften gegründet worden, die eine Unterabteilung „Erkennen von Unglauben“ umfasst. Die islamischen Richter sind wieder eingesetzt und der ehemalige Mudjaheddin-Führer Abdul Rasul Sayyaf, ein streng fundamentalistisch eingestellter Geistlicher, ist in Kabul erneut zu großem Einfluss gelangt. Auch der Vizepräsident des Obersten Gerichtshofes, Fazl Ahmad Manawi, und der Oberste Richter in Afghanistan, Maulawi Fazl Shinwari, treten für radikal-islamische Verhaltensweisen ein. Der zuletzt Genannte hat auch in Kabul ein Rechtssystem etabliert, in dem nach islamischem Recht geurteilt wird. Im Fall eines Kommandanten, der sich offen zum Christentum bekennt, ist es zu offenen Bedrohungen nicht nur durch seine eigene Familie, sondern auch durch Vertreter der konservativen Geistlichkeit gekommen. Daher ist davon auszugehen, dass Konvertiten auch „staatlicherseits“ bedroht sind. Im Fall der Klägerin kommt hinzu, dass sie als alleinstehende und unverheiratete Frau sich in Afghanistan keines männlichen Schutzes bedienen kann, um derartige Angriffe auf ihre Person erfolgreich abzuwehren.
Da die Beklagte verpflichtet ist, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, bedarf es gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG keiner Entscheidung zu § 53 AuslG und nunmehr § 60 Abs. 2 bis 7 AuslG; insoweit ist der angefochtene Bescheid daher ebenfalls aufzuheben. Die Abschiebungsandrohung erweist sich gemäß § 59 Abs. 3 AufenthG nur insoweit als rechtswidrig, als der Klägerin die Abschiebung nach Afghanistan angedroht worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.