Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 04.05.2005, Az.: 1 A 360/01

Abschiebungsverbot; beachtliche Wahrscheinlichkeit; Bedrohung; Buddhist; Flüchtling; Folterung; Gesinnungskontrolle; Informationsfreiheit; Meinung; Meinungsfreiheit; Opposition; politische Verfolgung; Religionsausübung; Religionsfreiheit; Rückkehrgefährdung; Sicherheitsorgan; Unterdrückung; Versammlungsfreiheit; Vietnam; Zuwanderungsgesetz; Äußerungsfreiheit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
04.05.2005
Aktenzeichen
1 A 360/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50812
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der Klägerin geht es um ihre Anerkennung als Flüchtling sowie hilfsweise um die Feststellung von Abschiebungshindernissen.

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Sie ist am B. geboren und vietnamesische Staatsangehörige buddhistischen Glaubens. Im September 2001 kam sie von Tschechien aus in das Bundesgebiet ein und stellte hier einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 1. Oktober 2001 - zugestellt am 5. Oktober 2001 - abgelehnt wurde.

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Zur Begründung ihrer am 18. Oktober 2001 beim Verwaltungsgericht Braunschweig erhobenen und von dort mit Beschluss vom 22. November 2001 an die erkennende Kammer verwiesenen Klage trägt die Klägerin vor, sie sei gläubige Buddhistin und habe sich in Vietnam auf zahlreichen Informations- und Demonstrationsveranstaltungen ihrer Glaubensgemeinschaft für Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt. Sie habe dort u.a. wiederholt Informationsblätter verteilt. Ein derartiges Verhalten werde in Vietnam nicht geduldet und könne mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden. 1997 sei sie für einen Tag und im April 2001 für 3 Tage von der Polizei verhaftet worden. Bei ihrer letzten Verhaftung sei sie bewusstlos geschlagen worden. Bis zu ihrer Ausreise aus Vietnam habe sie beim Abt C. in der Pagode gewohnt und sich dort versteckt. Die Drittstaatenregelung komme nicht zum Zuge, da sie in der slowakischen Republik gelandet sei und sich dann eine 2-tägige Reise durch unbekanntes Gebiet angeschlossen habe. Der Drittstaat könne hier nicht sicher festgestellt werden.

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Die Klägerin hat ihre Klage hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte in der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2005 zurückgezogen und lediglich beantragt noch,

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die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 AufenthG vorliegen, und die diesbezüglichen Entscheidungen im Bescheid vom 1. Oktober 2001 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf ihre angefochtene Entscheidung.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es der Klägerin um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.

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Im Übrigen - wegen der ursprünglich begehrten Anerkennung als Asylberechtigte gem. Art. 16 a GG - ist das Verfahren nach Klagerücknahme kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).

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1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist jener der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG. Für diesen Zeitpunkt (4. Mai 2005) ist eine Gleichsetzung politischer Verfolgung iSv Art. 16 a GG mit einer Bedrohung iSv § 60 AufenthG, die bei einer Rückkehr nach Vietnam heute - im Jahre 2005 - prognostisch zu erwarten ist, nicht möglich. Der zeitliche Unterschied zwischen der zurückliegenden Verfolgungssituation und der prognostischen Einschätzung einer Bedrohung ist derart erheblich, dass eine Gleichsetzung nicht mehr in Betracht kommen kann.

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2. Die Anerkennung als Flüchtling setzt in Anlehnung an Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention voraus, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat eine Bedrohung oder gar Verfolgung droht, die auf alle - nicht nur die gesetzlich aufgezählten - Rechtsgüter zurückgehen kann (BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Diese Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).

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2.1 Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - Mai 2005 - stellt sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Entscheidung so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam verändert, nämlich deutlich verschärft haben. Weiterhin ist im Europäischen Raum zwischenzeitlich die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten (am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, Art. 39 der Richtlinie), die im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. September 2004 (L 304/12) veröffentlicht worden ist (nachfolgend: Richtlinie). Außerdem ist im deutschen Recht das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.

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2.2 Die genannte Richtlinie ist bereits anwendbar, obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005):

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„In einem Beschluss vom 29.12.2004 hatte der VGH Hessen sogar darüber hinausgehend und bezogen auf die sog. "Freizügigkeitsrichtlinie" nochmals ausdrücklich festgestellt, dass sich aus der Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der gemeinschaftsrechtliche Stand der Freizügigkeitsrechte entnehmen ließe (VGH Hessen, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 CG 3649/04 -).“

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Bei der somit gebotenen individuellen Prüfung aller Angaben der Klägerin sowie der allgemeinen und persönlichen Umstände einschließlich der in Vietnam geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften einschließlich ihrer tatsächlichen Anwendung (Art. 4 der gen. Richtlinie) ergibt sich, dass die Klägerin bereits in Vietnam durch Schlagstockeinsatz der Polizei einen „sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat“ (Art. 4 Abs. 4 der gen. Richtlinie), was ein ernsthafter Hinweis für eine begründete Verfolgungsfurcht bzw. künftige Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG ist (vgl. auch BVerfGE 54, 341 u. BVerfGE 80, 315). Stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sind nicht ersichtlich. Im Übrigen hat sich die Klägerin offenkundig um einen kohärenten und plausiblen Vortrag bemüht, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit der Klägerin festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen der Klägerin, die in der mündlichen Verhandlungen vom 4. Mai 2005 einen überzeugenden Eindruck hinterließ, keines weiteren, über ihre Aussagen noch hinausgehenden Nachweises (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. auch BVerwGE 55, 82).

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2.3 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 1 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (über Mindestnormen) - Amtsblatt der EU v. 30.9.04 - L 304/12 ff. - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Insoweit heißt es im Sinne einer aktuellen Lagebeschreibung in der FR v. 29.4.2005, S. 1:

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„Die Kommunisten lassen keine Meinungs-, Versammlungs- oder Gewerkschaftsfreiheit zu, unterdrücken jede Opposition, kontrollieren Medien und Internet. ´Vietnams elende Menschenrechtslage ist in neue Tiefen gesunken´, schrieb 2003 die Organisation Human Rights Watch. 2004 berichtete HRW, die Lage habe sich noch verschlimmert. Dissidenten würden verhaftet, manche gefoltert. Besonders gefährlich lebten Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten, vor allem Buddhisten und Christen im Hochland“.

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Das politische Engagement eines Einzelnen ist nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Registrierungen, (Gegen-) Aktionen, Reaktionen und Repressionen. „Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt“ (so auch der Lagebericht AA v. 12.2. 2005, S. 5). Insoweit ist heute - 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):

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 „Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)

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Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. AA Lagebericht v. 12.02.2005) aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ inhaftiert oder bestraft werden können und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lagebericht, aaO., S. 5). In Vietnam werden demgemäß „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (Lagebericht, aaO. S. 6). Viele Journalisten üben „Selbstzensur“. Versuche, mit politischen Flugblättern oder Zeitungen Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht, aaO. S. 6).

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Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht 2004 von amnesty international (Vietnam, S. 414 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern sogar der Zugang zum Land verweigert wird (S. 415 r. Spalte) und die Justiz gegen Regierungskritiker vorgeht. Für die Richtigkeit dieser Darstellung spricht, dass nach der Stellungnahme des „Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt“ v. Juni 2004 die Verhältnisse in Vietnam so liegen, dass

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„Menschenrechtsverletzungen an Andersdenkenden und Intellektuellen sowie die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten ... an der Tagesordnung sind“.

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Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde beispielsweise Dr. Nguyen Dan Que lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte. Für das Menschenrechtsdefizit spricht auch die Verweigerung der Einreise von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.).

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2.4 Die der Klägerin als einer „Andersdenkenden“ bzw. Dissidentin bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte haben als Objekt des in ihnen liegenden Verfolgungseingriffs primär allerdings nicht - wie im angefochtenen Bescheid unterstellt - die bloße Religionsfreiheit (als forum internum) zum Gegenstand, sondern ihre leibliche Unversehrtheit, ihre physische Freiheit sowie ihre Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie schließlich ihre Freiheit, sich für die eigene Religion öffentlich auszusprechen und einzusetzen (Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie). Insbesondere ihre Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen, die sich (lediglich) auf ihre religiöse Überzeugung als Buddhistin abstützen, sind ganz offenbar schon Auslöser staatlicher Maßnahmen (einschließlich des vietnamesischen Geheimdienstes, vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung v. 4.5. 2005, S. 2). Es geht hier somit nicht um einen Eingriff in das Schutzgut der Religionsfreiheit durch Reglementierungen und Verbote, mit denen dem einzelnen Gläubigen Einschränkungen und Unterlassungen bei der Ausübung seines Glaubens abverlangt werden, so dass sich die Frage nach dem asylrechtlich geschützten Bereich der internen Religionsausübung gar nicht erst stellt (vgl. hierzu nur BVerwG, Urteile vom 18.02.1986 -9 C 16.85-, E 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7 und -9 C 104.85-, E 74, 41; vgl. S. 7 des angefochtenen Bescheides). Bei den durch staatliche Eingriffe verletzten und bedrohten Schutzgütern handelt es sich vorliegend mithin um die physische Freiheit (Inhaftierung) sowie um die Wahrnehmung von Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie religiös motivierter Überzeugungs- und Äußerungsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie), so dass die staatlichen Maßnahmen ihre Qualität als Bedrohung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG aus der Verletzung dieser gen. Schutzgüter gewinnen. Der Rechtscharakter als asylrelevante (Verfolgungs-)Maßnahme ergibt sich aus der Anknüpfung an die im Demonstrationsverhalten zu Tage getretenen abweichenden religiös-politischen Überzeugung der Klägerin, deretwillen die Bedrohung und Verfolgung stattfindet. Die Unterscheidung zwischen einer Religionsausübung im internen und im externen Bereich ist weder für die Einstufung der Freiheitsentziehung und der Einschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit als Verfolgung noch als asylrelevante politische Maßnahme von Bedeutung. Darauf kommt es hier nicht an.

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2.5 Die politisch motivierte Einschränkung der allgemeinen Religionsfreiheit in Vietnam, die vom vietnamesischen Staat eingesetzt wird, um religiöse Organisationen aller Art zu kontrollieren und so zu verfolgen, ist für die Klägerin somit nur Anknüpfungspunkt und Motiv für ihr - berechtigtes - Meinungsäußerungs- und Demonstrationsverhalten, bei dem sie allerdings in der Vergangenheit schon mit staatlichen Kräften in Kollision geraten ist, u.zw. bis hin zu ihrer Verhaftung über mehrere Tage und bis hin zum Schlagstockeinsatz mit erheblichen Folgen. Derartiges ist angesichts der dargestellten Menschenrechtslage (s.o.) in Vietnam auch in Zukunft zu erwarten, zumal sich die allgemeine Lage und jene für einzelne Andersdenkende oder Dissidenten eher noch verschärft haben dürfte.

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Denn der vietnamesische Staat ist mit seinen Organen gegenüber Religionsgemeinschaften und entsprechenden Organisationen einschließlich ihrer Anhänger bzw. Mitglieder nicht in dem Maße tolerant, wie das erforderlich wäre. Sämtliche Gesetze, die (allerdings nur) theoretisch eine Religionsfreiheit garantieren, stehen in Vietnam nämlich unter dem Vorbehalt, dass die Freiheit nicht dazu missbraucht werden dürfe, den oft unbestimmt gehaltenen Gesetzen und der Politik Vietnams - einer Diktatur - zuwiderzuhandeln. Derartige Klauseln einschließlich ihrer politisch motivierten Auslegung stellen von jeglicher Gesetzesbindung frei und erlauben in der tagtäglichen Praxis eine „weitgehende Einschränkung“ des entsprd. Rechts auf Religionsfreiheit (AA Lagebericht v. 12.2.2005). Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher strikt untersagt und wird staatlich verfolgt.

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Die Unruhen im zentralen Hochland im Februar 2001 müssen daher auch im Kontext dieses Konfliktes um Religionsfreiheit gesehen werden, ohne dass sie allerdings deren alleiniger Grund wären (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 8). Die Klägerin hat nach ihren Angaben an Demonstrationen im zentralen Hochland teilgenommen, bei denen 14 Teilnehmer ihrer Gruppe von der Polizei festgenommen wurden. Sie hat in der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2005 glaubwürdig dargestellt, dass ihr Engagement und ihre Teilnahme an Demonstrationen letztlich in einem „gemeinsamen Interesse“ aller Gläubigen an einer Religions- und Glaubensfreiheit wurzelt, einer Freiheit, die auch bloße Meinungsäußerungen und -bekundungen aus religiöser Überzeugung und nicht nur religiöse Riten umfasst (Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie).

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 Vgl. dazu Amnesty international im Länderbericht Vietnam v. Juni 2001:

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„Die Artikel 69 und 70 der vietnamesischen Verfassung von 1992 garantieren Meinungs- und Religionsfreiheit. Die Verfassung besagt aber auch, dass "niemand die Religion missbrauchen darf, um Gesetze und Praktiken des Staats zu verletzen". Diese Einschränkung der freien Religionsausübung wird von der vietnamesischen Regierung eingesetzt, um religiöse Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen. Einige religiöse Gruppen, wie z.B. die buddhistische Unified Buddhist Church of Viet Nam ( UBCV ), die buddhistische Religionsgemeinschaft Hoa Hao, der katholische Orden Congregation of the Mother Co-Redemptrix (CMC) oder Protestanten aus dem Norden des Landes, versuchen, unabhängig vom Staat zu wirken. Mitgliedern dieser Gruppen drohen Verfolgung und Inhaftierung. Von Inhaftierungen sind sowohl Angehörige des Klerus, als auch Laien betroffen.

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So wurden im März 2000 fünf Mitglieder der buddhistischen Religionsgemeinschaft Hoa Hao inhaftiert und zu Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren verurteilt, weil sie sich über die lokalen Behörden beschwerten. Im November 2000 wurde auch der Generalsekretär dieser Gemeinschaft festgenommen (s.u.). Am 11. Mai 2001 wurden die beiden Mitglieder der Hoa Hao Religionsgemeinschaft, Truong Van Duc und Ho Van Trong zu 12 bzw. zu vier Jahren Haft verurteilt. Die genauen Anschuldigungen gegen sie sind nicht bekannt; vermutlich steht ihre Inhaftierung und Verurteilung jedoch in Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an Demonstrationen in der Provinz An Giang im Dezember 2000.

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Besonderen Repressalien und Verhaftungen sind auch ethnische Minderheiten ausgesetzt. Es gehen immer wieder Berichte über Verhaftungen von protestantischen Angehörigen ethnischer Minderheiten aus dem Norden Vietnams bei amnesty international ein. Im zentralen Hochland fanden kürzlich größere Unruhen zwischen ethnischen Minderheiten und den lokalen Behörden statt. Bei den Demonstrationen, an denen Tausende von Angehörigen der ethnischen Minderheiten teilgenommen haben, soll es um Landstreitigkeiten gegangen sein; auch religiöse Freiheiten wurden gefordert. Die beiden Provinzen Dac Lac und Gia Lai wurden während der Unruhen vom Militär abgeriegelt. Offiziellen Angaben zufolge wurden 20 Personen im Zusammenhang mit den Unruhen festgenommen; inoffizielle Quellen sprechen von hunderten Personen, die festgenommen und z.T. auch geschlagen worden sein sollen. Dutzende von Personen sind seit März aus der Region geflohen und haben Zuflucht in Kambodscha gesucht. Viele von ihnen sind nach Informationen amnesty internationals nach Vietnam zurückgeschoben worden. Über ihren Verbleib und ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt und amnesty international ist in Sorge um ihre Sicherheit und Unversehrtheit.“

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Vgl. dazu auch den Sachverständigen Dr. Will in seiner Stellungnahme v. 16.6.1999 an das VG Freiburg:

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“Im vietnamesischen StGB werden die in der Verfassung aufgeführten Prinzipien präzisiert. So gibt es in Art. 81 c der vietnamesischen StGB den Straftatbestand “Verbreitung von Zwietracht zwischen religiös Gläubigen und Nicht-Gläubigen sowie zwischen religiös Gläubigen und der Volksmacht sowie den gesellschaftlichen Organisationen”. Für diesen Straftatbestand ist eine Gefängnisstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren vorgesehen; in minder schweren Fällen zwischen zwei und sieben Jahren. Außerdem wird in Art. 199 des vietnamesischen StGB der Straftatbestand: “Betreiben abergläubischer Praktiken” aufgeführt, für den eine Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und drei Jahren, in besonders schweren Fällen zwischen zwei und zehn Jahren vorgesehen ist. Angesichts der in Vietnam praktizierten oftmals sehr weitgehenden Auslegung von Bestimmungen des StGB stehen hiermit genügend Möglichkeiten zur Verfügung, um die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften und deren Mitgliedern durch strafrechtliche Maßnahmen stark einzuschränken.

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In den vergangenen Monaten ist außerdem eine zunehmende Nervosität der staatlichen Behörden Vietnams gegenüber den Religionsgemeinschaften zu beobachten. Da die wirtschaftliche Entwicklung längst nicht mehr so gut läuft wie zu Beginn der neunziger Jahre, die sozialen Probleme aber rasant zugenommen haben und die sozialistische Ideologie durch die wirtschaftliche Reformpolitik erheblich an Glaubwürdigkeit verloren hat, ist in Vietnam eine wachsende Orientierungslosigkeit entstanden, die viele Vietnamesen dazu bewogen hat, sich Religionsgemeinschaften zuzuwenden, die ein gültiges System von Werten und Erlösung aus der gegenwärtigen Misere versprechen. Von staatlicher Seite wird dies jedoch nur als Versuch gesehen, die staatliche Ordnung mit Hilfe und unter dem Deckmantel der Religion zu untergraben. Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden.” (...)

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“Wie bereits unter 2) ausgeführt sind innerhalb des vergangenen Jahres die Handlungsspielräume, die Religionsgemeinschaften in Vietnam zur Verfügung stehen, enger geworden. Alle Tätigkeiten und Aktivitäten, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zur Religionsausübung stehen, unterliegen starken Restriktionen. Darüber hinaus wird in sehr viel höherem Maße als in der Vergangenheit darauf geachtet, daß auch die in religiösen Veranstaltungen gemachten Aussagen nicht in irgendeiner Weise zu politisch unerwünschten Aktionen führen oder auch nur beitragen könnten. Dies triff, wie unter 3) ausgeführt, die kleineren Religionsgemeinschaften in weit höherem Maße als die großen und international verbreiteten Glaubensgemeinschaften.”

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Die Klägerin wird im Hinblick auf ihr Verhalten in der Vergangenheit wie im übrigen auch durch die bekannt gewordene Flucht nach Deutschland und die AsylantragssteIlung in Vietnam als aktive Regimegegnerin, als Andersdenkende, als Dissidentin angesehen werden, zumal sich ihre feindselige Einstellung gegenüber dem Regime in den Augen der vietnamesischen Sicherheitsbehörden durch die Flucht ins Ausland letztlich herausgestellt und bestätigt hat.

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2.6 Das Verhalten der Klägerin auf der Grundlage ihrer bislang dargestellten Anschauungen und Überzeugungen (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie 2004/83/EG) könnte in Vietnam zumindest als „Frechheit“ angesehen werden - wobei unerheblich ist, ob sie dafür „tätig geworden ist“ -, der mit Gegenmaßnahmen, Gewalt und Einschüchterung zu begegnen sei (so der Sachverständige Dr. Will v. 14.9. 2000): Schon das „Lesen“ regierungskritischer Zeitungen kann ja Verfolgungsmaßnahmen des vietnamesischen Staates nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003), so dass Meinungsbekundungen und das öffentliche Eintreten dafür - wie es die Klägerin getan hat - erst recht dazu führen dürfte. Auf eine „breite Öffentlichkeitswirkung“ kommt es wegen der permanenten territorialen Gesinnungskontrolle in Vietnam nicht an. Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind daher stets gefährdet und werden als „politische Straftäter“ härter als andere abgestraft (durch Isolationshaft, Limitierung von Besuchen, Briefzensur), vgl. dazu den Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 8. Da Vietnam bislang nicht der VN-Anti-Folterkonvention beigetreten ist, können zudem Folterungen bzw. „einzelne Übergriffe von Sicherheitsorganen“ (Lagebericht AA v. 12.2.2005) in keiner Weise ausgeschlossen werden. Das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten reicht hierfür regelmäßig schon aus (so ai -Jahres-bericht 2002, S. 604)

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Staatliche Repressionen hängen oft von lokalen Gegebenheiten ab (Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 9). Allein der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Politik werden schikaniert (ai-Jahres-bericht 2002, S. 604). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellgn. v. 14.9.2000 an VG München, S. 3):

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„Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerten Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können.“

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Die Gefahr einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. sogar einer politischen Verfolgung in Vietnam besteht dabei generell für Personen, die in Opposition zur gegenwärtigen Regierung und herrschenden Ideologie stehen und öffentlich Aktivitäten unternehmen bzw. (wie die Klägerin) bereits unternommen haben - Aktivitäten, die gegen die Regierung und deren Linie, die Kommunistische Partei, die Einheit des Staates oder das internationale Ansehen Vietnams gerichtet sind.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.