Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 27.01.2004, Az.: 1 A 1014/02

Auslandsversammlung; Demonstration; Demonstrationsteilnahme; Diskriminierung; Eingriff; Eingriffsverwaltung; Entschließungsfreiheit; Feststellungsklage; Fortsetzungsfeststellungsinteresse; Fortsetzungsfeststellungsklage; Gefährderanschreiben; Grundrechtseingriff; Polizeieingriff; Realakt; Rechtsbetroffenheit; Rehabilitationsbedürfnis; Rehabilitationsinteresse; Straftatenverhütung; Störereigenschaft; Verhaltensauffälligkeit; Verhaltensstörer; Versammlungsfreiheit; Wiederholungsgefahr

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
27.01.2004
Aktenzeichen
1 A 1014/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50951
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 22.09.2005 - AZ: 11 LC 51/04

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Gefährderanschreiben ist als Realakt rechtswidrig, wenn es in die verfassungsrechtlich geschützte Entschließungsfreiheit zur Teilnahme einer Demonstration eingreift und die tatbestandlichen Voraussetzungen der polizeilichen Eingriffsnormen nicht vorliegen (hier fehlende Störereigenschaft). Rechtsschutz ist über die allgemeine Feststellungsklage zu gewähren.

Tenor:

Es wird festgestellt, dass das Gefährderanschreiben der Polizeiinspektion Göttingen vom 7. Dezember 2001 rechtswidrig gewesen ist.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Der Kläger wendet sich gegen ein polizeiliches Gefährderanschreiben.

2

Mit Erlass vom 28. November 2001 bat das Niedersächsische Innenministerium die Bezirksregierungen/Polizeidirektionen um Aufklärungsmaßnahmen, um die Anreise von Störern zu dem EU-Gipfel in Brüssel vom 13. bis 15. Dezember 2001 zu verhindern, gegebenenfalls gewalttätige Auseinandersetzungen zu unterbinden und beweiskräftig zu verfolgen. Der Kläger ist mit fünf gegen ihn eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und einer polizeilichen Überprüfung in der Kriminalakte bei der Polizeiinspektion Göttingen und in bei dem Niedersächsischen Landeskriminalamt (LKA) und dem Bundeskriminalamt (BKA) geführten Dateien über „Gewalttäter links“, auf die in dem Erlass Bezug genommen wurde, erfasst.

3

Daraufhin richtete die Polizeiinspektion Göttingen an den Kläger unter dem 7. Dezember 2001 ein Schreiben mit folgendem Wortlaut:

4

„Gefährderanschreiben

5

Der Polizei Göttingen ist bekannt, dass Sie im Zusammenhang mit versammlungsrechtlichen bzw. demonstrativen Aktionen polizeilich in Erscheinung getreten sind.

6

Daher ist es nicht auszuschließen, dass Sie auch in Zukunft an demonstrativen Ereignissen teilnehmen werden.

7

Für den 13.-15. Dezember 2001 sind demonstrative Aktionen gegen den EU-Gipfel in Brüssel geplant. Zu diesen Aktionen in Belgien rufen gewerkschaftliche-, studentische-, linksautonome-, Antifa-Gruppen sowie sonstige Globalisierungsgegner auf.

8

Bei gleichgelagerten Aktionen (z. B. Göteborg, Genua pp.) kam es in der Vergangenheit zu erheblichen gewaltsamen Ausschreitungen seitens einiger Demonstrationsteilnehmer. Auch während dieses EU-Gipfels ist damit zu rechnen.

9

Um zu vermeiden, dass Sie sich der Gefahr präventiver polizeilicher Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr (bis hin zur Zurückweisung an der deutsch-belgischen Grenze) oder strafprozessualer Maßnahmen aus Anlass der Begehung von Straftaten im Rahmen der demonstrativen Aktionen aussetzen, legen wir Ihnen hiermit nahe, sich nicht an den o. g. Aktionen zu beteiligen.“

10

Anschreiben gleichen Inhalts versandte die Polizeiinspektion O. an zwölf weitere Personen.

11

Am 25. Januar 2002 hat der Kläger Klage erhoben. Er begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser polizeilichen Maßnahme. Zur Begründung beruft sich der Kläger im Wesentlichen darauf, das Gefährderanschreiben sei ein Realakt, der rechtsgestaltend auf sein Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Freizügigkeit eingewirkt habe. Damit gehe es um die Frage des Bestehens eines Rechtsverhältnisses zwischen ihm und der Polizeibehörde. Er habe auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Gefährderanschreibens, da eine Wiederholungsgefahr bestehe. Er könne sich außerdem auf ein Rehabilitationsinteresse berufen, da er in der Öffentlichkeit diskriminiert worden sei. Durch entsprechende Zeitungsberichte sei der Eindruck vermittelt worden, von ihm ginge eine Gewaltbereitschaft aus. Durch das Anschreiben sei er derart eingeschüchtert worden, dass er Angst gehabt habe, nach Brüssel zu fahren. Er habe es vor allem wegen der Androhung von polizeilichen Maßnahmen bis hin zur Zurückweisung an der Grenze für aussichtslos gehalten, entgegen seiner ursprünglichen Planung nach Brüssel zu reisen. Insoweit habe ein Eingriff vorgelegen, da er aufgefordert worden sei, seine Grundrechte nicht auszuüben, und diese Aufforderung mit der Androhung von negativen Konsequenzen verbunden worden sei, falls er von seinen Rechten Gebrauch machen würde. Hier liege eine klare und eindeutige Drohung mit polizeilichen Maßnahmen vor. Das Gefährderanschreiben sei auch objektiv rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Eine Eingriffsermächtigung gebe es nicht, insbesondere könne diese nicht aus § 11 NGefAG abgeleitet werden. So fehle es bereits an jeglichen konkreten Anhaltspunkten für eine Gefahr, dass er sich bei einer Demonstrationsteilnahme in Brüssel nicht gewaltfrei verhalten haben würde. Die entsprechenden Vorhaltungen im Gefährderanschreiben, er sei insoweit polizeilich bereits einschlägig in Erscheinung getreten, entbehrten jeglicher Grundlage.

12

Der Kläger beantragt,

13

festzustellen, dass das Gefährderanschreiben der Polizeiinspektion O. vom 7. Dezember 2001 rechtswidrig gewesen ist.

14

Die Beklagte beantragt,

15

die Klage abzuweisen.

16

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, das Gefährderanschreiben enthalte keinerlei Regelung im Sinne eines Verwaltungsaktes und es habe auch ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis nicht geschaffen. Dem Kläger sei lediglich nahe gelegt worden, sich nicht an Aktionen in Brüssel zu beteiligen. Eine derartige Anregung schaffe keinerlei Rechtsverhältnisse gegenüber dem Kläger und berühre keine schutzwürdigen Rechtspositionen.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, die Vorgänge der Polizeiinspektion Göttingen und die staatsanwaltliche Ermittlungsakte zum Aktenzeichen 34 Js 19828/01 verwiesen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

18

Die Klage ist zulässig und begründet.

19

Die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO ist die statthafte Klageart gegen das einen erledigten Realakt darstellende Gefährderanschreiben. Die in dem Anschreiben enthaltenen Tatsachenmitteilungen über den EU-Gipfel in Brüssel, in diesem Zusammenhang befürchtete gewaltsame Aktionen und das polizeiliche In-Erscheinung-Treten des Klägers stellen keine verbindlichen Regelungen von Rechten und Pflichten des Klägers im Sinne eines Verwaltungsaktes nach § 35 S. 1 VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG dar. Ebenso wenig hatte das Nahelegen, sich nicht an den Demonstrationen zu beteiligen, eine verbindliche Regelung für den Kläger zum Inhalt. Die Formulierung „um zu vermeiden, dass sie sich der Gefahr präventiver polizeilicher Maßnahmen (bis hin zur Zurückweisung an der deutsch-belgischen Grenze) oder strafprozessualen Maßnahmen aus Anlass der Begehung von Straftaten im Rahmen der demonstrativen Aktionen aussetzen, ...“ beinhaltete keine Androhung oder Ankündigung von konkreten Maßnahmen unter konkreten Voraussetzungen. Insbesondere wurde nicht mitgeteilt, dass der Kläger im Falle einer Fahrt nach Brüssel an der deutsch-belgischen Grenze zurück gewiesen würde.

20

Bei erledigten Realakten, die noch Auswirkungen in der Gegenwart haben, besteht keine planwidrige Regelungslücke im Rechtsschutzsystem, die eine analoge Anwendung des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO gebieten könnte. Für das auch im Rahmen des § 43 Abs. 1 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse ist nämlich zu prüfen, ob einem erledigten Realakt noch Auswirkungen in der Zukunft im Sinne einer Wiederholungsgefahr oder einer diskriminierenden Wirkung zukommen (vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, 13. Auflage 2003, § 113 Rn. 116 mit Nachweisen).

21

Ein solches Feststellungsinteresse des Klägers ist sowohl wegen einer Wiederholungsgefahr als auch wegen eines Rehabilitierungsbedürfnisses gegeben. Der Kläger ist mit fünf gegen ihn eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren sowie einer polizeilichen Überprüfung weiterhin in den Dateien des BKA bzw. LKA und einer darauf basierenden Kriminalakte der Polizeiinspektion O. geführt (Eintragungen im Bundeszentralregister existieren nicht; vgl. Führungszeugnis vom 28. Mai 2002), die auch Grundlage des Gefährderanschreibens vom 7. Dezember 2001 gewesen sind (insoweit ist in der Kriminalakte eine Prüffrist gemäß § 47 NGefAG für den 7. August 2006 vermerkt). Damit besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger aus Anlass zukünftiger Veranstaltungen bzw. Demonstrationen, bei denen mit politisch motivierten Gewalttätigkeiten gerechnet wird, erneut Gefährderanschreiben erhalten wird. Ein Rehabilitierungsinteresse des Klägers ist ebenfalls gegeben. Auch wenn er sich eigenverantwortlich durch Einschaltung von Presseorganen mit seinem Anliegen in die Öffentlichkeit begeben hat, schließt dies ein solches Feststellungsinteresse nicht aus. Denn es genügt eine diskriminierende Wirkung der angegriffenen Maßnahme gegenüber dem Adressaten selbst. Hier ist der Kläger als potentieller Störer und Gewalttäter bei demonstrativen Aktionen als Anlass des EU-Gipfels in Brüssel angeschrieben worden. Diese Einstufung des Klägers bedeutet eine Diskriminierung.

22

Durch das Gefährderanschreiben ist auch ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO begründet worden. Insoweit hält die Kammer an der im Prozesskostenhilfebeschluss vom 15. April 2003 nach summarischer Prüfung vertretenen anders lautenden Einschätzung nicht mehr fest.

23

Unter Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO werden die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer Rechtsnorm ergebenden rechtlichen Beziehungen einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache verstanden. Öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse können sich aus einen öffentlich-rechtlichen Verhalten des Staates (also auch aus einem Realakt) ergeben. Wesentlich notwendig für ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis ist, dass die rechtlichen Beziehungen zumindest ein subjektives öffentliches Recht und dessen konkrete Rechtsbetroffenheit zum Gegenstand haben (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 43 Rn. 11, 13, 17). Eine solche Rechtsbetroffenheit des Klägers wegen seiner Freiheitsrechte aus den Art. 5, 8 GG (Meinungs- und Versammlungsfreiheit, vgl. insoweit auch  Art. 10, 11 EMRK) ist mit dem Gefährderschreiben verbunden gewesen, da in seine grundgesetzlich geschützte Willensentschließungsfreiheit, überhaupt an Demonstrationen aus Anlass des EU-Gipfels in Brüssel zur Kundgabe einer (kollektiven) Meinung teilzunehmen, eingegriffen worden ist.

24

Als Abwehrrecht, das auch und vor allem anders denkenden Minderheiten zu Gute kommt, gewährleistet das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht. Die vom Versammlungsrecht umfasste, auch durch Art. 5 GG besonders geschützte Meinungsfreiheit zählt zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform. Wird die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden, kann für sie nichts grundsätzlich anderes gelten. Dem steht nicht entgegen, dass speziell bei Demonstrationen das argumentative Moment zurücktritt, welches die Ausübung der Meinungsfreiheit in der Regel kennzeichnet. Indem der Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit und ohne Zwischenschaltung von Medien kundgibt, entfaltet auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer einerseits in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umganges miteinander oder die Wahl des Ortes im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Trotz ihres hohen Ranges sind die Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet. Sie finden ihre verfassungsrechtlichen Grenzen im Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter und unterliegen einem Gesetzesvorbehalt (so grundlegend BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81 - und - 1 BvR 341/81 -, BVerfGE, 69, 315, 343, 344 f. 348).

25

Nicht jede Einflussnahme auf eine Willensentscheidung nach den Artikeln 5, 8 GG stellt jedoch einen Grundrechtseingriff dar. Denn einer freiheitlichen demokratischen Staatsordnung ist die geistige Auseinandersetzung und der Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform immanent. Von daher sind alle Bürger ständigen - auch staatlichen - Einflussnahmen  im Bereich der Willensbildung und -entschließung ausgesetzt. Ob einer staatlichen Einflussnahme auf die geschützte Entschließungsfreiheit, sich an einer Demonstration/Versammlung zu beteiligen, bereits ein Eingriffscharakter zukommt, ist danach zu beurteilen, wie viel Spielraum dem Adressaten eines schlicht hoheitlichen Handelns verbleibt (vgl. zum Grundrechtseingriff durch Realakte nach Art, Nähe und Ausmaß der Behinderung und Gefährdung: Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl. 2002, Vorb. Art. 1 Rn. 26;  Art. 8 Rn. 11). Wird durch eine Behörde auf mögliche Gefahren und Folgen einer Demonstrationsteilnahme allgemein gehalten hingewiesen, ohne dass bereits gegenüber dem Adressaten konkrete Maßnahmen angesprochen und angedroht werden, verbleibt grundsätzlich ein hinreichender Spielraum für den Betroffenen, seine Willensentscheidung unter Abwägung der für sein Verhalten relevanten Umstände eigenständig und eigenverantwortlich zu treffen. Wird hingegen ein Bürger unter Bezugnahme auf ihm in der Vergangenheit zur Last gelegte Verhaltensauffälligkeiten und auf die polizeiliche Relevanz eines gleichgelagerten Verhaltens aus Anlass einer konkret bevorstehenden Demonstration polizeilich angeschrieben, um dadurch seine Teilnahme zu verhindern, so kann der Spielraum für die Willensentschließung etwa aus Furcht vor polizeilichen Maßnahmen und Nachteilen so stark beeinflusst sein, dass der Betroffene keine Entschließungsfreiheit mehr für die Ausübung seiner Versammlungs- und Meinungsfreiheit für sich sieht. Hier kann dem staatlichen Handeln Eingriffscharakter zukommen. Ob dies der Fall ist, ist unter Heranziehung der für die Verwaltungsaktqualität entwickelten Grundsätze nach dem objektiven Sinngehalt des streitbefangenen Handelns im konkreten Einzelfall zu beurteilen, dass heißt, wie der Bürger unter Berücksichtigung der äußeren Form, Abfassung, Begründung und aller sonstigen ihm bekannten und erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben bei objektiver Auslegung die Erklärung oder das Verhalten der Behörde verstehen durfte bzw. musste. Maßgeblich kommt es dabei auf den Empfängerhorizont an (vgl. Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 8. Auflage 2003, § 35 Rn. 18).

26

Unter Beachtung dieser Grundsätze und des Schutzbereiches der Art. 5, 8 GG, der auch die Freiheit eines in der Bundesrepublik Deutschland lebenden deutschen Staatsbürgers zur Teilnahme an einer im Ausland stattfindenden Versammlung umfasst, ist zur Überzeugung des Gerichts mit dem Gefährderanschreiben vom 7. Dezember 2001 in die Willensentschließungsfreiheit des Klägers eingegriffen worden. Von seinem objektiven Sinngehalt durfte und musste der Kläger das Anschreiben als unmissverständliche Aufforderung verstehen, an Demonstrationen aus Anlass des EU-Gipfels in Brüssel am 13. bis 15. Dezember 2001 nicht teilzunehmen, anderenfalls er weiteren polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt sein würde. Die Polizeiinspektion O. verfolgte nach den klaren Vorgaben des Erlasses des Nds. Innenministerium mit dem Gefährderanschreiben des eindeutige Ziel, eine Teilnahme des Klägers als einem potentiellen Störer/Gewalttäter an Demonstrationen in Brüssel sowie seine Anreise dorthin zu verhindern. Der Kläger ist deshalb persönlich und gezielt mit dem Gefährderanschreiben angesprochen worden, um ihn zu bewegen, von der Teilnahme an bevorstehenden Demonstrationen in Brüssel Abstand zu nehmen. Das „Nahelegen, sich nicht an den demonstrativen Aktionen zu beteiligen.“ ist mehr als eine unverbindliche Empfehlung. Dieses „Nahelegen“ durch die Polizeibehörde enthielt - wie dargelegt auch beabsichtigt - eine unmissverständliche Aufforderung, eine Beteiligung an demonstrativen Aktionen zu unterlassen. Diese Aufforderung erging auch mit einem realen Bezug auf polizeiliche Maßnahmen, falls der Kläger der Aufforderung nicht nachkommen würde. Mit Erhalt des Gefährderanschreibens war für den Kläger klar, dass er der polizeilichen Überwachung und Beobachtung unterstand und als Gefährder im polizeilichen Sinne angesehen wurde. Der Kläger durfte und musste das Anschreiben so verstehen, dass ihm konkrete polizeiliche Maßnahmen und die damit verbundenen Nachteile real drohten, falls er sich an den demonstrativen Aktionen beteiligen würde, zu denen die im Gefährderanschreiben genannten Gruppen aufgerufen hatten. Hierdurch ist der Entscheidungsspielraum des Klägers so stark eingeengt worden, dass er aus Furcht vor polizeilichen Maßnahmen und damit verbundenen Nachteilen keine Entschließungsfreiheit mehr für eine Demonstrationsteilnahme in Brüssel für sich sah.

27

Der mit dem Gefährderanschreiben verbundene Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen des Klägers, zu dem die Polizeiinspektion O. allein unter den Voraussetzungen bestehender Ermächtigungen befugt gewesen wäre, ist materiell rechtswidrig gewesen. Im Rahmen der Eingriffsverwaltung unterlag die Polizei im Dezember 2001 den Vorgaben der §§ 11 ff. i. V. m. 4 ff. NGefAG in der damals geltenden Fassung. Gemäß § 11 NGefAG konnte die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht die Vorschriften des Dritten Teils die Befugnisse der Verwaltungsbehörden und der Polizei besonders regeln. Ihre Befugnis aus § 11 NGefAG hat die Polizeiinspektion O. schon deshalb in rechtlich zu beanstandender Weise überschritten, weil sie den Kläger zu Unrecht als Verhaltensstörer im Sinne des § 6 NGefAG behandelt hat.

28

Allerdings ist die Befugnis, im Rahmen der Verhütung von Straftaten nach § 1 Abs. 1 S. 3 NGefAG tätig zu werden, eröffnet gewesen. Es lag eine Gefahr im Sinne des § 2 Nr. 1 a NGefAG vor. Angesichts der gewalttätigen Ausschreitungen bei Demonstrationen in Genua und anlässlich des EU-Gipfels in Göteborg bestand die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass bei den bevorstehenden Demonstrationen zum EU-Gipfel in Brüssel auch gewaltsame Ausschreitungen von Globalisierungsgegnern stattfinden würden. Dass die Realisierung dieser Gefahren im Ausland befürchtet wurde, hinderte nicht das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit, da die gefährdeten Rechtsgüter auch im Ausland grundrechtlich geschützt werden. Nach Art. 39 Abs. 1 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen haben sich die Vertragsparteien (hier konkret die Bundesrepublik Deutschland und Belgien) zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten nach Maßgabe des nationalen Rechts und innerhalb der jeweiligen Zuständigkeiten verpflichtet. Die Verhütung von Straftaten ist eine Aufgabe der präventiven Gefahrenabwehr. In der Bundesrepublik Deutschland sind ausschließlich die Polizeien der Länder für die Gewährung dieser besonderen Amtshilfe zuständig (Mokros, in: Lisken/ Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Auflage 2001, O 121 f.).

29

Die Polizeiinspektion Göttingen hat jedoch den Kläger zu Unrecht als (Mit-)Verursacher dieser Gefahr im Sinne des § 6 NGefAG angesehen. Denn das damals der Polizei und auch heute dem Gericht vorliegende Erkenntnismaterial rechtfertigte nicht die Prognose, dass sich der Kläger mit hinreichender Wahrscheinlichkeit an Demonstrationen anlässlich des EU-Gipfels in Brüssel gewalttätig oder in strafbarer Weise beteiligen würde. Von einer Störereigenschaft in Bezug auf zu erwartende Gewalttätigkeiten/Straftaten bei Demonstrationen kann nur dann ausgegangen werden, wenn eine Person im Zusammenhang mit politisch motivierten Straftaten anlässlich von Demonstrationen einschlägig und zeitnah in Erscheinung getreten ist, wobei es nicht notwendig zu rechtskräftigen Verurteilungen deswegen gekommen sein muss (vgl. OVG Berlin, Beschlüsse vom 17. Juli 2001 - OVG 1 SN 62.01 -  und vom 18. Juli 2001 - OVG 1 SN 61.01 -). Von den sechs in der vorliegenden Kriminalakte wiedergegebenen Verfahren gegen den Kläger geben allein zwei Verfahren Anlass, einer solchen Störereigenschaft nachzugehen. Dazu gehört ein Verdacht des Landfriedensbruchs und der Störung öffentlicher Betriebe im Zusammenhang mit einem Castor-Transport aus dem Jahre 1995. Dieses Ereignis lag zum Zeitpunkt der Fertigung des Gefährderanschreibens bereits sechs Jahre zurück, so dass von einer zeitlichen Nähe im Sinne einer tragfähigen Prognoseentscheidung nicht gesprochen werden kann. Da das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist, greift auch die Unschuldsvermutung zu Gunsten des Klägers ein.  Aber auch die jüngsten Erkenntnisse über den Kläger, nämlich ein Verfahren wegen Widerstands gegen Polizeibeamte in Göttingen bei einer Ingewahrsamnahme im Zusammenhang mit einem Besuch des bayerischen Staatsminister des Innern am 30. Mai 2001, rechtfertigt die Annahme einer Verhaltensstörereigenschaft in Bezug auf demonstrative Aktionen in Brüssel nicht. Dieses Verfahren ist nach § 153 a StPO mit Zustimmung des Klägers (unter Hinweis darauf, dass dies keineswegs ein Schuldeingeständnis darstellen soll) nach Zahlung von 200,- DM an eine gemeinnützige Einrichtung eingestellt worden (Grund: Angewendete Gewalt war relativ gering, keine Vorbelastungen). Aus der beigezogenen Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Göttingen zum Aktenzeichen 34 Js 19828/01 ergibt sich, dass der Kläger versucht hatte, sich aus einer polizeilichen Ingewahrsamnahme zu befreien. Der den Zugriff ausführende Polizeibeamte hat zum Anlass seines Vorgehens mitgeteilt,  für ihn habe der Anschein bestanden, dass der Kläger, der im Rücken der Polizeikette gerannt sei, einen Kollegen von rückwärts angehen wollte. Dass der Kläger tatsächlich eine solche Absicht gehabt haben könnte, ist nicht belegt. Das Rennen im Rücken der Polizeikette könnte vielmehr seinen Grund auch darin gefunden haben, dass sich der Kläger aus dem Bereich der polizeilichen Präsenz entfernen wollte, da hinter dem vermeintlich gefährdeten Polizeibeamten keine weiteren Einsatzkräfte mehr aufgestellt waren. Eine solche Schlussfolgerung legt der Vermerk des eingreifenden Polizeibeamten vom 30. Juli 2001 auch nahe, in dem der konkrete Ablauf der Ingewahrsamnahme an Hand einer Skizze geschildert worden ist. Aus den Geschehnissen am 30. Mai 2001 eine hinreichende Verhaltensstörereigenschaft des Klägers für Gewalttätigkeiten oder sonstige Straftaten bei Demonstrationen aus Anlass des EU-Gipfels in Brüssel herzuleiten, entbehrte nach alledem einer konkreten und tragfähigen Tatsachengrundlage.

30

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

31

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

32

Die Berufung gegen dieses Urteils ist nach § 124 a Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, da die tatsächliche und rechtliche Einordnung von polizeilichen Gefährderansprachen/-anschreiben über den Einzelfall hinaus bedeutsam ist und diese Frage in einem Berufungsverfahren bislang einer Klärung nicht zugeführt wurde.