Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 04.09.1996, Az.: 2 U 149/96
Ausnahme von der Leistungsfreiheit nach einer Unfallflucht des Versicherungsnehmers
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 04.09.1996
- Aktenzeichen
- 2 U 149/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 21424
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1996:0904.2U149.96.0A
Rechtsgrundlagen
- § 6 Abs. 3 VVG
- § 142 StGB
Amtlicher Leitsatz
Fahrzeugversicherung: Leistungspflicht des Versicherers trotz Unfallflucht des Versicherungsnehmers.
Entscheidungsgründe
Die Beklagte ist nicht wegen einer Obliegenheitsverletzung des Klägers gemäß § 7 I Nr. 2 Satz 3, V Nr. 4 AKB i.V.m. § 6 Abs. 3 VVG leistungsfrei. Zwar ist grundsätzlich sowohl in der Haftpflicht- als auch in der Fahrzeugversicherung von einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheiten auszugehen, falls der Versicherungsnehmer sich des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 StGB schuldig macht (BGH NJW 1976, 371; BGH NJW 1987, 2374; Stiefel/Hofmann, AKB, 16. Aufl., § 7 Rdnr. 34 ff.). Eine Leistungsfreiheit tritt jedoch trotz Erfüllung des Straftatbestandes des § 142 StGB dann nicht ein, wenn feststeht, dass den Versicherungsnehmer hinsichtlich der Obliegenheitsverletzung ausnahmsweise nur ein geringes Verschulden trifft (BGH VersR 1970, 410; OLG Karlsruhe NJW-RR 1993, 99 [OLG Karlsruhe 01.10.1992 - 12 U 90/92]; Stiefel/Hofmann, a.a.O., § 7 Rdnr. 88 ff m.w.N.).
Bei Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Geschehens (§ 286 ZPO) ergibt sich vorliegend, dass das dem Kläger zur Last zu legende Verschulden ungewöhnlich gering wiegt.
Es ist nicht feststellbar, dass der Kläger sich des Straftatbestandes des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB schuldig gemacht hat. Nach dieser Bestimmung ist ein Unfallbeteiligter, wenn am Unfallort weder der Geschädigte noch andere feststellungsbereite Personen anwesend sind, verpflichtet, am Unfallort eine nach den Umständen angemessene Zeit zu warten. Die Wartefrist bestimmt sich nach der Schwere des Unfalls, der Höhe des eingetretenen Schadens sowie sonstigen Umständen wie der Tageszeit, der Witterung und der Verkehrsdichte (Dreher, StGB, 47. Aufl., § 142 Rdnr. 31 m.w.N.). Vorliegend ist bei dem vom Kläger verursachten Unfall lediglich ein geringer Fremdsachschaden in Höhe von etwa 400,-- DM eingetreten. Der Unfall fand zur Nachtzeit (etwa 1.30 Uhr) auf einer Landstraße bei nasskalter Witterung statt. Unter diesen Umständen wird eine Wartezeit von 10 Minuten durchaus für ausreichend gehalten (OLG Stuttgart NJW 1981, 1107 [OLG Stuttgart 15.12.1980 - 3 Ss 752/80]; Bay OLG DAR 1984, 240; Dreher, a.a.O., Rdnr. 31 m.w.N.). dass der Kläger sich nicht mindestens für einen solchen Zeitraum am Unfallort aufgehalten hat, ist von der beweispflichtigen Beklagten zumindest nicht ausreichend substantiiert behauptet noch gar unter Beweis gestellt. Sie hat lediglich unter teilweiser Wiedergabe des Gesetzestextes des § 142 StGB vorgetragen, der Kläger habe sich vom Unfallort entfernt, ohne hier zunächst zu warten, um zu Gunsten der Geschädigten die Feststellung seiner Person, seines Fahrzeugs und der Art seiner Beteiligung durch seine Anwesenheit zu ermöglichen. Zweifelhaft ist bereits, ob darin überhaupt ein Tatsachenvortrag und nicht nur die Darlegung einer Rechtsansicht liegt. Dies kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls fehlt es an einem Beweisantritt. Die Verletzung der Wartepflicht ist auch nicht unstreitig. Der Kläger hat unter Beweisantritt behauptet, er habe unmittelbar nach dem Unfall mit Hilfe zahlreicher anderer Personen sein Fahrzeug zurück aus dem Acker ziehen können.
Ein solcher Vorgang dauert erfahrungsgemäß etliche Zeit, sodass auf Grund der Darlegungen des Klägers davon auszugehen ist, dass er sich für eine im Sinn des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB angemessene Zeit noch am Unfallort aufgehalten hat.
Im Übrigen käme es vorliegend sogar in Betracht, die vom Kläger genannten Personen als Feststellungsinteressenten anzusehen (vgl. dazu Dreher a.a.O., Rdnr. 24). Auch in diesem Fall schiede eine Strafbarkeit des Klägers nach § 142 Abs. 1 StGB aus.
Der Kläger hat sich allerdings eines Vergehens gemäß § 142 Abs. 2 StGB schuldig gemacht, da er nach Entfernung vom Unfallort die notwendigen Feststellungen über seine Unfallbeteiligung nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht hat. Insoweit ist jedoch auch festzustellen, dass bei einem pflichtgemäßen Verhalten des Klägers der Beklagten zumindest mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine weiteren Aufklärungsmöglichkeiten eröffnet worden wären. Der Unfallverursacher kann nämlich grundsätzlich frei entscheiden, wie er die nachträglichen Feststellungen ermöglicht (BGHSt 29, 141 [BGH 29.11.1979 - 4 StR 624/78]).
Insbesondere ist es ihm gestattet, sich direkt an den Geschädigten zu wenden. Das Unverzüglichkeitsgebot wird bei einem nächtlichen Unfall mit Sachschaden nach allgemeiner Rechtsprechung noch gewahrt, wenn die Meldung im Laufe des nächsten Vormittags, etwa spätestens bis 10.00 oder 11.00 Uhr, erfolgt (OLG Stuttgart, a.a.O.; BayObLG a.a.O.; Dreher, a.a.O., Rndr. 45 m.w.N.). Der Kläger hätte demnach seiner Verpflichtung aus § 142 Abs. 2 StGB noch am Vormittag des 25.11.1995, einem Werktag, durch Meldung des Schadens bei der zuständigen Straßenverkehrsbehörde nachkommen können, dass auf Grund einer solchen Meldung über die Polizei noch eine Blutentnahme beim Kläger veranlasst worden wäre, ist äußerst unwahrscheinlich. Jedenfalls hätte eine Blutprobe auf Grund des Zeitablaufs keine sicheren Rückschlüsse mehr auf die von der Beklagten vermutete Alkoholisierung des Klägers im Unfallzeitpunkt zugelassen.
Dies mag zwar die nach der sog. Relevanzrechtsprechung lediglich geforderte generelle Eignung der Obliegenheitsverletzung für die ernsthafte Gefährdung berechtigter Interessen des Versicherers (z.B. BGH NJW 1976, 371; BGH VersR 1984, 228) nicht zu beseitigen; gleichwohl ergibt sich daraus ein Gesichtspunkt, der bei der Bewertung des Verschuldens des Versicherungsnehmers an der Obliegenheitsverletzung mildernd berücksichtigt werden kann.
Der wesentliche, verschuldensmindernd zu berücksichtigende Gesichtspunkt liegt vorliegend darin, dass der Kläger von sich aus die die Aufklärungspflichtverletzung begründenden Umstände gegenüber der Beklagten offenbart hat. Insbesondere hat er in seiner Schadenanzeige angegeben, dass ein geringer Fremdschaden entstanden sei, welchen er der Polizei nicht gemeldet habe. Der Kläger musste dabei mangels anhängigen Ermittlungsverfahrens auch nicht ernstlich befürchten, dass die Beklagte auf andere Weise von der Entstehung des Fremdschadens und der mangelnden Meldung bei der Polizei und dem Geschädigten erfahren würde. Vielmehr ist nach den gesamten Umständen davon auszugehen, dass die Beklagte davon mit zumindest sehr hoher Wahrscheinlichkeit niemals Kenntnis erlangt hätte.
Die Redlichkeit des Klägers bei der Schadensmeldung zeigt, dass es ihm nicht darum ging, Feststellungen zu erschweren und seine Unfallbeteiligung in irgendeiner Weise zu verbergen.
Schließlich können bei der Bewertung des Verschuldens des Versicherungsnehmers auch in seiner Person liegende Gründe Berücksichtigung finden (BGH VersR 1970, 410, 411). Der Kläger war im Unfallzeitpunkt gerade erst 22 Jahre alt geworden. Er ist 1993 als Russlanddeutscher nach Deutschland übergesiedelt. Auch diese Umstände sind geeignet, in einem gewissen Maß die Unbedachtheit seines Verhaltens in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Unter Berücksichtigung aller Umstände fehlt es an einem Grad des Verschuldens, welcher geeignet wäre, die Berufung der Beklagten auf eine Leistungsfreiheit zu tragen.