Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 29.10.2018, Az.: 6 A 5521/17
Irak
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 29.10.2018
- Aktenzeichen
- 6 A 5521/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 74006
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger assyrischer Volkszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Er reiste eigenen Angaben zufolge Ende Januar 2016 aus dem Irak aus und, u.a. über die Türkei und Griechenland kommend, am 25. Mai 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 1. Juni 2016 in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge einen Asylfolgeantrag stellte. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 16. Januar 2017 gab der Kläger an, er habe den Irak erneut verlassen, da ihn religiöse Fanatiker wegen seiner islamkritischen Äußerungen mit dem Tode bedroht hätten.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger, er habe bis zu seiner Ausreise in Bagdad gelebt, zwischenzeitlich auch in Sulaimaniyya. Er habe nach dem Abitur im Irak englische Literatur studiert. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland habe er im Irak als Englisch- und Deutschlehrer gearbeitet. Seine Mutter sei verstorben; im Irak würden noch sein Vater sowie eine Tante in Bagdad leben. Sein Bruder lebe seit 16 Jahren in Deutschland. Er, der Kläger, studiere in Deutschland gegenwärtig Erwachsenenbildung und Sonderpädagogik. Zudem arbeite er ehrenamtlich an seinem gegenwärtigen Wohnort für den Fachbereich Soziales sowie die Polizei als Übersetzer und sei ehrenamtlicher Judo-Trainer.
Zu den Gründen seiner Ausreise erklärte der Kläger, er habe den Irak wegen seiner offen propagierten anti-islamischen Einstellung verlassen. Seit dem Jahr 2010 habe er angefangen, den Islam empfindlich zu kritisieren. Er stamme aus einer christlichen Familie, die in Bagdad sehr bekannt sei, sehe sich selbst aber nur als „Volkschristen“ bzw. als Atheisten, den die buddhistischen Lehren interessierten. In den Jahren 2012 und 2013 habe er begonnen, den Buddhismus und den Islam zu vergleichen und die Erkenntnisse unter seinem eigenen Namen im Internet zu veröffentlichen. In der Zeit von 2012 bis 2016 sei er in verschiedenen Sprachzentren in Sulaimaniyya angestellt gewesen, habe jedoch wegen seiner offen propagierten Meinung über den Islam oftmals eine Kündigung erhalten. In den Jahren 2014 und 2015 habe er in Sulaimaniyya sowie Erbil auf der Universität ein Seminar über Freiheit, Religion und Politik gehalten und sich allgemein religionskritisch geäußert. Dabei sei es zu körperlichen Auseinandersetzungen bzw. Rangeleien mit Lehrern und Studenten gekommen. Im Jahr 2015 habe er per E-Mail und Brief gegenüber dem Innenministerium, dem Außenministerium und dem Kultusministerium seine Kritik am Islam kundgetan, ferner gegenüber dem schiitischen Ayatollah Ali al-Sistani und dem schiitischen Religionsgelehrten Muqtada al-Sadr. Im Jahr 2015 habe er der kurdischen Zeitung D. in einem Leserbeitrag seine kritische Meinung über den Islam mitgeteilt; zudem habe er an die kurdische Regionalregierung geschrieben. Im Zeitraum zwischen Ende 2015 und Anfang 2016 habe er fünf Videos hergestellt und auf Youtube hochgeladen, die über 9.000 Mal angesehen worden seien. Hierin habe er den Koran kritisiert sowie, in einem der Videos, nach Verlesen einer zwanzigminütigen Erklärung auch verbrannt. Infolgedessen hätte er 136 SMS mit Drohungen erhalten, da seine Telefonnummer über Facebook frei ersichtlich gewesen sei. Gegen November bzw. Dezember 2015, d.h. nachdem er die Briefe an die Ministerien geschrieben habe, seien dann Polizisten zu seinem Vater in Bagdad gekommen und hätten ihn, den Kläger, wegen unangemessener Religionskritik verhaften wollen. Eine Woche bis ca. zehn Tage später hätten sie noch einmal aggressiv bei seinem Vater nach ihm gefragt. Sein Vater habe ihm in dieser Zeit oft vorgeworfen, dass er zu extrem sei, habe ihn aber weiterhin akzeptiert und ihn auch nicht an die Polizei verraten. Im Dezember 2015 habe er dann in Sulaimaniyaa an seinem Auto an der Seitenschale ein Schreiben gefunden, in dem ihm unbekannte Personen wegen seiner islamkritischen Äußerungen mit dem Tode gedroht hätten. Daraufhin sei er zur Polizei gegangen, aber kritisiert worden, als die Polizisten den ungefähren Anlass der Drohungen erfahren hätten. Sein Antrag auf Erteilung eines Aktenauszuges sei am 14. Dezember 2015 abgelehnt worden. Danach habe er sich bis zu seiner Ausreise im Februar 2016 bei seiner Tante aufgehalten. Weiterhin gab der Kläger an, er habe mittlerweile sowohl das irakische Innenministerium als auch die irakische Botschaft in Schweden und in Norwegen, dem Herkunftsland seiner Verlobten, gefragt, ob er die irakische Staatsangehörigkeit abgeben könne, jedoch keine Antwort erhalten. Im Falle einer Rückkehr in den Irak, so der Kläger, befürchte er, wegen seiner Meinung zum Islam getötet zu werden, wenigstens aber, von der Regierung zu einer ungerechtfertigten Freiheitsstrafe verurteilt zu werden.
Mit Bescheid vom 31. Mai 2017, dem Kläger am 6. Juni 2017 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2) ab und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5). Zur Begründung führte es aus, dem Kläger sei im Irak persönlich nichts geschehen, zudem habe er nach den vorgetragenen Vorfällen in Bagdad im Dezember 2015 noch zwei Monate unbehelligt bei seiner Tante leben können.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 19. Juni 2017 Klage erhoben. Zur Begründung bezieht er sich auf seinen bisherigen Vortrag und ergänzt er u.a., entgegen der Einschätzung des Bundesamts habe er sich nach den Vorfällen nicht in Bagdad frei bewegen können. Vielmehr habe er sich bei seiner Tante versteckt gehalten. Zudem habe er erfahren, dass die Polizei im März 2017 nochmals bei seinem Vater gewesen sei und mit einem Haftbefehl nach ihm gesucht habe.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 22. Mai 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom 23. Mai 2018 Prozesskostenhilfe bewilligt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2017 zu verpflichten
1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3. hilfsweise, festzustellen, dass bei ihm die Voraussetzungen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG vorliegen,
4. hilfsweise, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf null zu befristen, hilfsweise, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. In Bezug auf den Inhalt der informatorischen Anhörung des Klägers wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 29. Oktober 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
1.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 31. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).
Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.
Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ersteres ist hier der Fall. Der Kläger war nach Überzeugung des Gerichts vor seiner Ausreise aus dem Irak aufgrund seiner Religion sowie seiner politischen Überzeugung von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion dabei insbesondere theistische, nichttheistische und – so wie im vorliegenden Fall in Rede stehend – atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Damit sich ein Ausländer erfolgreich auf eine Verfolgungsgefährdung wegen einer atheistischen Weltanschauung berufen kann, muss dabei – im Einklang mit den in der Rechtsprechung zur Glaubenskonversion entwickelten Grundsätzen – feststellbar sein, dass die atheistische Weltanschauung die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt, weil die Glaubensabwendung auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruht (VG Aachen, Urteil vom 28.05 2018 – 4 K 971/17.A –, juris Rn. 40 f.; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 27.04.2016 - 13 A 854/16.A -, juris Rn. 8). Bei der Prüfung der inneren Tatsache, ob eine Person eine ausgeübte oder unterdrückte areligiöse Betätigung für sich selbst als verpflichtend zur Wahrung ihrer Identität empfindet, ist zudem das Regelbeweismaß der vollen Überzeugung des Gerichts anzulegen; eine hinreichend substantiierte Darlegung, die einer Plausibilitätsprüfung genügt, ist nicht ausreichend (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.08.2015 – 1 B 40/15; Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23/12 -, juris Rn. 30).
Des Weiteren liegt eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten schließlich gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss dabei zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7).
Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen einer religiösen sowie einer politischen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2, Var. 4 AsylG vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger von Angehörigen der irakischen Sicherheitskräfte mit Verhaftungen bzw. Gewaltmaßnahmen bedroht wurde, weil er seine atheistische, islamkritische Weltanschauung offen propagierte sowie öffentlich forderte, dass die islamische Religion keinen Einfluss auf den irakischen Staat haben dürfe.
Ausweislich der dem Gericht zum Irak vorliegenden Erkenntnismittel besteht für Personen, die sich – wie der Kläger – offen zu ihren atheistischen bzw. islamkritischen Anschauungen bekennen, eine besondere Gefahr, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch religiöse Fundamentalisten zu werden (s. hierzu bereits VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 5109/16 –, juris; Urteil vom 25.06.2018 – 6 A 3984/17 –, juris). Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln hat der Atheismus im Irak tiefgehende historische Wurzeln, wobei sich die Verbreitung in allen Gesellschafts- und Altersschichten jedoch als neues Phänomen erweist. In einer 2011 veröffentlichten Umfrage der kurdischen Nachrichtenagentur AKnews wurden irakische Bürger befragt, ob sie an Gott glauben. Vier Prozent antworteten mit „wahrscheinlich nicht“, sieben Prozent mit „Nein“ (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Doccumentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 1 f. der Druckversion). Ergänzend führt ACCORD in seiner Stellungnahme aus September 2017 aus (ACCORD, a.a.O., S. 3 der Druckversion):
„Die irakische Nachrichtenwebsite The Baghdad Post schreibt im Januar 2017, dass laut Angaben von Experten die Anzahl junger irakischer Männer und Frauen, die sich dem Atheismus zuwenden würden, steige. Sie würden meist aus einem intellektuellen Milieu kommen und ihre radikalen Meinungen auf sozialen Medien verbreiten. Dort würden sie Gott, sowie den Propheten Mohammed und seine Familie angreifen. Das Phänomen des Atheismus habe soziale und intellektuelle Gründe, so The Baghdad Post weiter. Laut Experten habe sich der Atheismus ausgebreitet, da sunnitische und schiitische Politiker und Milizen die Religion missbraucht hätten, um mehr Anhänger zu gewinnen […]“
Nach irakischem Recht besteht dabei keine ausdrückliche Strafandrohung für Menschen, die vom islamischen Glauben abfallen. Die Verfassung erklärt einerseits den Islam als die offizielle Religion und legt fest, dass kein Gesetz beschlossen werden darf, das den „bestehenden Vorschriften des Islam“ widerspricht, andererseits gewährt sie das Recht auf Religionsfreiheit für Muslime, Christen, Jesiden, und Saebäer/Mandäer. Ein vom Islam abkehrender Religionswechsel wird jedoch rechtlich nicht anerkannt, so das beispielsweise auf der Identitätskarte einer (zum Christentum) konvertierten Person auch nach deren Konversion noch steht, dass sie/er Muslimin/Muslim ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 125 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, S. 1).
Feindseligkeiten gegenüber Konvertiten oder Atheisten sind im Irak darüber hinaus weit verbreitet. Gefahren gehen zum Teil durch Mitarbeiter staatlicher Behörden aus, vor allem aber durch private Dritte, insbesondere religiöse Milizen, welche die im Irak bestehenden Strafgesetze zu Lasten von Atheisten oder Konvertiten auslegen (siehe ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 5 der Druckversion). Streng gläubige irakische Muslime halten Atheismus für strafrechtlich relevant und berufen sich hierbei auf Art. 372 des irakischen Strafgesetzbuches, in dem das Thema Blasphemie behandelt wird, obgleich unter den aufgelisteten strafbaren Handlungen Apostasie und Atheismus an keiner Stelle erwähnt werden (Humanistischer Pressedienst (HPD), Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 2 der Druckversion):
Im Irak dominiert dabei die gesellschaftliche Haltung gegenüber Atheisten, es handele sich bei ihnen um moralisch verdorbene Personen oder Agenten ausländischer Gruppen bzw. Mächte. Politiker islamischer Parteien heizen in Wahlkampfansprachen zum Teil gezielt die Stimmung gegen Atheisten an (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 2 der Druckversion):
„Al-Monitor schreibt in einem weiteren Artikel vom Juni 2017, dass islamische Bewegungen im Irak in den letzten Wochen ihre gegen Atheismus gerichtete Rhetorik intensiviert hätten, Iraker über die Verbreitung des Phänomens gewarnt und von einer Notwendigkeit gesprochen hätten, Atheisten entgegenzutreten. Die islamischen Bewegungen und Parteien seien besorgt, dass die öffentliche Stimmung sich gegen sie richten und sich dies wiederum auf die Wahlen auswirken könne, die für Ende 2017/Anfang 2018 angesetzt seien. Ammar al-Hakim, der Führer des zumeist schiitischen Parteienbündnisses Irakische Nationalallianz, das die große Mehrheit im Parlament und in der Regierung stelle, habe gegen die Verbreitung des Atheismus gewarnt. Manche Menschen, so alHakim, würden die Orientierung der irakischen Gesellschaft an religiösen Prinzipien und ihre Verbindung zu Gott verübeln. Er rufe dazu auf, diesen fremden atheistischen Ideen mit gutem Denken zu konfrontieren und den Unterstützern solches Gedankenguts mit einer „eisernen Faust“ entgegenzutreten, indem man die Methoden offenlege, mit denen sie ihre Ideen propagieren würden. […] Während des Ramadan hätten religiöse Predigten in schiitischen Städten im Zentral- und Südirak die Verbreitung säkularer und atheistischer Ideen angegriffen, da diese als Bedrohung der irakischen Gesellschaft aufgefasst würden. Der ehemalige Premierminister Nuri al-Maliki, der weitreichenden Einfluss innerhalb der pro-iranischen Fraktionen der Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Units) habe, habe im Mai 2017 vor einer angeblichen gefährlichen Verschwörung säkularer und nichtreligiöser Bewegungen gewarnt, die die islamischen Parteien entmachten und selbst die Kontrolle erlangen wollen würden.“
In einem Bericht für den Zeitraum von 2013 bis September 2016 hob das Immigration and Refugee Board of Canada überdies hervor (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 2 f. der Druckversion), dass es nach Erkenntnissen der Zeitschrift Al-Monitor zahlreiche irakische Websites für Atheisten gebe. Ihre Mitgliederlisten würden diese jedoch geheim halten aus der Angst heraus, verfolgt oder getötet zu werden, sei es durch extremistische religiöse Milizen oder Gruppen, sei es gar durch einfache Bürger auf der Straße.
Zu den Gefahren offen religionskritischer Äußerungen auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion führt der Humanistische Pressedienst aus (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak):
„Das gilt zum Teil auch für die als vergleichsweise tolerant bekannte Autonome Region Kurdistan im Nordirak mit einer eigenen Regionalregierung in Erbil. Sie beansprucht für sich eine noch weitergehend säkularere Ausrichtung, als sie offiziell im übrigen Irak gilt. Und in der Tat werden dort Islam-kritische Diskussionen weniger rigide unterdrückt als anderswo. Religiöse Minderheiten können sich in Kurdistan außerdem erheblich sicherer fühlen als im übrigen Irak und suchen dort auch gezielt Schutz vor dem IS. Gleichzeitig ist besonders in Erbil die Gesellschaft nach wie vor sehr konservativ und erwartet, dass islamische Normen von allen respektiert werden. Auch in den kurdischen Autonomiegebieten ist es daher nicht überall ratsam, sich offen als Atheist zu bekennen.“
In seiner Stellungnahme aus September 2016 zitiert das Immigration and Refugee Board of Canada zudem einen kurdischen Journalisten aus Erbil mit den Worten, es sei in Kurdistan einfacher als im Rest des Irak, sich zum Atheismus zu bekennen, was jedoch nicht heiße, dass die Menschen vor Ort diesen Schritt auch akzeptieren würden. Ein Vertreter des Kurdistan Secular Center, einer Einrichtung, welche die Trennung von Staat und Religion propagiere, habe zudem in einem Telefoninterview im August 2016 hervorgehoben, die generelle öffentliche Haltung sei, dass man sich nicht gegen Religionen aussprechen dürfe. Menschen mit säkularen Ansichten hätten generell große Angst davor, öffentlich ihre Ansichten zur Religion kundzutun. Sich öffentlich als Atheist zu bekennen, könne tödlich sein, da die Gefahr bestehe, auf der Straße angegriffen oder von der eigenen Familie verstoßen zu werden. Hiermit korrespondierend habe die kurdisch-irakische Nachrichtenseite Safaq News am 16. Mai 2014 darüber berichtet, dass Atheisten im Irak fürchteten, wegen ihrer Anschauungen getötet zu werden (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 1-3 der Druckversion).
Diese Erkenntnisse zur Bedrohung von Atheisten durch Vertreter des irakischen Staates, geistliche Würdenträger sowie sonstige Mitglieder der örtlichen Gemeinschaft finden ihre sachliche Entsprechung in der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Das Gericht ist aufgrund der glaubhaften Schilderungen des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass ihm aufgrund seiner religionskritischen Äußerungen Verfolgung durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte droht.
Bereits die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts dokumentierte Aussage des Klägers enthielt zahlreiche Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Diesen Eindruck hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vollumfänglich bestätigt. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent mit quantitativen Detailreichtum, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem erwies sich die Schilderung in Bezug auf das Kerngeschehen im Wesentlichen als inhaltlich konstant mit der vorangegangenen Aussage gegenüber dem Bundesamt. Soweit der Kläger in vereinzelten Punkten abweichende Aussagen gegenüber den beim Bundesamt protokollierten Feststellungen tätigte, konnte er hierfür plausible Gründe dartun. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Der Kläger hat insbesondere glaubhaft dargetan, er stamme zwar aus einer bekannten christlichen Familie aus Bagdad, sei jedoch in seinem Denken ein wissenschaftlich geprägter Atheist, der sich für die Prinzipien des Buddhismus interessiere. Sein Denken sei insbesondere durch seinen Aufenthalt in Deutschland in der Zeit von 1998 bis 2008 beeinflusst worden, zumal er hier Sonderpädagogik studiert habe. Nach seiner Rückkehr in den Irak habe er als Dolmetscher sowie als Lehrer für Englisch und Deutsch an diversen Sprachinstitutionen gearbeitet und versucht, die in Deutschland erworbenen Kenntnisse in seinen Unterricht einfließen zu lassen. In dieser Zeit habe er in seinen Seminaren immer wieder die im Irak vorherrschende „Angstpädagogik“ sowie die Auswirkungen der islamischen Lehren auf den Alltag kritisiert und sei infolgedessen von seinen Schülern als „Kafir“ beschimpft worden, d.h. als Ungläubiger. Den Höhepunkt habe diese berufliche Entwicklung im Jahr 2015 erreicht, als er an der Universität Erbil als Gastredner in einem Vortrag vor ca. 160 Personen die Trennung von Staat und Religion gefordert habe. Zwei Zuschauerreihen seien aufgestanden und hätten ihn lautstark beschimpft, so dass der Moderator den Vortrag unterbrochen habe. Sechs oder sieben Leute seien ihm körperlich bedrohlich nahegekommen, woraufhin er durch einen Seiteneingang geflohen sei. Er habe jedoch nicht aufhören können, den (aus seiner Sicht unzulässigen) Einfluss der islamischen Religion auf den irakischen Staat weiterhin zu thematisieren, da er seit seiner frühen Kindheit unter vielfältigen Diskriminierungen im Alltag gelitten habe, u.a., weil auf seinem Personalausweis die Religionszugehörigkeit „Christ“ vermerkt sei. Für ihn habe sich das Ansprechen dieser Themen als eine Art Ventil dargestellt, um den langjährigen aufgestauten inneren Druck abzubauen.
Mit diesen Schilderungen korrespondierend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung – ebenso wie bereits gegenüber dem Bundesamt, das ohne nähere Begründung von einer inhaltlichen Kenntnisnahme und Übersetzung der Schriftstücke absah – zahlreiche kritische E-Mails vorgelegt, die er im Jahr 2015 unter seinem vollen Namen an irakische Ministerien und Gruppierungen verschickt hatte. Dieses betraf u.a. eine Nachricht an das irakische Bildungsministerium (Bl. 127 d. Beiakte (BA)), in welcher er sich gegen die Ideologie des Korans stellte und einen religiöse Erziehung von Kindern im staatlichen Schulunterricht ablehnte. Ebenso forderte er das Innenministerium auf (Bl. 187 d. BA), die staatlichen Gesetze von religiösen Einflüssen zu bereinigen und die Religionszugehörigkeit auf dem irakischen Personalausweis zu streichen, wobei er den Koran abermals massiv kritisierte. In einer weiteren E-Mail an das geistliche Oberhaupt der irakischen Schiiten, Ayatollah Ali Al-Sistani (Bl. 152 d. BA), machte er den Einfluss des Islam für eine rückständige Entwicklung der irakischen Gesellschaft verantwortlich und bezeichnete die schiitische Miliz Asa‘ib Ahl Al-Haqq als extremistische und ungebildete Gruppierung von Mördern und sonstigen Kriminellen. Eine ähnliche E-Mail verschickte er an Muqtada al-Sadr, den Anführer der Miliz „Mahdi-Armee“, wobei er den Irak als Land der Milizen und kriminellen Banden bezeichnete, dessen Verfassung nur auf dem Papier bestehe. In dieser Nachricht bezeichnet er schiitische Organisationen als „gefährlichste Viren im menschlichen Organismus“ ein. Ebenso hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung drei auf seinem persönlichen Youtube-Kanal im Zeitraum von November bis Januar 2016 veröffentlichte Videos vorgespielt, in denen er unter seinem vollen Namen den Islam kritisierte und schlussendlich, d.h. im Januar 2016, ein Exemplar des Korans verbrannte. Schließlich hat er insbesondere glaubhaft dargetan, dass im November bzw. Dezember 2015 sowie im Februar 2016 bewaffnete Angehörige der Sicherheitskräfte in seiner elterlichen Wohnung nach ihm gesucht und sich dabei gegenüber seinem Vater auf die von ihm erstellten Videos und Briefe bezogen hatten, ohne dass sein Vater habe sagen können, ob es sich um Mitglieder der Polizei oder religiöser Milizen gehandelt habe.
Auf Basis dieser tatsächlichen Feststellungen wurde der Kläger von Mitgliedern staatlicher bzw. quasi-staatlicher Organisationen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 HS 1, Nr. 2, Abs. 3 AsylG verfolgt. Anlass hierfür waren seine atheistischen Anschauungen bzw., hiermit einhergehend, seine politische Kritik an dem Einfluss der islamischen Staatsreligion auf das irakische Staatswesen. Der Annahme einer Vorverfolgung steht auch nicht entgegen, dass der Kläger sich noch ca. zwei Monate nach der ersten Durchsuchung der elterlichen Wohnung bei seiner Tante in Bagdad aufhielt. Die anschließende Ausreise geschah nämlich nach den Feststellungen der mündlichen Verhandlung unter dem Eindruck der vorangegangenen Verfolgung. Wie der Kläger glaubhaft geschildert hat, hatte er sich in dieser Zeit nicht etwa frei auf der Straße bewegt, sondern sich bei seiner Tante versteckt gehalten, während er zeitgleich seine Ausreise vorbereitete. Im Übrigen weist das Gericht auf Basis der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse sowie der vorgenannten Erkenntnismittel darauf hin, dass dem Kläger auch bei Verneinung einer Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie im Falle einer Rückkehr in den Irak aufgrund des Inhaltes und des Ausmaßes seiner religionskritischen Äußerungen jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch Angehörige der irakischen Polizei oder religiöser Milizen drohen würde.
Die dem Kläger widerfahrene Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG. Hiernach kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, und zwar auch dann, wenn man davon ausgeht, dass der Kläger nicht von Angehörigen der regulären irakischen Sicherheitskräfte verfolgt wurde, sondern von solchen der PMF-Milizen wie etwa Asa’ib Ahl Al-Haqq oder der Mahdi-Armee. Auch bei diesen handelt es sich um staatliche Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG, weil sich der irakische Staat der PMF-Milizen zur Herrschaftsausübung bedient und ihr (kriminelles) Handeln tatenlos zur Kenntnis nimmt (s. hierzu ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 07.06.2018 – 6 A 7652/16, juris Rn. 52-61). Nichts Anderes gälte schließlich dann, wenn man davon ausginge, dass der Kläger ausschließlich durch Privatpersonen bedroht worden wäre. Der irakische Staat sowie die in § 3c Nr. 2 AsylG genannten Akteure sind nämlich erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, Atheisten im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten.
So beschreibt ACCORD in seiner Anfragebeantwortung aus September 2017, es sei angesichts der vorherrschenden Atmosphäre religiöser Auseinandersetzungen und des religiösen Fundamentalismus im Irak dringend notwendig, Atheisten, Agnostiker und Säkularisten zu schützen, da diese als Gruppe nicht anerkannt seien und keine irakischen oder internationalen Einrichtungen existierten, die sie schützen oder verteidigen würden (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Bagdad: Berichte über Verfolgungshandlungen gegen Atheisten und gegen Personen, die sich in der Öffentlichkeit islamkritisch zeigen [a-10329-1], 18. September 2017, S. 2 der Druckversion). Der Humanistische Pressedienst (HPD) ergänzt diesen Befund in seinem Artikel aus Januar 2017 wie folgt (HPD, Artikel vom 19. Januar 2017, Wagnis Atheismus im Irak, S. 3 der Druckversion):
„Dass sich im Irak die staatliche Rechtsordnung weder an der Scharia orientiert noch Atheismus unter Strafe gestellt ist, hält auch Polizeivertreter und Richter vereinzelt nicht davon ab, Atheismus als Blasphemie zu deuten. Ein Atheist, der Feindseligkeiten seiner Umgebung ausgesetzt ist, wird daher zögern, sich damit an die Polizei zu wenden. Denn es könnte ihm ergehen wie Yousef Muhammad Ali aus der Region Darbandikhan in Irakisch-Kurdistan. Der erstattete 2014 bei der Polizei Anzeige gegen mehrere Personen, die ihn aufgrund seiner atheistischen und Islam-kritischen Äußerungen mit dem Tode bedroht hatten. Statt die Täter juristisch zu belangen, fand er selber sich plötzlich wegen Blasphemie auf der Anklagebank wieder. […] Manche Eltern möchten zwar von ihren atheistischen Kindern nicht hören, es gäbe keinen Gott, tolerieren gleichzeitig aber deren Areligiosität. In anderen Familien ist man da rigoroser, wie der Fall Ahmad Sherwan aus Erbil zeigt, der 2014 durch die Medien ging. Nachdem der damals 15jährige seinem Vater in einer privaten Religionsstunde mitgeteilt hatte, er glaube nicht an Gott, benachrichtigte dieser die Polizei, die seinen Sohn in Einzelhaft nahm und tagelang folterte. Nach 13 Tagen wurde er wieder freigelassen.“
Auch das Immigration and Refugee Board of Canada betont, dass Menschen, die wegen ihrer atheistischen Auffassungen bedrängt würden, sich eher versteckten, als die Polizei um Hilfe zu bitten. Viele Polizisten und Richter würden Atheismus nämlich als nach Artikel 382 des Irakischen Strafgesetzbuchs zu ahndende Blasphemie ansehen (IRB, Iraq: Information on the treatment of atheists and apostates by society and authorities in Erbil; state protection available (2013-September 2016), S. 4). Diese Einschätzung hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll bestätigt durch Schilderung seines erfolglosen Versuches, bei der kurdischen Polizei bzw. einem dortigen Ermittlungsrichter eine Strafanzeige gegen die ihm unbekannten Verfasser eines Drohbriefes zu stellen.
Es sprechen derzeit auch keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie gegen die Vermutung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr erneut von Verfolgung bedroht wird. Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr insbesondere kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. So wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Die Kammer nimmt jedoch in ständiger Rechtsprechung an (vgl. Urteile vom 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17), dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Dabei ist vorliegend weder ersichtlich noch vorgetragen worden, dass im Fall des Klägers besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, seine Lage könne von der vorgenannten Situation abweichen. Im Gegenteil: Die bereits zitierten Beispielsfälle der Verfolgung von Atheisten in der kurdischen Autonomieregion begründen ernsthafte Zweifel daran, dass jemand, der wie der Kläger seine äußerst religionskritischen Ansichten offen zur Schau trägt, dort vor Verfolgung sicher sein könnte.
Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.
2.
Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.