Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.09.2004, Az.: 15 K 503/02

Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung bei Überschreiten des Grenzbetrags für Einkünfte und Bezüge; Kindergeld für volljährige Kinder; Möglichkeit der Kindergeldfestsetzung bei Überschreiten der Einkommensgrenze

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
21.09.2004
Aktenzeichen
15 K 503/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 30872
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2004:0921.15K503.02.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 15.12.2005 - AZ: III R 82/04

Fundstellen

  • EFG 2005, 1298-1299 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
  • NWB direkt 2005, 6

Verfahrensgegenstand

Kindergeld - Einspruchsentscheidung vom 18.11.2002

Redaktioneller Leitsatz

Die Abänderungsbefugnis nach § 70 Abs. 4 EStG besteht immer dann, wenn die Behörde erst nach Erlass der zu ändernden Kindergeldfestsetzung positive Kenntnis von dem zur Überschreitung des Grenzbetrages führenden Sachverhalt erlangt. Ein bloßes Kennen-Müssen oder Kennen-Können steht dem nachträglichen Bekanntwerden nicht entgegen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung vorliegen, weil die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) überschritten haben.

2

Die Klägerin ist Mutter eines 1981 geborenen Sohnes, der ab 1. Januar 2001 bei der Arbeitsvermittlung der Beklagten arbeitslos gemeldet war. In der Zeit vom 19. November 2001 bis 17. Mai 2002 nahm er an einer von der Beklagten geförderten Maßnahme der beruflichen Weiterbildung teil. Seit 21. Mai 2002 war er wieder arbeitslos gemeldet.

3

Am 12. Dezember 2001 stellte die Klägerin bei der Beklagten für dieses Kind einen Antrag auf Kindergeld. Darin gab sie an, dass ihr Sohn Arbeitslosengeld erhalten habe und seit August 2001 Einnahmen aus geringfügiger Beschäftigung in Höhe von 630,00 DM monatlich erziele. Auf Grund einer Kassenanordnung vom 11. Februar 2002 nahm die Beklagte die Kindergeldzahlung ab November 2001 auf, ohne die Höhe der dem Sohn zufließenden Leistungen der Arbeitsverwaltung ermittelt oder eine Berechnung über die voraussichtliche Höhe seiner Einkünfte und Bezüge angestellt zu haben. Nachdem die Beklagte die Kindergeldzahlung mit Ablauf des Monats Mai eingestellt hatte, stellte die Klägerin am 9. Juli 2002 erneut einen Kindergeldantrag. Im Zuge der daraufhin angestellten Ermittlungen gelangte die Beklagte zu der Ansicht, dass der Sohn eigene Einkünfte und Bezüge (Arbeitslohn, Unterhaltsgeld, Arbeitslosengeld) von voraussichtlich 7.933,88 EUR haben werde.

4

Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 9. August 2002 mit, dass die Kindergeldfestsetzung möglicherweise ab Januar 2002 wieder aufzuheben sei, und gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. In einem am 20. August 2002 eingegangenen Schreiben stellte sich die Klägerin auf den Standpunkt, nicht zur Rückzahlung verpflichtet zu sein, weil der Beklagten bekannt gewesen sein müsse, dass ihr Sohn während des gesamten Zahlungszeitraums Arbeitslosengeld bezogen habe. Auf Grund weiterer Ermittlungen zur Höhe der dem Sohn gewährten bzw. zustehenden Arbeitslosengeld- bzw. Arbeitslosenhilfezahlungen gelangte die Beklagte zu der Ansicht, dass die Einkünfte und Bezüge des Sohnes voraussichtlich sogar 8.630,59 EUR betragen würden.

5

Durch Bescheid vom 10. September 2002 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung rückwirkend auf und forderte das für die Zeit von November 2001 bis Mai 2002 gezahlte Kindergeld zurück.

6

Hiergegen legte die Klägerin am 19. September 2002 Einspruch ein, zu dessen Begründung sie im Wesentlichen geltend machte, im Lauf des Antragverfahrens wahrheitsgemäße und vollständige Angaben gemacht zu haben, sodass eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht in Betracht komme. Im Rahmen der Einspruchsbearbeitung gelangte die Beklagte zu der Ansicht, dass eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Monate November und Dezember 2001 nicht in Betracht komme, weil bereits aus den Angaben in dem Kindergeldantrag vom 12. Dezember 2001 ersichtlich gewesen sei, dass die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes für 2001 den Grenzbetrag überschritten. Für das Jahr 2002 sei dieÜberschreitung im Zeitpunkt der Festsetzung hingegen noch nicht in erkennbarem Umfang ersichtlich gewesen. Durch Bescheid vom 13. November 2002änderte die Beklagte den Bescheid vom 10. September 2002 dahingehend, dass die Kindergeldfestsetzung erst mit Wirkung ab Januar 2002 aufgehoben werde. ImÜbrigen wies sie den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 18. November 2002 als unbegründet zurück. Sie ermittelte nunmehr voraussichtliche Einkünfte und Bezüge von 9.000,06 EUR.

7

Hiergegen richtet sich die am 20. Dezember 2002 erhobene Klage. Die Klägerin hält an ihrer Auffassung fest, dass sie ihrer Mitwirkungspflicht in vollem Umfang nachgekommen sei und daher darauf habe vertrauen dürfen, das Kindergeld für die Zeit bis Mai 2002 zu Recht erhalten zu haben. Tatsächlich hätten die eigenen Einkünfte und Bezüge des Sohnes nicht über dem im Rahmen der Prognoseentscheidung ermittelten Betrag gelegen. Wenn die Beklagte trotz Vorliegens aller von ihr eingereichten Unterlagen zu einem "falschen" Ergebnis gelangt sei, so könne dies nicht zu ihren Lasten gehen.

8

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid zur Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 10. September 2002 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 13. November 2002 sowie den dazu ergangenen Einspruchsbescheid vom 18. November 2002 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Sie ist der Ansicht, dass die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Januar bis Mai 2002 zu Recht aufgehoben worden sei. Die bei der Prognoseentscheidung zugrunde gelegten Einkünfte und Bezüge des Sohnes hätten sich im Lauf des Jahres 2002 mit der Folge erhöht, dass der Grenzbetrag nach§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten worden sei. Nach der abschließenden Berechnung beliefen sich diese auf 8.504,99 EUR. Damit lägen die Voraussetzungen für eine Änderung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG vor. Auf ein Verschulden der Klägerin komme es nicht an.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2002 zu Recht aufgehoben.

12

1.

Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zuändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG überschreiten. Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt.

13

a)

Nach § 32 Abs. 4 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG wird Kindergeld für Kinder, die - wie der Sohn der Klägerin - das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur gewährt, wenn eine der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 bis 3 genannten Anspruchs erhaltenden Voraussetzungen erfüllt ist. In den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG ist weitere Voraussetzung für die Berücksichtigung des Kindes, dass seine eigenen Einkünfte und Bezüge einen bestimmten Grenzbetrag - im Streitjahr 2002: 7.188,00 EUR pro Kalenderjahr - nicht überschreiten (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG um ein Zwölftel (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und Bezüge, die auf diese Monate entfallen, bleiben außer Betracht (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).

14

Ob für ein über 18 Jahre altes Kind Anspruch auf Kindergeld besteht, lässt sich hiernach erst nach Ablauf des Kalenderjahres endgültig beurteilen. Denn erst dann steht objektiv fest, welche Zeiträume des Jahres bei der Ermittlung des Grenzbetrages zu berücksichtigen und wie hoch die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes in diesen Zeitabschnitten gewesen sind. Dennoch ist das Kindergeld auch im Fall volljähriger Kinder monatlich zu zahlen (§ 31 Satz 3 und § 71 EStG). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Kindergeldfestsetzungen, die vor Ablauf des Kalenderjahres erfolgt sind, aufzuheben zu können, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass das Kind mit Rücksicht auf die Höhe seiner Einkünfte und Bezüge nicht berücksichtigungsfähig ist. Schon vor Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG durch Art. 1 Nr. 21 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl. I S. 2074) hat der Bundesfinanzhof (BFH) dieÄnderungsmöglichkeit der Kindergeldfestsetzung daher sowohl für den Fall bejaht, dass sich die Überschreitung im Laufe eines Kalenderjahres abzeichnete, als auch für den Fall, dass sich die Überschreitung nach Ablauf eines Kalenderjahres herausstellte (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 83/98 und VI R 55/00, BStBl. II 2001, 85 und 86). Offen gelassen wurde lediglich die Frage, ob sich die Änderungsbefugnis aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) - entweder allein oder in Verbindung mit § 175 Abs. 2 AO - oder aus § 70 Abs. 2 EStG ergab.

15

b)

Mit der Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG wollte der Gesetzgeber dieÄnderungsbefugnis auf eine eindeutige gesetzliche Grundlage stellen. Nach der bis zur Einfügung des § 70 Abs. 4 EStG bestehenden Gesetzeslage hat der BFH dieÄnderungsmöglichkeit auch für den Fall bejaht, dass die Behörde bereits im Zeitpunkt der ursprünglichen Festsetzung Anlass hatte, am Bestehen des Kindergeldanspruchs zu zweifeln; offen gelassen wurde die Änderungsbefugnis lediglich für den Fall, dass der Behörde bei feststehendem Sachverhalt ein reiner Rechtsanwendungsfehler unterlaufen ist (BFH-Urteil in BStBl. II 2002, 86, 87 unter 2. a) a.E.). Dieser Rechtsprechung ist auch bei Auslegung des § 70 Abs. 4 EStG Rechnung zu tragen. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die nach früherem Recht gegebenen Änderungsmöglichkeiten mit der neu eingefügten Vorschrift einschränken wollte.

16

Daraus folgt, dass die Änderungsbefugnis nach § 70 Abs. 4 EStG immer dann besteht, wenn die Behörde erst nach Erlass der zu ändernden Kindergeldfestsetzung positive Kenntnis von dem zur Überschreitung des Grenzbetrages führenden Sachverhalt erlangt. Ein bloßes Kennen-Müssen oder Kennen-Können steht dem nachträglichen bekannt werden nicht entgegen. Anders als im Fall des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO kann dieÄnderungsbefugnis bei einem Verstoß gegen die Ermittlungspflicht auch nicht unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen werden. Denn selbst bei optimaler Ausschöpfung aller der Behörde zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten bleibt das Bestehen des Kindergeldanspruchs für ein volljähriges Kind bei einer vor Ablauf des Kalenderjahres erfolgenden Festsetzung objektiv ungewiss.

17

c)

Im Streitfall hatte die Beklagte bei der - einer Kindergeldfestsetzung gleichstehenden (§ 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) - Aufnahme der Kindergeldzahlung am 11. Februar 2002 keine positive Kenntnis davon, wie hoch die Einkünfte und Bezüge des Sohnes waren. Obwohl die von der Klägerin in ihrem Kindergeldantrag gemachten Angaben dazu Anlass gegeben hätten, hat die Beklagte darauf verzichtet, die Höhe des Arbeitslosengeldes oder anderer dem Sohn zustehender Leistungen der Arbeitsverwaltung durch amtsinterne Nachfragen zu ermitteln. Erst aufgrund des am 9. Juli 2002 gestellten neuen Kindergeldantrages der Klägerin hat sie von diesen nahe liegenden Erkenntnismöglichkeiten Gebrauch gemacht und überhaupt erstmals eine Prognoseberechnung zur Höhe der Einkünfte und Bezüge des Sohnes erstellt.

18

d)

Auf Grund ihrer nachträglichen erlangten Kenntnisse ist die Beklagte im Ergebnis zu Recht zu der Auffassung gelangt, dass die Einkünfte und Bezüge des Sohnes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG übersteigen und für ihn daher ab Januar 2002 kein Kindergeldanspruch mehr besteht.

19

2.

Hiernach ist die Klage abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die Zulassung der Revision auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Überschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich bekannt wird, hat grundsätzliche Bedeutung.