Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 21.11.2002, Az.: 1 B 67/02
Aktualität; aktuelle Beurteilung ; Aussagekraft; Auswahlentscheidung; Auswahlermessen; Auswahlverfahren; Bestenauslese; Dienstalter; dienstliche Beurteilung; Eignung; einstweilige Anordnung; Ermessen; Gesamturteil; Hilfskriterien; Lebensalter; Qualifikation; Regelbeurteilung; Vergleichbarkeit; Verwertbarkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 21.11.2002
- Aktenzeichen
- 1 B 67/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 41902
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs 1 S 1 VwGO
- § 7 BRRG
- § 8 BG ND
- Art 33 Abs 2 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Annahme, bei Beurteilungsgleichstand sei "zwingend" auf das Dienstalter zurückzugreifen, stellt einen Auswahlfehler dar.
2. Vor Rückgriff auf Hilfskriterien wie Dienst- u. Lebensalter sind Eignungsunterschiede der Bewerber auszuloten.
3. Bei älteren Regelbeurteilungen mit kaum messbaren Eignungsunterschieden ergibt sich die Notwendigkeit aktueller Bedarfsbeurteilungen dann, wenn sich die aktuelle Tätigkeit der Bewerber erheblich unterscheidet.
Gründe
Die Auswahlentscheidung der Antragsgegnerin unterliegt als Akt wertender Erkenntnis ganz grundsätzlich zwar nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (vergl. Nds. OVG, Beschluss vom 11.8.1995 - 5 M 2742/95 - m.w.N.), hat sich jedoch - wegen der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Art. 33 Abs. 2 GG - an dem das gesamte Beamtenrecht prägenden Leistungsgrundsatz (§ 7 BRRG, § 8 NBG) in herausragender Weise zu orientieren (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 2.6.1995 - 5 M 262/95). Bei der Beurteilung der Frage, welcher Beamte von mehreren Bewerbern am besten geeignet und befähigt sowie am leistungsstärksten ist, hat sich der Dienstherr deshalb zunächst einmal maßgebend an den letzten dienstlichen Beurteilungen, die vor der Auswahlentscheidung angefertigt worden sind, und deren Gesamturteilen zu orientieren (Nds. OVG, Beschlüsse vom 2.6.1995 - 5 M 262/95 - und vom 11.8.1995 - 5 M 7720/94 - , veröff. in NdsVBl. 1995, 255). Bei unterschiedlichen Notenstufen ist grundsätzlich der Bewerber mit der besseren Gesamtnote auszuwählen. Sind die Bewerber im Wesentlichen gleich gut beurteilt worden, dann kann - mangels einer weiteren Differenzierung auf der Grundlage der Gesamturteile - der Dienstherr weitere, den Leistungsgrundsatz ihrerseits jedoch in vollem Umfang wahrende (sachgerechte) Kriterien oder Auswahlmethoden heranziehen (sogen. Hilfskriterien). Bei der Bestimmung dieser nachrangigen Auswahlkriterien und der auf ihrer Grundlage sodann vorgenommenen Auswahl erlangt die Tatsache, dass es sich bei der Auswahl von Bewerbern um einen Entscheidungsakt handelt, etwas größere Bedeutung als unter der unmittelbaren Ausstrahlung des Leistungsgrundsatzes, so dass dem Dienstherrn ein entsprechend weites Ermessen zuzubilligen ist (vergl. Nds. OVG, Beschluss vom 11.8.1995 - 5 M 7720/94 -, aaO.). Allerdings darf auch hierbei das Leistungsprinzip des Grundgesetzes nicht in Frage gestellt werden (Nds. OVG, Beschluss vom 5.7.1989 - 5 M 26/89 - m.w.N.). Ein Anspruch darauf, dass bei im Wesentlichen gleichen Beurteilungen gerade das Lebensalter oder aber das Dienstalter als maßgebliches Hilfskriterium heranzuziehen ist, besteht nicht (Nds.OVG, Beschluss vom 11.8.1995 - 5 M 772o/94 - , aaO.).
Die von der Antragsgegnerin getroffene Auswahlentscheidung genügt diesen rechtlichen Anforderungen nicht:
1. Die zunächst einmal heranzuziehenden letzten Beurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen lauten beide auf „über den Anforderungen“, wobei die in Klammern hinzugefügte Gesamtpunktzahl für den Antragsteller wie auch für den Beigeladenen auf 5,08 lautet. Die beiden zurückliegenden Beurteilungen weisen nur geringe Eignungsdifferenzen auf, so dass sich die Antragsgegnerin an diesen geringfügigen Unterschieden nicht mehr orientieren konnte.
2. Allerdings ergeben sich Zweifel hinsichtlich der Vergleichbarkeit und Verwertbarkeit dieser beiden miteinander in Bezug gesetzten Beurteilungen deshalb, weil die dem Antragsteller übertragene Tätigkeit sich von der des Beigeladenen sachlich unterscheidet: Dem Antragsteller ist zusätzlich - noch neben seiner, mit der des Beigeladenen verglichenen hauptamtlichen Tätigkeit - die Vertretung der Leitung des mittleren JVD in Abwesenheitsfällen (Krankheit, Urlaub) übertragen worden, was von der Antragsgegnerin „nicht unterschiedlich zu seinen Gunsten“ bewertet worden ist (S. 2 unten des Schrifts. v. 25.9.2002). Es unterliegt nach Ansicht der Kammer jedoch erheblichen Zweifeln, ob so verfahren werden konnte. Denn eine solche zusätzliche (aktuelle) Tätigkeit des Antragstellers kann im Rahmen eines Bewerbervergleichs, bei dem es „kaum messbare“ Eignungsdifferenzen gibt (S. 3 des Vermerks v. 1.8.2002), nicht einfach mit einer nivellierenden Bewertung außer Betracht gelassen werden. Bei dieser Lage der Dinge war es möglicherweise schon fehlerhaft, angesichts der gleichen Vollnotenstufe in den letzten Beurteilungen davon auszugehen, dass die beiden Bewerber leistungsmäßig als im Wesentlichen noch gleich einzuschätzen sind.
3. Weitere Zweifel an der Verwertbarkeit der miteinander in Bezug gesetzten Beurteilungen ergeben sich hier daraus, dass die letzte Beurteilung des Antragstellers vom 12. September 2000 stammt und die des Beigeladenen vom 12. Januar 2001. Damit sind beide Beurteilungen im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung - im August 2002 - schon verhältnismäßig alt gewesen (die des Antragstellers schon nahezu 2 Jahre alt), so dass es angezeigt gewesen sein könnte, anlässlich der Stellenvergabe neuere Beurteilungen zu fertigen. Nach der Entscheidung des OVG Schleswig, NVwZ-RR 1999, S. 652 [OVG Schleswig-Holstein 07.06.1999 - 3 M 18/99] ist es nämlich so, dass von der erforderlichen Aktualität einer dienstlichen Beurteilung dann nicht mehr ausgegangen werden kann, wenn diese bei der Auswahlentscheidung ein Alter von mehr als einem Jahr erreicht hat. Nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts lässt sich zwar keine solche „starre zeitliche Grenze“ ziehen, bei der die erforderliche Aktualität einer Beurteilung verloren geht, aber danach ist es doch so, dass bei länger zurückliegenden Beurteilungen die Gefahr wächst, dass die betreffende Beurteilung keine hinreichende Aussagekraft mehr für den Vergleich der miteinander konkurrierenden Bewerber hat (vgl. Beschluss des Nds. OVG v. 5.8.1999 - 2 M 2045/99 - zu 19 Monate alten Beurteilungen). Im Beschluss des Nds. OVG v. 22. Febr. 2000 heißt es:
„Es kann offenbleiben, ob der Umstand, dass der Stichtag der genannten Regelbeurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen (...) im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung (...) nahezu zwei Jahre zurücklag, allein schon ausreicht, die Verlässlichkeit der Beurteilungen als Grundlage der Auswahlentscheidung in Frage zu stellen (vgl. zu dieser Problematik auch Nds. OVG, Beschl. v. 19.1.2000 - 5 M 3424/99 -; Beschl. v. 18.11.1999, 5 M 2989/99; Beschl. v. 11.11.1999 - 5 M 3912/99 -; Beschl. v. 5.8.1999, - 2 M 2045/99 -; Beschl. v. 18.3.1999 - 5 M 4824/98 -). Denn die zu diesem Zeitablauf noch hinzutretenden weiteren besonderen Umstände dieses Einzelfalles gebieten es, neue Beurteilungen zu erstellen, weil die der Auswahlentscheidung zu Grunde gelegten Beurteilungen eine vergleichbare Bewertung der Qualifikation der Bewerber nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung nicht mehr ermöglichen.“
(so S. 4 d. Beschl-Abdr . des Nds. OVG v. 22. Febr. 2000 - 2 M 3526/99 -).
4. Nach den Unterlagen und dem Vortrag der Antragsgegnerin ist bei Annahme von im Wesentlichen gleichen und noch aussagekräftigen Beurteilungen beider Bewerber eine Differenzierung dann in der Weise versucht worden, dass nunmehr zunächst das jeweilige Ergebnis der Laufbahnprüfung, das hier - da es im Unterschied zum Beigeladenen, der nur ein „befriedigend“ erreicht hatte, auf „gut“ lautete - zugunsten des Antragstellers gesprochen hätte, mit der Erwägung ausgeblendet wurde, dieses sei „wegen der Länge der geleisteten Dienstzeit“ verbraucht. Es komme vorrangig auf die „in der beruflichen Praxis aktuell erzielten dienstlichen Leistungen“ an (vgl. dazu jedoch oben 2). Im direkten Vergleich der beiden miteinander konkurrierenden Bewerber ist dann dem Dienstalter das hier entscheidende Gewicht beigemessen worden, u.zw. mit folgender Erwägung:
„Bei diesem aktuellen Leistungsgleichstand und bei der äußerst geringfügigen und kaum messbaren in der Vergangenheit liegenden Eignungsdifferenzen ist zwingend das Dienstalter mit zu würdigen und zu berücksichtigen.“ (Bl. 22 unten der VerwV.)
Da der 1947 geborene Beigeladene nach diesem Kriterium über ein 12 Jahre höheres Dienstalter verfügte und außerdem noch 7 Jahre lebensälter ist als der 1954 geborene Antragsteller, hiernach also dem Antragsteller vorging, fiel die Auswahlentscheidung zugunsten des Beigeladenen und nicht des Antragstellers aus, obgleich dieser im Rahmen des Vergleichs eine zusätzliche, ihn vom Beigeladenen abhebende Tätigkeit (s.o.) und eine deutlich bessere Prüfungsnote seiner Laufbahnprüfung in Wolfenbüttel aufzuweisen hat als der Beigeladene.
Die auf diesem Wege getroffene Auswahlentscheidung ist bei Würdigung aller Umstände wegen Verstoßes gegen den Leistungsgrundsatz (Art. 33 GG, §§ 7 BRRG, 8 NBG) rechtswidrig. Dies vor allem deshalb, weil die Antragsgegnerin zu Unrecht davon ausgegangen ist, bei derart geringen Eignungsdifferenzen wie hier sei „zwingend“ auf das Dienstalter abzustellen. Auf diese Weise hat die Antragsgegnerin eine Bindung ihres Auswahlermessens angenommen, die so nicht besteht. Vielmehr verhält es sich so, dass in Fällen wie dem vorliegenden gerade nicht sogleich das Dienst- und Lebensalter einbezogen werden kann, sondern zunächst einmal noch Eignungsunterschiede auszuloten sind. Insoweit hat der VGH Kassel (NVwZ-RR 1994, 347) ausgeführt:
„Das Abstellen auf Hilfskriterien muß indessen die Ausnahme bleiben, jedenfalls dann, wenn diese leistungsfremder Natur sind. Kommt bei Beförderungen Hilfskriterien wie z.B. Beförderungsdienstalter, Datum der letzten Fachprüfung oder Lebensalter durch die Ausgestaltung von Beurteilungsrichtlinien in der Verwaltungspraxis ausschlaggebende Bedeutung zu, ist dies mit dem Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 II GG, § 8 I HessBG) nicht zu vereinbaren (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 2.7.1990 - 1 TG 1376/90). Voraussetzung ist daher, dass der Dienstherr sich zuvor bemüht hat, mit Hilfe hinreichend differenzierender Beurteilungen anhand der rechtlich gebotenen Leistungskriterien eine Bestenauslese vorzunehmen.“
Auch die Kammer ist der Auffassung, dass der Rückgriff auf das Kriterium gerade des Dienstalters (und sodann Lebensalters, vgl. Bl. 23 oben VerwV.), das nur noch einen geringen Bezug zur Leistung aufweist, nicht schon dann möglich ist, wenn zuvor nicht einmal der - hier mögliche - Versuch gemacht worden ist, zwischen mehreren Bewerbern anhand von leistungsnahen bzw. -näheren Kriterien eine Unterscheidung zu treffen. Insoweit hätte hier die Möglichkeit bestanden, im Rahmen der Auswahlentscheidung z.B. heranzuziehen, dass der Antragsteller eine zusätzliche, offenbar verantwortungsvolle Aufgabe noch neben seiner hauptamtlichen Tätigkeit ausfüllt und er 1981 eine deutlich bessere Prüfungsnote als der Beigeladene in der Laufbahnprüfung in Wolfenbüttel erreicht hatte. Diese wegen angeblichen Verbrauchs nach ca. 20 Jahren auszublenden, sodann aber auf ein noch weiter zurückreichendes Dienst- und sogar noch Lebensalter (Geburt des Beigeladenen 1947 und Geburt des Antragstellers 1954) zurückzugreifen, ist mit dem Leistungsgrundsatz des Art. 33 GG nicht vereinbar.
Nach Lage der Dinge ist es hier schließlich auch so, dass der Antragsteller gute Chancen hätte, bei Vermeidung der dargestellten Auswahlfehler selbst ausgewählt zu werden. Denn die hier festzustellenden Auswahlfehler einschließlich des Alters der Beurteilungen haben ein „gewisses Gewicht“ und bergen in sich die „Möglichkeit der Kausalität des Ermessensfehlers für das Ergebnis des Auswahlverfahrens“ (Beschluss d. Nds. OVG v. 18.3.1999, Nds. Rpfl. 2000, S. 76).