Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 30.11.2006, Az.: 2 A 429/05
Anpassungsstörung; außerschulische Therapie; Eingliederungshilfe; Einzelförderung; Entwicklungsstörung; Grundschule; HSP 5-7; Intelligenz; Intelligenztest; Jugendhilfe; Kostenübernahme; Legasthenie; Legasthenietherapie; Lese-Rechtschreibschwäche; Rechtschreibstörung; seelische Behinderung; Teilhabebeeinträchtigung; Teilhabegefährdung; Teilleistungsstörung; WRT 4/5
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 30.11.2006
- Aktenzeichen
- 2 A 429/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 53247
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 35 Abs 1 SGB 8
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Verpflichtung des Beklagten, die Kosten der bei der Klägerin durchgeführten außerschulischen Legasthenietherapie zu übernehmen.
Die 1993 geborene Klägerin besuchte im Schuljahr 2003/2004 die 4. Klasse der I. (Grundschule) in G.. Seit dem Schuljahr 2004/2005 wird sie auf der J. -Gesamtschule (IGS) in G. beschult.
Spätestens im Frühjahr 2002 wurden bei der Klägerin Probleme im Lesen und bei der Rechtschreibung festgestellt. Die Beklagte bewilligte darauf hin zunächst mit Bescheid vom 12.12.2002 die Kostenübernahme für eine ambulante Einzelförderung durch Legasthenietherapie über 40 Stunden, die bei der Legasthenietherapeutin K. aus G. durchgeführt wurden, und sodann mit Bescheid vom 13.01.2004 auf einen Wiederholungsantrag vom 08.07.2003 weitere 40 Therapiestunden.
Nachdem sich am Ende des zweiten Behandlungsabschnittes gezeigt hatte, dass die Klägerin immer noch große Probleme beim Lesen und in der Rechtschreibung hatte, beantragten die Eltern der Klägerin unter dem 21.04.2005 unter Vorlage eines Berichts des die Klägerin seit April 2002 behandelnden Psychologischen Psychotherapeuten L. aus G. vom 16.04.2005 die Fortsetzung der Leistungsbewilligung. In diesem Bericht wird das Vorliegen einer gravierenden Lese- und Rechtschreibbeeinträchtigung und eine hierdurch verursachte erhebliche psychische Belastung mit Anpassungsstörung festgestellt und deshalb - bei Behandlerwechsel - die Fortsetzung der Legasthenietherapie im Umfang von 40 Behandlungssitzungen empfohlen. Der Diplompsychologe hatte die Lesefähigkeiten der Klägerin mit dem Züricher Lesetest überprüft und einen Prozentrang von 2 - 5 ermittelt. Die Rechtschreibfertigkeiten der Klägerin wurden mit dem Rechtschreibtest WRT 4/5 getestet, es ergab sich ein Prozentrang von 3 und ein T-Wert von 30. Das Ergebnis eines K-ABC-Intelligenztests wurde nicht aktenkundig.
Die Beklagte übermittelte den Vorgang daraufhin unter Beifügung der in den vorangegangenen Bewilligungsverfahren eingeholten Schulberichte der I. zur Feststellung der Voraussetzungen der Leistungsgewährung an die Fachstelle Diagnostik der JSN. Diese holte einen Elternfragebogen und einen aktuellen Schulbericht bei der IGS über die Befindlichkeit und die Leistungen der Klägerin ein. Gleichzeitig begutachtete sie die Klägerin mit dem Knuspels Lesetest, wobei der Kläger Leistungen erzielte, die mit einem Prozentrang von 95 beim Hörverstehen und 27,5 (=T-Wert von 45) im Leseverstehen einzustufen seien, dem Rechtschreibtest Hamburger Schreibprobe (HSP 5-9), bei dem die Klägerin einen Prozentrang von 17 (T-Wert von 40) erreicht habe und dem Intelligenztest HAWIK III, dessen Ergebnis zu einem T-Wert von 45 geführt habe. Die Fachstelle empfahl die Ablehnung des Antrages, da die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten der Klägerin nur unwesentlich von ihren allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten abweichen würden. Ob überhaupt vor Therapiebeginne eine Legasthenie vorgelegen habe, könne mangels Vorliegen von Ausgangswerten nicht festgestellt werden.
Mit Bescheid vom 13.09.2005 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme für eine weitere Legasthenietherapie unter Wiederholung der Angaben der Fachstelle ab.
Hiergegen hat die Klägerin am 30.09.2005 Klage erhoben.
Sie rügt die Sachverhaltsermittlung der Fachstelle als unsachgemäß. Der von ihr verwendete Rechtschreibtest, die HSP 5-9, sei nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft um 5 T-Punkte „zu leicht“. Demgegenüber sei der WRT 4/5, aufgrund dessen sich eine - ausreichende - T-Wert-Differenz von 15 ergebe, nach wie vor ein geeigneter und nicht veralteter Test. Bei der Klägerin habe bereits 2002 aufgrund der Legasthenie eine bis heute andauernde Anpassungsstörung vorgelegen, die eine Teilhabegefährdung indiziere. Bei ihr sei übertrotziges Verhalten, aber auch eine Überanpassung und Angst vor Mitschülern festzustellen. Hierzu habe der Psychologe L. sich in einer Stellungnahme vom 16.10.2006 umfassend geäußert, der auch darauf hingewiesen habe, dass flankierend zur Legasthenie noch eine partielle visuelle Teilleistungsstörung und eine Beeinträchtigung der Phonemreproduktionsleistungen vorgelegen habe. Zudem weise die Klägerin ein divergentes Intelligenzprofil auf, was eine eindeutige Bewertung ihrer Leistungsmöglichkeiten erschwere. Dass sie, die Klägerin, an nachhaltigen psychischen und Verhaltensauffälligkeiten leide, die aus der Legasthenie abzuleiten seien, werde unter Beweis des Psychologen L. gestellt.
In der Schule hätte sich die Klägerin stark zurück gezogen. Mehr als eine Freundin - die ebenfalls erhebliche soziale Probleme habe - hätte sie anfangs nicht gefunden. Privat hätte sie ihre Freizeit meist bei ihrer Großmutter verbracht und ansonsten nur mit wesentlich jüngeren Kindern gespielt und gleichaltrige Mädchen gemieden. Erst jetzt nach Klageerhebung, also 2 Jahre nach dem Schulwechsel auf die IGS und nach Abschluss der streitbefangenen weiteren 40 Therapieeinheiten, die bei der Therapeutin M. in G. absolviert worden seien, hätten sich die Anpassungsschwierigkeiten deutlich gebessert. Die Klägerin habe zwei gute Freundinnen gefunden und könne auch besser mit Fehlern beim Lesen umgehen. Dies alles belege die Teilhabegefährdung der Klägerin. Demgegenüber seien die Anforderungen, die die Kammer einer Annahme einer Teilhabegefährdung zugrunde lege und die im Grundsatzurteil vom 26.01.2006 ( 2 A 142/05) dargelegt seien, überspannt.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 13.09.2005 zu verpflichten, die Kosten der Fortsetzung der Legasthenietherapie bei der Therapeutin M. in Höhe von 40 Stunden a 45,00 € zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie meint, dass im Zeitpunkt des Antrages bei der Klägerin keine Legasthenie mit Krankheitswert vorgelegen habe. Zudem sei eine Teilhabegefährdung der Klägerin zu keinem Zeitpunkt festzustellen gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Gerichtsakte im Übrigen Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 13.09.2005 ist im Ergebnis rechtmäßig, so dass die Klägerin einen Anspruch auf Förderleistungen für weitere 40 Stunden Legasthenietherapie durch den Beklagten nicht hat (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, denn in Fällen, in denen um die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII gestritten wird, endet hier der Entscheidungszeitraum des Gerichts (vgl. Urteil der Kammer vom 29.6.2006 -2 A 155/05-, im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 8.6.1995 -5 C 30.93-, FEVS 46, 94). Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Legasthenietherapie aus Mitteln der Jugendhilfe ist mithin § 35 a Abs. 3 SGB VIII in der bis zum 30.09.2005 geltenden Fassung vom 30.03.2005 i.V.m. §§ 53 Abs. 4, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 3 EingliederungshilfeVO. Gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII waren zur Überzeugung des Gerichts weder bei Antragstellung im April 2005 noch bei der Bescheidung im September 2005 erfüllt. Das Vorliegen einer Lese- und Rechtschreibstörung bei der Klägerin hat ihre Testung in der Fachstelle Diagnostik am 21.07.2005, gegen deren Ergebnisse das Gericht - bis auf Bedenken hinsichtlich der Eignung des verwendeten Rechtschreibtests - keine grundsätzlichen Einwände erhebt, nicht bestätigt.
Eine seelische Störung, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des 53 Abs. 1 SGB XII zur Folge haben kann, liegt vor bei
1. körperlich nicht begründbaren Psychosen,
2. seelischen Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen,
3. Suchtkrankheiten,
4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.
Problematisch an diesem Definitionskatalog, wie auch an der gesetzlichen Definition der Behinderung in § 2 SGB IX, ist, dass der Begriff „seelische Behinderung“ ein sozialrechtlicher Begriff und keine medizinische Diagnose ist. Zum anderen handelt es sich bei den in § 3 Eingliederungshilfe-Verordnung aufgeführten Begriffen um erwachsenenspezifische Begriffe, die zudem aus fachlicher Sicht mittlerweile überholt scheinen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 20.02.2002 - 12 A 5322/00 -, NDV-RD 2002, 84; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, § 35 a KJHG Rn. 14; Fahlbusch, Gutachten vom 04.01.2005 für den DV „Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendhilfe mit Autismus“, jeweils m.w.N). Deshalb wird zur weiteren Diagnose einer seelischen Behinderung auf die internationale Klassifikation der WHO (ICD-10) zurückgegriffen. Dies entspricht auch der Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. Regierungsbegründung des SGB IX, BT-Ds 14/5074/2001, S. 121).
Insoweit hat das Gericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 26.01.2006 -2 A 161/05- (veröffentlicht in der Internetentscheidungssammlung des Nds. Oberverwaltungsgerichts) ausgeführt:
„In Abschnitt V F 81 der ICD-10 werden umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten definiert. Danach handelt es sich bei allen diesen Störungen, seien es Lese- und Rechtschreibstörung (F 81.0), isolierte Rechtschreibstörung (F 81.1), Rechenstörung (F 81.2), kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (F 81.3), sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F 81.8) oder Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, die nicht näher bezeichnet werden (F 81.9) um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit aufzufassen. Bei der hier im Streit befindlichen isolierten Rechtschreibstörung (F 81.1) handelt es sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeit besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass es im Fall des Klägers trotz der Tatsache, dass er in der Vergangenheit auch eine Lesestörung hatte, nur um die Frage geht, ob bei ihm eine isolierte Rechtschreibstörung vorliegt. Die Lesestörung ist ausweislich der vorliegenden Stellungnahmen weitestgehend behoben. Damit es sich um eine isolierte Rechtschreibstörung im Sinne der ICD-10 handelt, darf die Entwicklungsbeeinträchtigung nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar sein.
Die Klassifikationen nach ICD-10 enthalten indes keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der isolierten Rechtschreibstörung oder der Lese-Rechtschreibstörung. Insoweit legt die Kammer ihrer Entscheidung die fachlich anerkannten Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde. Diese ergeben sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 25. Juni 2004, gültig bis 2008 (zitiert nach Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften -AWMF- online). Danach beruht die Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörungen auf dem durch Remschmidt, Schmidt und Poustka 2001 auch im deutschsprachigen Raum etablierten multiaxialen Klassifikationsschema (MAK) für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (so auch Jans u.a., a.a.O., Rn. 15; Fahlbusch, a.a.O.; Mehler-Wex/ Warnke, Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer seelischen Behinderung (§ 35 a SGB VIII), SGB VIII-online-Handbuch).
Die Achse 1 betrifft das klinisch-psychiatrische Syndrom, was auf der ausführlichen Anamneseerhebung und dem psychopathologischen Untersuchungsbefund des Kindes oder Jugendlichen basiert. Die Achse 2 erfordert die Abklärung umschriebener Entwicklungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie unter Zuhilfenahme der schulischen Stellungnahmen und Zeugnisnoten (deutlich schlechtere Noten in Deutsch bzw. Mathematik als in den übrigen Fächern) und zum anderen spezieller Testungen durch standardisierte Rechtschreibtests (z. B. WRT 3+ und/oder eines standardisierten Lesetest mit einem Prozentrang <= 10 % (Richtwert). Auf Achse 3 wird das Intelligenzniveau angegeben, festgestellt durch psychologische Intelligenz- und Leistungsdiagnostik (z. B. HAWIK oder CFT 20). Werte im CFT 1 und CFT 20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 -95) erfordern eine weitere Überprüfung durch eines der übrigen Testverfahren, um eine Intelligenzminderung sicher auszuschließen. Das Intelligenzniveau ist auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse 2), da diese einen IQ >= 70 voraussetzt. Außerdem kann eine Teilleistungsstörung danach im schulischen Bereich nur dann attestiert werden, wenn die Ergebnisse aus den Rechen-, Lese- und Rechtschreibtests in Bezug zum Intelligenzniveau gesetzt wurden. Die T-Wert-Diskrepanz zwischen Gesamt-IQ und den jeweiligen Testergebnissen im Lesen/Schreiben/Rechnen sollte >= 12 Punkte betragen bzw. eine Diskrepanz von mind. 1,5 Standardabweichungen sollte bestehen. Auf der Achse 4 sollen organische Ursachen der psychischen Störung ausgeschlossen werden. Achse 5 gibt die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände an, die das Kind im Zeitraum der letzten 6 Monaten vor Behandlungszeitpunkt direkt und durchgehend betroffen haben. Auf der Achse 6 werden schließlich die Art der Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen zur Familie, Gleichaltrigen und Außenstehenden, die sozialen Kompetenzen, schulische/berufliche Adaption, Interessenlage und Freizeitaktivitäten beurteilt.
Gelegentlich werden geringfügig abweichende Diagnosekriterien für sachgerecht gehalten. So sieht R. (Legasthenie Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, Vortrag auf der Jahrestagung des BKJPP vom 15.11.2002 in Stuttgart) die sog. T-Wert-Differenz von 12 kritisch, misst ihr aber dennoch richtungsweisende Bedeutung zu. Harnach-Beck (NDV 1998, 230, 231) hält eine Standardabweichung von 1,0 für ausreichend. Dem folgt die Kammer im Interesse einer einheitlichen, fachlich anerkannten Diagnosepraxis im Grundsatz ebenso wenig wie in der therapeutischen Praxis vertretenen Ansätzen, die darüber hinaus auf die Art der Rechtschreibfehler sowie auf den sog. Mehrfachfehlerquotienten, der angibt, wie viele Fehlentscheidungen ein Kind in einem falsch geschriebenen Wort macht, abstellen (vgl. interessanter Weise die im Internet nachgewiesene Ansicht des den Kläger behandelnden Therapeuten, www.lrs-bartels. de/diagnose). Diese abweichenden Ansätze mögen allenfalls zu einer besonders kritischen Würdigung der auf der Basis der Leitlinien gefundenen Ergebnisse Anlass geben.
Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Teilleistungsstörung sind nach den genannten fachlichen Standards im wesentlichen drei Faktoren.
Zum einen der bei den durchgeführten Lese-, Rechen- und Rechtschreibtests erzielte Prozentrang. Zweitens das durch anerkannte Testverfahren ermittelte Intelligenzniveau sowie drittens die Differenz zwischen ermitteltem Teilleistungsvermögen und Intelligenzvermögen, wobei einerseits auf eine rechnerische Differenz (T-Wert und Standardabweichung) und andererseits auf eine Diskrepanz zwischen den Schulnoten in den Fächern mit Teilleistungsstörung einerseits und solchen ohne eine Störung andererseits abgestellt wird.“
Hieran hält der Einzelrichter auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin erhobenen Einwände fest. Dass für die Diagnose einer Teilleistungsstörung auf die internationale Klassifikation der Krankheiten abzustellen ist, wurde nunmehr durch die mit Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe - KICK - vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729) eingeführte Regelung in § 35 a Abs. 1 a Satz 2 SGB VIII bestätigt. Insbesondere bleibt es bei der Auffassung, dass bei einem von dem Kind oder Jugendlichen in einem anerkannten Schreibtest erzielten Prozentrang der Rechtschreibleistung von deutlich über 10 von einer Rechtsschreibstörung mit Krankheitswert im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII auch dann nicht ausgegangen werden kann, wenn die sog. T-Wertdifferenz, d.h. die Differenz der durch anerkannte Tests ermittelten Werte für die Rechtschreibleistung einerseits und die allgemeine Intelligenzleistung andererseits, mehr als 12 Punkte (hier: 22) beträgt. Diese Annahme wird durch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, die den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zusammenfasst bestätigt. Diese Leitlinien sind am 25.06.2004 erstellt worden und ihre Überprüfung ist erst im Jahre 2008 geplant. Sie geben den aktuellen Erkenntnisstand wider.
Gemessen an diesen diagnostischen Vorgaben kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII seelisch behindert war oder ihr eine derartige seelische Behinderung im Zeitpunkt der Bescheidung des Antrages drohte. Die Ergebnisse des Lesetests der Fachstelle sind von der Klägerin nicht substantiiert angegriffen worden, das Gericht nimmt daher insoweit gem. § 117 Abs. 5 VwGO auf den angefochtenen Bescheid Bezug. In dem von der Fachstelle durchgeführten Rechtschreibtest erreichte die Klägerin einen Prozentrang von 17 und damit deutlich über 10. Die abweichenden Feststellungen des Psychologen L. beruhen auf dem Test WRT 4/5, der infolge veralteter Normierung allgemein nicht mehr anerkannt ist. Die Testergebnisse entsprechen daher nicht den oben dargelegten Vorgaben und sind damit bei der Anwendung des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII nicht zu verwenden. Soweit die Klägerin Bedenken gegen den in der Fachstelle verwendeten Rechtschreibtest HSP 5-9 erhebt und ausführt, dieser Test sei „zu leicht“, teilt das Gericht diese Bedenken und nimmt Bezug auf die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 26.10.2005 in das Verfahren eingeführten Ausführungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg. In dem Ausdruck einer Internet-Veröffentlichung wird nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass die HSP 5-9 Ergebnisse liefern würde, die um etwa 5 Punkte gegenüber dem korrekt zu ermittelnden T-Wert zu hoch lägen. Deshalb ist der von der Fachstelle errechnete T-Wert von 40 um 5 Punkte abzusenken. Setzt man dieses Ergebnis in Relation zum T-Wert des Intelligenztests HAWIK III, der 45 beträgt, erhält man eine T-Wert-Differenz von 10, die nicht ausreicht, um die Annahme einer Rechtschreibstörung zu stützen. Da der von der Klägerin in der HSP 5-7 erreichte Prozentrang mit 17 - selbst bei einem vorzunehmenden Abschlag - deutlich über 10 liegt, geht das Gericht nicht der Frage weiter nach, ob die Ergebnisses des Intelligenztests entsprechend den Bedenken des Psychologen L. ohne Abstriche zu übernehmen sind.
Aber auch dann, wenn man mit der Klägerin davon ausginge, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII im Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Antrag vorlagen, hätte die Klage - was die Entscheidung selbstständig trägt - keinen Erfolg. Denn auch das weitere Tatbestandsmerkmal der Norm, eine Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gemeinschaft (§ 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII) liegt nicht vor.
Die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird bei Teilleistungsstörungen - wie der Legasthenie - nach der Intensität der Auswirkungen der seelischen Störung abgegrenzt. Es ist zu fragen, ob die seelische Störung so intensiv ist, dass sie bloße Schulprobleme und Schulängste, die andere Kinder teilen, in behinderungsrelevanter Weise hinausgeht. Dies ist z. B. bei einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, die zum Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule geführt hat bzw. zu führen droht der Fall (vgl. auch Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26.11.1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487 ff.). Erforderlich ist also, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Kindes vorliegt oder droht. Daraus folgt, dass bei bloßen Schulproblemen wie sie auch viele andere Kinder haben, z. B. Gehemmtheit, Versagensängsten oder Schulunlust, eine seelische Behinderung noch nicht gegeben ist. Es verbietet sich demnach, jegliche Beeinträchtigung des Besuchs der Schule, die aufgrund der Legasthenie eintritt, schon als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu definieren. Nur eine solche Sichtweise ist auch interessengerecht, da es primär die Aufgabe der Schule ist, eine Lese- oder Rechtschreibschwäche durch geeignete Maßnahmen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern. Es ist daher angezeigt, den Nachweis weit mehr als üblicher schulischer Probleme im Fall mangelhafter Rechtschreibleistungen zu fordern, bevor ein Anspruch auf Eingliederungshilfe entstehen kann.
Es ist nach den vorstehenden Maßgaben bei der Klägerin nicht von einer bestehenden oder drohenden Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugehen. Denn ihre Möglichkeiten zur Teilhabe in der Gemeinschaft wichen nach den sich aus dem Verwaltungsvorgang und der informatorischen mündlichen Verhandlung ergebenden Lebensumständen nicht in schwerwiegender Weise von dem alterstypischen Durchschnitt der Schüler und Schülerinnen ab.
Die Klägerin lebt in einer intakten, behüteten, sie stützenden und unterstützenden Familiensituation. Sie leidet nicht unter wesentlichen Erkrankungen. Ihre Eltern geben im Elternfragebogen keinerlei besondere Auffälligkeiten an. Diese Angaben entsprechen der von der Fachstelle durchgeführten Befragung der Klägerin selbst, die sich - auch in der Schule - als fröhlichen Mensch bezeichnet, der mit den Klassenkameraden gut auskomme, von ihnen erst genommen und gemocht werde. Im Angstfragebogen fällt auf, dass die Klägerin Prüfungssituationen, Leistungskontrollen etc. ausgeprägt fürchtet, was sie mit leistungsschwächeren Schülern und Schülerinnen durchaus gemein hat. All dies reicht nicht aus, um der Klägerin mehr als „übliche“ Problem von Schülern mit Schulschwierigkeiten zu attestieren. Hänseleien, Spott und Unverständnis über die Rechtschreibprobleme der Klägerin - womit sich viele Legastheniker „herumschlagen“ müssen - sind im vorliegenden Fall nicht dokumentiert, im Schulbericht (Tutorenbericht) der IGS vom 2. Hj. 2004/2005 wird deutlich, dass die Klägerin still, zurückgezogen, wenig in die Tischgruppe integriert gewesen ist. Ablehnung ist ihr allerdings wohl nicht entgegengeschlagen. Da gerade an der IGS auf ein gutes soziales Klima in der Klasse viel Wert gelegt wird, hat das Gericht keine Veranlassung, hier nicht dokumentierte Missstände anzunehmen. Letztlich ist auch der Umstand, dass die Klägerin zunächst nur eine „feste“ Freundin hatte, kein Indiz für das Vorliegen einer Teilhabegefährdung. Viele Kinder sind in dem Alter in keiner anderen Situation. ab. All dies spricht eindeutig gegen eine soziale Ausgrenzung der Klägerin im Schulalltag. Aus den Unterlagen ergibt sich zwar, dass die Klägerin durchaus auf ihre "Rechtschreibschwäche“ und die daraus folgenden schlechten Leistungen emotional reagiert. Diese Reaktionen, die sich aber nicht in wesentlichen körperlichen Beschwerden manifestierten, sind indes nicht behinderungsrelevant. Sie gehen über die Schulprobleme und -ängste anderer Kinder mit schlechten Leistungen nicht hinaus. Für die Annahme einer totale Schul- und Lernverweigerung gibt es keinerlei Anhaltspunkte, nicht einmal eine ausgeprägte Schulunlust kann (glücklicherweise) festgestellt werden.
Der von der Klägerin in diesem Zusammenhang gestellte Beweisantrag war abzulehnen. Es war nicht notwendig, durch die Vernehmung des Psychologen L. Beweis zu erheben über die Behauptung, dass sie an nachhaltigen psychischen und Verhaltensauffälligkeiten gelitten habe, die aus der Lese- und Rechtschreibstörung herzuleiten seien. Denn das Gericht hat sämtliche vom Psychologen L. in allen seinen Stellungnahmen geschilderten psychischen und Verhaltensauffälligkeiten berücksichtigt (aber anders als der Prozessbevollmächtigte der Klägerin rechtlich bewertet. Aber ohne weiteren Tatsachenvortrag als Anknüpfungspunkt dafür, dass Herr L. bislang undokumentierte Auffälligkeiten der Klägerin dem Gericht berichten könnte, musste der Beweisantrag als unzulässiger Beweisermittlungsantrag abgelehnt werden. Denn es ist zuvorderst Sache der Klägerin, entsprechende nachprüfbare Tatsachenbehauptungen aufzustellen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.