Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 26.01.2006, Az.: 2 A 161/05

Aufgabenwahrnehmung: Auslagerung; Behinderung, seelische; Freier Träger der Jugendhilfe; ICD-10; Klassifikationsschema; Legasthenie; Rechtschreibstörung, isolierte; Weiterbewilligungsantrag; § 35a SGB VIII und Legasthenietherapie

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
26.01.2006
Aktenzeichen
2 A 161/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 44447
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2006:0126.2A161.05.0A

Fundstelle

  • JAmt 2006, 150-154

Amtlicher Leitsatz

Zu den Anforderungen an die Feststellung einer seelischen Behinderung im Fall einer isolierten Rechtschreibstörung.

Tatbestand:

1

Der Kläger ist am ... geboren. Er hat zwei ältere Geschwister, die einen Realschulabschluss haben. Im Alter von 4 ? und knapp 6 Jahren erhielt er Sprachtherapie. Zum Schuljahr 2001/2002 wurde er in die Grundschule R. eingeschult, die er auch derzeit noch besucht; er wiederholt die 4. Klasse.

2

Bereits in der ersten Klasse zeigten sich Probleme beim Lesen und Schreiben. Im August, September und November 2002 untersuchte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin S. von der Erziehungsberatungsstelle des Beklagten den Kläger und führte mit ihm mehrere Tests durch. Sie attestierte eine schwere Legasthenie mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen infolge der Legasthenie. Eine wesentliche seelische Behinderung als Folge der Legasthenie sei mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Eine besondere schulische Förderung erhielt der Kläger seinerzeit noch nicht, weil nach Auskunft der Schule Förderkinder nach Einführung der verlässlichen Grundschule nicht aus dem Unterricht herausgenommen werden könnten.

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Daraufhin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Februar 2003 dem Kläger auf den Antrag seiner Eltern hin Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte nach § 35a SGB VIII im Umfang von 40 Stunden für die Kosten einer Legastheniebehandlung. Diese Behandlung begann der Kläger am 17. Juni 2003 zunächst bei der Logopädin Frau T., die den Eltern aus einer früheren logopädischen Behandlung des Klägers bekannt war. Nach 10 Stunden brach er diese Therapie ab und wechselte ab Februar 2004 zur Weiterbehandlung zum Legasthenietherapeuten U.. Dieser erteilte bis zum 19. November 2004 weitere 30 Stunden Legasthenie-Therapie.

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Am 15 Dezember 2004 stellten die Eltern des Klägers einen Weiterbewilligungsantrag. Diesem fügten sie einen Entwicklungsbericht zum Stand der systematischen Übungsbehandlung des Therapeuten U. vom 30. Dezember sowie eine psychologische Stellungnahme der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin V. - M.A. - vom 13. Dezember 2004 bei.

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Aus dem Entwicklungsbericht ergibt sich, dass der Kläger im März 2004 einen Prozentrang von 1,3 und einen sog. T-Wert von 28 erzielt hatte. Im November 2004 betrug der Prozentrang 6 - 12 und der T-Wert 37. Es liege beim Kläger nach wie vor eine schwere Legasthenie vor. Dies werde zwar durch das Ergebnis der normierten Rechtschreibtests nicht ganz deutlich, ergebe sich jedoch aus einem Vergleich mit dem ebenfalls durchgeführten lautgetreuen Bildertest zur Phonemstufe 1 (LBT 1) nach Reuter-Liehr. Hinsichtlich der Lesegenauigkeit habe der Kläger einen deutlichen Fortschritt erzielt, was jedoch auf Kosten der Zeit gehe. Er habe sich sehr gekränkt gezeigt, als eine Mitschülerin ihn gefragt habe, ob er denn immer noch nicht lesen und schreiben könne und immer noch zur Therapie müsse. Laut Aussage seiner Klassenlehrerin sei er frustriert über seine schlechten Lese- und Rechtschreibleistungen. Er gebe dann sehr schnell auf und müsse ermutigt werden. Im Ergebnis hielt der Therapeut fest, es seien noch ca. 10 bis 12 Stunden notwendig, um den Phonemstufenbereich abschließen zu können. Danach könne er in den Regelbereich überwechseln, wobei es wichtig sein werde, ihm einerseits noch mehr Sicherheit hinsichtlich seiner Fortschritte zu vermitteln, andererseits ihn dahin zu motivieren, die Steuerungsstrategien der Therapie auch in der Schule und im Alltag umzusetzen. Deshalb bat der Therapeut, dem Antrag der Eltern des Klägers auf Verlängerung der Therapie um weitere 40 Stunden stattzugeben.

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Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin V. führte mit dem Kläger den Rechtschreibtest DRT IV durch. Ausweislich ihrer Stellungnahme vom 13. Dezember 2004 erreichte der Kläger dabei einen Prozentrang von 6 - 12 (mittlerer T-Wert 37, T-Wert-Band 35 - 38). Gleichzeitig unterzog sie ihn einem Intelligenztest nach CFT 20. Die danach vorgenommene Gesamtauswertung ergab einen IQ von 86, wobei er im Testteil 1 einen IQ von 87 und im Testteil 2 einen solchen von 91 erreichte. Dies entspricht einem T-Wert von 40/41. Die Therapeutin äußerte die Befürchtung, dass aufgetretene Konzentrationsschwächen des Klägers allgemeine Lern- und Leistungsfähigkeiten beeinträchtigten und sich somit auch negativ auf die Teilleistungen Lesen und Schreiben auswirkten. Sie diagnostizierte eine isolierte Rechtschreibstörung nach ICD-10 (F 81.1) und empfahl, die Legasthenie-Therapie für die Dauer von 40 Behandlungseinheiten fortzusetzen. Ohne qualifizierte therapeutische Maßnahmen sei davon auszugehen, dass eine seelische Behinderung durch Verfestigung des Störungsbildes drohe.

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In der 3. Klasse erhielt der Kläger wegen seiner Lese- und Rechtschreibschwäche Förderunterricht und nahm stattdessen nicht am Fach Musik teil. Im Ganzjahreszeugnis für die 3. Klasse vom 7. Juli 2004 erhielt der Kläger im Fach Deutsch eine 5 sowie in Schrift und Form und Mathematik jeweils eine 4. Seine Leistungen in Rechtschreiben wurden nicht bewertet. Im Halbjahreszeugnis der 4. Klasse vom 28. Januar 2005 erhielt er in den Fächern Deutsch und Mathematik jeweils eine 5 sowie in Schrift und Form erneut eine 4. Erneut wurden seine Rechtschreibleistungen nicht bewertet. Aktuelle Zeugnisse liegen dem Gericht nicht vor.

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Unter dem 12. November 2004 verfasste die Klassenlehrerin des Klägers einen Schulbericht zum Antrag seiner Eltern auf Eingliederungshilfe. Darin schätzte sie die Leistungen des Klägers gemessen am Leistungsstand der Klasse in den Fächern Deutsch und Mathematik als schwach und in Rechtschreiben und Lesen als sehr schwach ein. Im Fach Mathematik liege er unter seinem tatsächlichen Leistungsvermögen, was auf mangelnde Konzentration, aber auch mangelnden Fleiß zurückzuführen sei. Er müsse für alle Fächer fleißig und kontinuierlich lernen. Er habe eine große Konzentrationsschwäche, motorisch unruhig sei er aber nicht. Gleichzeitig erkannte sie große Aufmerksamkeitsprobleme.

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Der Beklagte leitete den Antrag des Klägers an die gemeinsame Fachstelle Diagnostik der Städte W. und G. und der Landkreise X., K. und W. bei der Jugendhilfe-Süd-Niedersachsen e.V. weiter. Dieser Verein ist als freier Träger der Jugendhilfe anerkannt. Zu seinen Zwecken gehört gemäß § 2 der Satzung vom 18. April 2000 in der Fassung der 2. Änderungssatzung vom 12. Februar 2003 u.a. die Unterstützung und/oder Übernahme spezieller Dienstleistungen für die Jugendämter der Mitglieder. Diese haben die Fachstelle zum 01.08.2003 mit der Aufgabe betraut, die fachliche Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen von § 35a SGB VIII durchzuführen.

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Die Fachstelle befürwortete den Antrag des Klägers mit Stellungnahme vom 15. März 2005 nicht. Nach den vom Therapeuten U. durchgeführten Rechtschreibtests liege beim Kläger eine isolierte Rechtschreibstörung nicht mehr vor. Seine allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten lägen im unteren Durchschnittsbereich und wichen nur unwesentlich von seinen Rechtschreibleistungen ab. Wegen mangelnder Mitwirkung der Eltern, die eine Vorstellung des Klägers bei der Fachstelle abgelehnt hatten, könne über eine Teilhabegefährdung nicht entschieden werden.

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Daraufhin lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 22. März 2005 ab. Zur Begründung berief er sich im Wesentlichen auf die Stellungnahme der Fachstelle Diagnostik und ergänzte, wegen mangelnder Mitwirkung seiner Eltern könne über die Teilhabegefährdung nicht entschieden werden und der Antrag sei daher abzulehnen.

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Hiergegen hat der Kläger am 13. April 2005 Klage erhoben.

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Zu deren Begründung trägt er vor, seine Therapie sei auf 80 Stunden angelegt. Die Bewilligungsvoraussetzungen lägen auch weiterhin vor, wie sich aus der Stellungnahme von Frau V. ergebe. Die Fachstelle sei lediglich ein privatrechtlicher Verein, dessen Mitarbeiter keine Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychotherapie hätten. Eine weitere Begutachtung durch diese Mitarbeiter sei nicht erforderlich gewesen und hätte nur eine unnötige Belastung für ihn dargestellt. Der Beklagte sage auch nicht, was er konkret weiter hätte aufklären wollen. Mit der Aufforderung, der Kläger müsse sich bei der Fachstelle vorstellen, missachte der Beklagte auch § 14 Abs. 5 S. 3 SGB IX. Er sei infolge seiner Legasthenie gehemmt und habe Versagensängste. Ergänzend zu den bisher hierzu vorliegenden Stellungnahmen legt er eine Bescheinigung des ihn behandelnden Therapeuten vom 2. Mai 2005 vor. Auch danach liege beim Kläger eine schwere Legasthenie vor, was am deutlichsten der lautgetreue Bildertest zur Phonemstufe 1 dokumentiere. Hier sei der Mehrfachfehlerquotient mit 1,57 stark erhöht. Die Lese-Rechtschreib-Störung habe bereits deutliche Auswirkungen auf die emotionale Befindlichkeit des Klägers gezeigt. Er zeige große Schulunlust mit Verweigerungshaltung und Anpassungsstörung, was auch in den Therapiestunden deutlich werde. Er sei wegen dieser Störung höchst gekränkt, ziehe sich zurück und habe für sich bereits teilweise aufgegeben, Lesen und Schreiben überhaupt erlernen zu können. Zur Zeit befinde sich der Kläger in der Mitte der Therapie und Fortschritte seien deutlich erkennbar.

14

Der Kläger beantragt,

  1. den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 22. März 2005 zu verpflichten, dem Kläger Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für 40 weitere Stunden Legasthenietherapie á 36.- € zu bewilligen.

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Der Beklagte beantragt,

  1. die Klage abzuweisen.

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Zur Begründung bezieht er sich im Wesentlichen auf die Stellungnahme der Fachstelle Diagnostik vom 29. April 2005. Darin heißt es, die Überprüfung einer Teilhabegefährdung sei wegen fehlender Mitwirkungspflicht der Eltern des Klägers nicht möglich gewesen. Schon nach der psychologischen Stellungnahme der Frau V. habe weder eine isolierte Rechtschreibstörung noch eine psychische Störung mit Krankheitswert vorgelegen. Dies ergebe sich daraus, dass beim Kläger zwischen seinen Rechtschreibleistungen und den allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten lediglich eine Standardabweichung von 0,3 bis 0,4 vorläge. Für die Annahme einer isolierten Rechtschreibstörung müssten laut internationaler Klassifikation (ICD-10) jedoch zwei Standardabweichungen vorliegen. Die Schulphobie könne zudem nicht nachvollzogen werden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 23. März 2005 ist rechtmäßig, so dass der Kläger keinen Anspruch auf Förderleistungen für eine Legasthenietherapie durch den Beklagten hat (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

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Der Kläger hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für weitere 40 Stunden Legasthenietherapie aus Mitteln der Jugendhilfe nicht, weil die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII nicht vorliegen.

20

Gemäß § 35a Abs. 1 SGB VIII i.d.F. des Gesetzes vom 30.07.2004 (BGBl I S. 2014) haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

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ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und

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daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

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Die seelische Gesundheit des Klägers weicht nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand ab, so dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII nicht vorliegen.

24

Soweit der Bedarf des Klägers im Jahre 2004 entstanden ist, beantwortet sich die Frage, wer zum berechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gehört, nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. §§ 39 Abs. 4, 40 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 der Verordnung nach § 47 BSHG (Eingliederungshilfe-Verordnung). Soweit der Bedarf im Jahre 2005 entstanden ist, ergeben sich die - inhaltsgleichen - Voraussetzungen aus §§ 53 Abs. 4, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 3 Eingliederungshilfeverordnung.

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Danach liegt eine seelische Störung, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des § 39 Abs. 1 BSHG bzw. 53 Abs. 1 SGB XII zur Folge haben kann, vor bei

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körperlich nicht begründbaren Psychosen,

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seelischen Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen

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Suchtkrankheiten

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Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.

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Problematisch an diesem Definitionskatalog, wie auch an der gesetzlichen Definition der Behinderung in § 2 SGB IX, ist, dass der Begriff "seelische Behinderung" ein sozialrechtlicher Begriff und keine medizinische Diagnose ist. Zum anderen handelt es sich bei den in § 3 Eingliederungshilfe-Verordnung aufgeführten Begriffen um erwachsenenspezifische Begriffe, die zudem aus fachlicher Sicht mittlerweile überholt scheinen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 20.02.2002 - 12 A 5322/00 -, NDV-RD 2002, 84 [OVG Nordrhein-Westfalen 20.02.2002 - 12 A 5322/00]; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, § 35a KJHG Rn. 14; Fahlbusch, Gutachten vom 04.01.2005 für den DV "Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendhilfe mit Autismus", jeweils m.w.N). Deshalb wird zur weiteren Diagnose einer seelischen Behinderung auf die internationale Klassifikation der WHO (ICD-10) zurückgegriffen. Dies entspricht auch der Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. Regierungsbegründung des SGB IX, BT-Ds 14/5074/2001, S. 121).

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In Abschnitt V F 81 der ICD-10 werden umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten definiert. Danach handelt es sich bei allen diesen Störungen, seien es Lese- und Rechtschreibstörung (F 81.0), isolierte Rechtschreibstörung (F 81.1), Rechenstörung (F 81.2), kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (F 81.3), sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F 81.8) oder Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, die nicht näher bezeichnet werden (F 81.9) um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit aufzufassen. Bei der hier im Streit befindlichen isolierten Rechtschreibstörung (F 81.1) handelt es sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeit besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass es im Fall des Klägers trotz der Tatsache, dass er in der Vergangenheit auch eine Lesestörung hatte, nur um die Frage geht, ob bei ihm eine isolierte Rechtschreibstörung vorliegt. Die Lesestörung ist ausweislich der vorliegenden Stellungnahmen weitestgehend behoben. Damit es sich um eine isolierte Rechtschreibstörung im Sinne der ICD-10 handelt, darf die Entwicklungsbeeinträchtigung nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar sein.

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Die Klassifikationen nach ICD-10 enthalten indes keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der isolierten Rechtschreibstörung oder der Lese-Rechtschreibstörung. Insoweit legt die Kammer ihrer Entscheidung die fachlich anerkannten Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde. Diese ergeben sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 25. Juni 2004, gültig bis 2008 (zitiert nach Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften -AWMF- online). Danach beruht die Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörungen auf dem durch Remschmidt, Schmidt und Poustka 2001 auch im deutschsprachigen Raum etablierten multiaxialen Klassifikationsschema (MAK) für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (so auch Jans u.a., a.a.O., Rn. 15; Fahlbusch, a.a.O.; Mehler-Wex/ Warnke, Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer seelischen Behinderung (§ 35a SGB VIII), SGB VIII-online-Handbuch).

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Die Achse 1 betrifft das klinisch-psychiatrische Syndrom, was auf der ausführlichen Anamneseerhebung und dem psychopathologischen Untersuchungsbefund des Kindes oder Jugendlichen basiert. Die Achse 2 erfordert die Abklärung umschriebener Entwicklungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie unter Zuhilfenahme der schulischen Stellungnahmen und Zeugnisnoten (deutlich schlechtere Noten in Deutsch bzw. Mathematik als in den übrigen Fächern) und zum anderen spezieller Testungen durch standardisierte Rechtschreibtests (z.B. WRT 3+ und/oder eines standardisierten Lesetest mit einem Prozentrang <= 10 % (Richtwert). Auf Achse 3 wird das Intelligenzniveau angegeben, festgestellt durch psychologische Intelligenz- und Leistungsdiagnostik (z.B. HAWIK oder CFT 20). Werte im CFT 1 und CFT 20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 -95) erfordern eine weitere Überprüfung durch eines der übrigen Testverfahren, um eine Intelligenzminderung sicher auszuschließen. Das Intelligenzniveau ist auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse 2), da diese einen IQ >= 70 voraussetzt. Außerdem kann eine Teilleistungsstörung danach im schulischen Bereich nur dann attestiert werden, wenn die Ergebnisse aus den Rechen-, Lese- und Rechtschreibtests in Bezug zum Intelligenzniveau gesetzt wurden. Die T-Wert-Diskrepanz zwischen Gesamt-IQ und den jeweiligen Testergebnissen im Lesen/Schreiben/Rechnen sollte >= 12 Punkte betragen bzw. eine Diskrepanz von mind. 1,5 Standardabweichungen sollte bestehen. Auf der Achse 4 sollen organische Ursachen der psychischen Störung ausgeschlossen werden. Achse 5 gibt die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände an, die das Kind im Zeitraum der letzten 6 Monaten vor Behandlungszeitpunkt direkt und durchgehend betroffen haben. Auf der Achse 6 werden schließlich die Art der Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen zur Familie, Gleichaltrigen und Außenstehenden, die sozialen Kompetenzen, schulische/berufliche Adaption, Interessenlage und Freizeitaktivitäten beurteilt.

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Gelegentlich werden geringfügig abweichende Diagnosekriterien für sachgerecht gehalten. So sieht Reuter-Liehr (Legasthenie Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, Vortrag auf der Jahrestagung des BKJPP vom 15.11.2002 in Stuttgart) die sog. T-Wert-Differenz von 12 kritisch, misst ihr aber dennoch richtungsweisende Bedeutung zu. Harnach-Beck ( NDV 1998, 230, 231) hält eine Standardabweichung von 1,0 für ausreichend. Dem folgt die Kammer im Interesse einer einheitlichen, fachlich anerkannten Diagnosepraxis im Grundsatz ebenso wenig wie in der therapeutischen Praxis vertretenen Ansätzen, die darüber hinaus auf die Art der Rechtschreibfehler sowie auf den sog. Mehrfachfehlerquotienten, der angibt, wie viele Fehlentscheidungen ein Kind in einem falsch geschriebenen Wort macht, abstellen (vgl. interessanter Weise die im Internet nachgewiesene Ansicht des den Kläger behandelnden Therapeuten, www.lrs-bartels. de/diagnose). Diese abweichenden Ansätze mögen allenfalls zu einer besonders kritischen Würdigung der auf der Basis der Leitlinien gefundenen Ergebnisse Anlass geben.

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Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Teilleistungsstörung sind nach den genannten fachlichen Standards im wesentlichen drei Faktoren: zum einen der bei den durchgeführten Lese-, Rechen- und Rechtschreibtests erzielte Prozentrang, zweitens das durch anerkannte Testverfahren ermittelte Intelligenzniveau sowie drittens die Differenz zwischen ermitteltem Teilleistungsvermögen und Intelligenzvermögen, wobei einerseits auf eine rechnerische Differenz (T-Wert und Standardabweichung) und andererseits auf eine Diskrepanz zwischen den Schulnoten in den Fächern mit Teilleistungsstörung einerseits und solchen ohne eine Störung andererseits abgestellt wird. Gemessen an diesen diagnostischen Vorgaben kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger seelisch behindert ist oder ihm eine derartige seelische Behinderung droht.

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Ausweislich des Entwicklungsberichts seines Therapeuten U. vom 30. Dezember 2004 erreichte der Kläger bei einer am 16. November 2004 durchgeführten Verlaufskontrolle einen Prozentrang von 6 - 12. Sein IQ liegt mit 86, festgestellt durch Gutachten der Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin V. vom 13. Dezember 2004 im knapp durchschnittlichen Bereich. Schon der vom Kläger erreichte Prozentrang lässt nicht eindeutig erkennen, dass er unter 10 % liegt. Hinzu kommt, dass die festgestellte T-Wert-Differenz nicht >12 ist. Bei der durchgeführten Verlaufskontrolle betrug der T-Wert für die Rechtschreibleistung 37. Der sich auf das Intelligenzniveau beziehende T-Wert beträgt 40/41. Die T-Wert-Differenz beträgt damit nur 0,3 bis 0,4, und damit deutlich unter 1. Über die Standardabweichungen finden sich in den bei den Akten befindlichen Unterlagen keine Aussagen. Bedeutsam erscheint aber schließlich, dass der Kläger im Halbjahreszeugnis der 4. Klasse nicht nur in Deutsch, sondern auch in Mathematik eine 5 hat. Alle Feststellungen zusammengenommen, rechtfertigen den Schluss, dass beim Kläger zum Zeitpunkt des Antrags auf Weiterbewilligung von Leistungen der Legasthenietherapie eine Teilleistungsstörung nicht - mehr - vorlag. Die Defizite des Klägers liegen, wie sich aus dem Schulbericht vom 12. November 2004 ergibt, offenbar nicht nur in einer Lese-Rechtschreibschwäche begründet, sondern beruhen in nicht unerheblichem Umfang auch auf mangelnder Konzentration und Aufmerksamkeit sowie mangelndem Fleiß.

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Die Kammer ist der Ansicht, dass die Anspruchsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII im Zeitpunkt des Weiterbewilligungsantrages vom 15. Dezember 2004 zu prüfen sind, ohne dass es darauf ankommt, dass die Bewilligungsvoraussetzungen, wie hier, in der Vergangenheit vorgelegen und zu einer Bewilligung von Jugendhilfeleistungen für die Durchführung einer Legasthenietherapie im Umfang von 40 Stunden geführt haben. Die Kammer verkennt nicht, dass eine Legasthenietherapie unter therapeutischen Gesichtspunkten im Zeitpunkt des Weiterbewilligungsantrages noch nicht vollständig abgeschlossen sein kann. So ist es nach Ansicht seines Therapeuten auch im Fall des Klägers. Offenbar handelt es sich um ein in der therapeutischen Praxis nicht selten vorkommendes Phänomen, wie die Ausführungen von Reuter-Liehr in ihrem Vortrag vom 15. November 2002 zeigen, in denen es heißt:

"In der Praxis erfahren wir, dass notwendige Weiterbewilligungsanträge einer zwar erfolgreich aber noch nicht ausreichend behandelten Legasthenie vom Jugendamt gelegentlich mit der Begründung abgewiesen werden, dass infolge des erreichten Prozentranges keine Legasthenie mehr vorliege. Dies verkürzte Verständnis von "Teilleistungsstörung" führt dann zu vorzeitigen Abbrüchen, die keine Langzeiterfolge möglich machen"

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Nach Ansicht der Kammer handelt es sich indes nicht um ein verkürztes Verständnis von "Teilleistungsstörungen", sondern um ein solches, das vom Gesetz vorgegeben ist. Selbstverständlich kann es nicht im Interesse des Kindes oder Jugendlichen liegen, eine Legasthenietherapie vorzeitig abzubrechen. Etwas anderes ist es jedoch, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII vorliegen. Ob das der Fall ist, muss vom Träger der Jugendhilfe in dem Zeitpunkt beurteilt werden, in dem der jugendhilferechtliche Bedarf entsteht. Hierbei kommt der in der Vergangenheit erfolgten Bewilligung von Leistungen für eine Legasthenie- oder Dyskalkulietherapie keine präjudizielle Bedeutung zu. Der damit abgedeckte Bedarf besteht jugendhilferechtlich nicht mehr und wird gegebenenfalls durch einen neuen, weitergehenden Bedarf abgelöst. Für diesen Therapiebedarf sind gesetzlich Leistungen nur im Fall einer (drohenden) seelischen Behinderung vorgesehen. Aus dem oben Gesagten folgt, dass beim Kläger ein jugendhilferechtlich relevanter Bedarf für eine weitere Legasthenietherapie wegen der bis dahin erzielten Therapieerfolge nicht - mehr - vorliegt.

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Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, der Jugendhilfeträger habe von Anfang an Leistungen im Umfang der jeweils therapeutisch erforderlichen Stundenzahl, hier angenommen im Umfang von 80 Stunden, bewilligen müssen. Abgesehen davon, dass dem Kläger dieser Einwand schon deshalb abgeschnitten ist, weil der Bewilligungsbescheid vom 14. Februar 2003, mit dem ihm 40 Stunden Legasthenietherapie bewilligt worden waren, bestandskräftig und damit für ihn bindend geworden ist, kann die Kammer diesem Ansatz auch inhaltlich nicht folgen. Hinsichtlich der Art der zu gewährenden Jugendhilfeleistungen steht dem Jugendhilfeträger eine fachpädagogische Einschätzungsprärogative zu, die nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein und eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation sein muss ( BVerwG, Urteil vom 24.6.1999 -5 C 24.98 -, BVerwGE 109, 155; OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.8.2005 -4 ME 45/03 -). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich insoweit darauf, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind und ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Gemessen daran wird es in den seltensten Fällen zu beanstanden sein, wenn der Jugendhilfeträger seine Leistungen zunächst auf einen Zeitraum beschränkt, der prognostisch nicht der vollen Therapiedauer entspricht. Denn es ist aus fachlicher Sicht sowohl möglich, dass die tatsächlich erzielten Therapiefortschritte größer als zunächst angenommen sind, was zu einer vollständigen Behebung der Teilleistungsstörung führen kann, als auch, dass die ursprünglich gegebenen Bewilligungsvoraussetzungen nach § 35a SGB VIII im Laufe der Therapie entfallen. Hierfür ist der vorliegende Fall ein Beispiel. Da der Jugendhilfeträger zu einem sparsamen Umgang mit öffentlichen Finanzmitteln verpflichtet ist, stellt diese Überlegung ein sachgerechtes Kriterium für die zeitliche Begrenzung einer Teilleistungsstörungstherapie dar.

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Schließlich ergibt sich ein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten für die von ihm unternommene Legasthenietherapie nicht aus § 27 SGB VIII. Diesen Weg zu beschreiten, ist in der Vergangenheit gelegentlich bei fehlender seelischer Behinderung und dennoch gegebenem Therapiebedarf für Legasthenie bejaht worden (vgl. Harnach/Beck, a.a.O., insbesondere S. 234; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.05.1995 - 7 S 259/94 -, ESVGH 45, 292). Abgesehen davon, dass hieraus nicht für den Kläger ein Anspruch abzuleiten ist, sondern dieser Anspruch dem Personensorgeberechtigten zusteht, ist der Weg grundsätzlich durch den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.07.2005 (5 B 56/05 - J Amt 2005, 524) versperrt. Danach ist Voraussetzung für einen Anspruch eines Personensorgeberechtigten auf Hilfe zur Erziehung, dass ein erzieherischer Bedarf infolge einer erzieherischen Mangelsituation gegeben ist. Nicht jede beliebige Mangelsituation im Sozialisationsumfeld eines Kindes oder eines Jugendlichen, namentlich nicht eine im schulischen Leistungsbereich, ist hierfür ausreichend. Gerade mit der Schaffung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in § 35a SGB VIII hat der Gesetzgeber den Umstand Rechnung tragen wollen, dass einer seelischen Behinderung nicht in jedem Fall ein erzieherisches Defizit zugrunde liege.

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Folglich kommt es auf die Frage, ob eine Teilhabegefährdung im Sinne von § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII vorliegt, nicht mehr an. Im Interesse der Vermeidung künftiger Rechtsstreitigkeiten hält die Kammer dennoch nachfolgende Anmerkungen für angezeigt.

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Der Umstand, dass die Eltern des Klägers diesen nicht bei der Fachstelle Diagnostik der JSN vorgestellt haben, reicht für sich genommen nicht aus, um Leistungen aus diesem Grund zu verweigern und eine solche Teilhabegefährdung zu verneinen.

43

Der Träger der Jugendhilfe ist bei einer Leistungsversagung wegen fehlender Mitwirkung an die gesetzlichen Vorgaben der §§ 60 ff. SGB I gebunden. Zwar folgt aus § 62 SGB I eine Untersuchungsobliegenheit desjenigen, der Sozialleistungen beantragt. Unabhängig davon, ob diese Vorschrift die Aufforderung, sich der Fachstelle Diagnostik vorzustellen trägt (hierzu im Folgenden), dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung gemäß § 66 Abs. 3 SGB I nur versagt werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb der ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Hier ist der Kläger weder auf seine Mitwirkungspflicht hingewiesen noch ist ihm eine Frist zur Mitwirkung gesetzt worden. Eine Leistungsversagung aus diesem Grund wäre daher rechtswidrig gewesen.

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Abgesehen davon hat die Prüfung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII vorliegen, von Amts wegen zu erfolgen (§ 20 SGB X). Deshalb sind die Jugendämter gemäß § 72 SGB VIII mit Fachkräften für die jeweils anstehenden Aufgaben auszustatten. Soweit es um die Prüfung einer (drohenden) seelischen Behinderung geht (§ 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII), steht eine medizinische und/oder psychologische Frage inmitten. Sich diesbezüglichen Untersuchungen zu unterziehen, ist derjenige, der Sozialleistungen begehrt, gemäß § 62 SGB I verpflichtet. Der Jugendhilfeträger ist als Rehabilitationsträger gemäß § 14 Abs. 5 Satz 2 SGB IX berechtigt, insoweit einen Sachverständigen zu beauftragen. Das Gesetz geht davon aus, dass die vom Jugendhilfeträger vorzuhaltenden Fachkräfte diese medizinische Fachfrage nicht in eigener Kompetenz beantworten können. Insoweit mögen die Mitarbeiter/innen der Fachstelle Diagnostik als Sachverständige in Betracht kommen. Soweit wegen der organisatorischen und/oder personellen Verflechtung zwischen Fachstelle und Jugendamt an die Befangenheitsvorschriften der gemäß § 21 Abs. 3 SGB X anzuwendenden §§ 406 i.V.m. 41 ZPO zu denken ist, steht dies der grundsätzlichen Eignung als Sachverständige nicht entgegen. Allerdings ist der Jugendhilfeträger gemäß § 14 Abs. 5 Satz 3 SGB IX in der Regel verpflichtet, dem Leistungsberechtigten drei möglichst wohnortnahe Sachverständige zu benennen. Die ausschließliche Benennung der Fachstelle Diagnostik bei der JSN, wie sie dem Gericht aus diesem und anderen Verfahren bekannt ist, dürfte gegen diese Bestimmung verstoßen.

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Demgegenüber dürfte die Prüfung der Teilhabegefährdung im Sinne von § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII in die ausschließlich Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers fallen. Dies macht § 35a Abs. 1a SGB VIII in der ab 1. Oktober 2005 anzuwendenden Fassung deutlich. Insoweit ergeben sich die Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten aus §§ 60 und 61 SGB I. Er hat danach die für die Leistung erforderlichen Tatsachen anzugeben und zur mündlichen Erörterung des Antrags oder zur Vornahme anderer für die Entscheidung über die Leistung notwendiger Maßnahmen persönlich zu erscheinen. Diese Verpflichtungen bestehen ausschließlich gegenüber dem Sozialleistungsträger. Die Kammer hat große Zweifel, dass der Beklagte berechtigt ist, diesen Teil der Anspruchsprüfung auf die Fachstelle Diagnostik zu übertragen und zu verlangen, dass Leistungsberechtigte dort vorstellig werden.

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Gemäß § 79 Abs. 1 SGB VIII haben die Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung. Dem soll das in § 72 SGB VIII normierte Fachkräftegebot Rechnung tragen. Das Jugendhilferecht ist andererseits von einem Nebeneinander der öffentlichen und der freien Jugendhilfe geprägt (§ 3 SGB VIII). Ausfluss dessen ist, dass bestimmte Aufgaben und Leistungen der Jugendhilfe nach Maßgabe des SGB VIII auch von freien Trägern der Jugendhilfe wahrgenommen werden können. Die Fachstelle Diagnostik ist bei dem Jugendhilfe-Südniedersachsen e.V., einem freien Träger der Jugendhilfe angesiedelt. Indes vermag die Kammer keine Vorschrift zu erkennen, die dem Beklagten als Träger der Jugendhilfe das Recht geben würde, die ihm obliegende Prüfung einer Teilhabegefährdung auf den JSN zu übertragen.

47

Eine Beteiligung des JSN an der Durchführung von Aufgaben des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe nach § 76 Abs. 1 SGB VIII, bei dem es sich um einen Anwendungsfall des § 3 Abs. 3 SGB VIII handelt, scheidet aus, da die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII im dortigen, abschließenden Aufgabenkatalog nicht genannt ist.

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Die Fachstelle Diagnostik und der JSN sind auch keine gemeinsame Einrichtung der am JSN beteiligten Träger der Jugendhilfe im Sinne von § 69 Abs. 4 SGB VIII. Der JSN ist ein freier Träger der Jugendhilfe und damit, anders als § 69 Abs. 4 SGB VIII es verlangt, kein Teil der Verwaltung, d.h. der öffentlichen Jugendhilfe. Abgesehen davon fehlt es an einem förmlichen Einrichtungsakt im Hinblick auf die Fachstelle Diagnostik. Wie der Jugendamtsleiter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vielmehr bekundet hat, ist die Aufgabe der Fachstelle durch Vorstandsbeschluss von der JSN übernommen worden.

49

Schließlich dürfte auch § 3 Abs. 2 SGB VIII entgegen der Ansicht des Beklagten nicht die Aufgabenübertragung an die Fachstelle Diagnostik beim JSN rechtfertigen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift werden Leistungen der Jugendhilfe von Trägern der freien Jugendhilfe und von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe erbracht. Nach Satz 2 richten sich Leistungsverpflichtungen, die durch dieses Buch begründet werden, an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Zu den Leistungen der Jugendhilfe gehören gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 u.a. auch die Hilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche sowie ergänzende Leistungen. Indes sind hiermit lediglich die Leistungsarten im Sinne von § 11 SGB I gemeint (Steffan in: LPK-SGB VIII § 2 Rn. 2; Schellhorn, SGB VIII/KJHG, § 2 Rn. 11; Neumann in: Hauck/Haines, SGB VIII, § 2 Rn. 5; Jans u.a., a.a.O. § 2 Rn. 9). Danach sind Gegenstand der sozialen Rechte die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen (Sozialleistungen), wobei die persönliche und erzieherische Hilfe zu den Dienstleistungen gehört. Diese Vorschrift wird durch § 27 SGB I konkretisiert. Danach kann (Abs. 1 Nr. 4) nach dem Recht der Kinder- und Jugendhilfe u.a. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in Anspruch genommen werden. Der Begriff Sozialleistung bezeichnet damit den Inbegriff der Vorteile, die nach den Vorschriften des SGB dem einzelnen Berechtigten unmittelbar zugute kommen sollen (BT-Ds. 7/868 Seite 24). Damit eröffnet § 2 Abs. 2 SGB VIII einzig den Weg der Leistungserbringung, d.h. der Umsetzung der dem Leistungsberechtigten von Gesetzes wegen zustehenden Jugendhilfeleistungen. Die Übertragung eines Teils der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Sozialleistung auf einen freien Träger der Jugendhilfe dürfte ausgeschlossen sein.

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Soweit daher der JSN als Satzungszweck u.a. die Unterstützung und/oder Übernahme von speziellen Dienstleistungen für die Jugendämter der Mitglieder nennt, steht dies bezüglich der Fachstelle Diagnostik voraussichtlich mit höherrangigem Recht nicht in Einklang.

51

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.

52

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.