Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 29.11.2006, Az.: 1 A 742/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 29.11.2006
- Aktenzeichen
- 1 A 742/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 44609
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2006:1129.1A742.03.0A
Tatbestand
Dem Kläger geht es vor allem um seine Anerkennung als Flüchtling iSv § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise um die Feststellung von Abschiebungshindernissen.
Der 1957 geborene Kläger vietnamesischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens kam im Juli 1991 - nach ca. 3-jährigem Aufenthalt in der ehem. CSSR - in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag, der nach einer Anhörung vom 18. September 1991 mit Bescheid vom 7. Oktober 1991 abgelehnt wurde. Die dagegen gerichtete Klage war nach der damaligen Sach- und Rechtslage erfolglos (rechtskräftiges Urteil der Kammer vom 3.2.1994 - 1 A 851/91 - ; Beschluss des Nds. OVG v. 24.3.1994 - 9 L 1462/94 -).
Am 5. September 2003 stellte der Kläger mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei Mitglied des "Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V." und habe sich inzwischen fortdauernd in vielfacher Weise exilpolitisch betätigt. Im Falle seiner Rückkehr nach Vietnam fürchte er, übermäßig bestraft zu werden, da der gen. Verein verboten sei. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. November 2003 - per Einschreiben an den Prozessbevollmächtigten zugestellt (abgesandt am 28.11. 03) - lehnte die Antragsgegnerin ohne weitere Anhörung die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor; zugleich wurde der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er die Frist nicht einhalte.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 8. Dezember 2003 per Fax bei der erkennenden Kammer Klage erhoben und zugleich erfolgreich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (1 B 61/03). Zur Begründung ergänzt und vertieft er seinen Vortrag, bei einer Rückkehr nach Vietnam werde er wegen "Landesverrat" und "Abtrünnigkeit", wegen seines Glaubens und wegen seiner exilpolitischen Betätigung belangt und verfolgt werden. Er legt eine Vielzahl von Bestätigungen und Bescheinigungen vor. Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. November 2003 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG erfüllt sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet, soweit es dem Kläger um seine Anerkennung als Flüchtling geht (§ 3 AsylVfG iVm Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG (Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ), also um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. des Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560).
Im Übrigen - wegen einer Asylanerkennung (Art. 16 a Abs. 1 GG) - ist die Klage nach Rücknahme kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).
1. Die ohne Anhörung des Klägers getroffene Verwaltungsentscheidung ist verfahrensfehlerhaft (vgl. Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31). Denn eine anhörungslos getroffene Entscheidung widerspricht dem Gebot individueller Prüfung, wie es in Art. 4 Abs. 3 der unmittelbar geltenden Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12) verankert und ausgeformt ist. § 71 Abs. 3 S. 3 AsylVfG ("kann") ist im Lichte der Richtlinie als abweichendes Recht entsprechend eng auszulegen, so dass eine Anhörung nur ausnahmsweise unterbleiben kann.
2. Die rechtliche Prüfung im Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG hat in Anlehnung an die Richtlinie 2005/85/ EG d. Rates v. 1. Dezember 2005 grundsätzlich in Stufen zu erfolgen (h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234; 44, 338; 77, 325; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217). In der 1. Stufe hat nur ein substantiierter Vortrag zu erfolgen, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG als Möglichkeit ergeben können muss (BVerfG DVBl. 2000, 1048 f; vgl. auch VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159). Ein Vorbringen ist in dieser Stufe nur dann als unbeachtlich zu verwerfen, wenn es nach jeder Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen (BVerfG, DVBl. 1994, 38; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor, so dass seitens der Beklagten in eine Sachprüfung einzutreten war.
3. Eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist im Hinblick auf § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK, aber auch hinsichtlich der ab 10. Oktober 2006 verbindlichen Richtlinie 2004/83/ EG des Jahres 2004 fraglos gegeben (vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 4). Daneben rechtfertigen einerseits die Belege für eine exilpolitische Betätigung und andererseits jene über eine zunehmende Veränderung der politischen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) eine Befassung mit dem Folgeantrag.
Die von der Beklagten verfochtene These, es komme für eine ernsthafte oder beachtlich wahrscheinliche Bedrohung im Heimatstaat auf eine mehr oder weniger hohe Schwelle exilpolitischer Betätigung an, auf ein "Herausragen" und einen damit verbundenen "kumulativen Qualitätssprung", ist Beleg dafür, dass der "Wiederaufgreifensgrund", von dem Kenntnis erlangt sein muss, und damit ein Fristbeginn iSv § 51 Abs. 3 VwVfG nicht an singuläre Ereignisse gekoppelt werden kann. In Vietnam hat es zahllose Veränderungen gegeben, die für die Bedrohungslage relevant sind (z.B. die Einführung administrativer Haft, Änderungen des vietnStGB, Niederschlagung von Aufständen im Hochland, Verfolgung von Gläubigen, strikte Kontrolle von Internetzugängen durch neuere Erlasse, Einrichtung von Kommissionen zur Verfolgung von Christen, personelle Veränderungen in der Regierung usw. usw.). Insofern ist ein fester Zeitpunkt für eine Sachlagenänderung iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nur schwer greifbar, jedenfalls nicht an einzelnen Erkenntnisquellen oder Bescheinigungen über Betätigungen zu orientieren (wie im angefochtenen Bescheid geschehen). Die (Gesamt-)Bedrohung wegen fortgesetzter exilpolitischer Betätigung lässt sich nicht isoliert an einzelnen Kundgebungsdaten festmachen.
4. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG - wie hier - erfüllt, hat das Verwaltungsgericht durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).
Diese Entscheidung hat sich am derzeit maßgeblichen Rechtszustand zu orientieren. Das gilt vor allem im Hinblick auf die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EG v. 30.9.2004, L 304/12), die seit dem 10. Oktober 2006 unmittelbar geltendes Recht ist, da die Umsetzungsfrist des Art. 38 der Richtlinie abgelaufen ist.
Im Übrigen: Nach der Entscheidung des EuGH v. 22. 11.2005 (C-144/04 / Mangold, Amtsbl. der Europ. Union v. 11.2.2006 - C 36/11 - NJW 2005, 3695 = DVBl., 2006, 107) "obliegt (es) dem nationalen Gericht, die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbotes ...zu gewährleisten, indem es jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt, auch wenn die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist."
Somit sind diejenigen nationalen Regelungen des AsylVfG wie auch des AufenthG, die inzwischen der jetzt gültigen Richtlinie widersprechen oder entgegenstehen, gerichtlich unangewendet und unbeachtet zu lassen.
5. Dem Kläger droht im Falle seiner Rückführung nach Vietnam prognostisch für den Zeitpunkt Ende 2006 / Anfang 2007 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Somit ist er iSd §§ 60 Abs. 5 AufenthG, 3 AsylVfG als Flüchtling anzuerkennen.
Hierfür reicht in Anwendung der maßgeblichen GFK (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG iVm der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG) eine prognostisch feststellbare Bedrohung für den Fall seiner Rückkehr nach Vietnam aus.
Solche Bedrohung ist - von Ausnahmen abgesehen, vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 8 - dann beachtlich wahrscheinlich und begründet, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8. 1993 - 11 L 5666/92 ). Vgl. dazu OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :
"Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht."
Auf eine Kausalität zwischen politischer Verfolgung in der Vergangenheit und einer daraus resultierenden Flucht, so wie das für die Asylanerkennung galt (Art. 16 a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylVfG), kommt es im Rahmen der hier in Rede stehenden Flüchtlingsanerkennung nicht mehr an. Entscheidend ist, ob bei zukunftsgerichteter Betrachtung genügend Anknüpfungsmerkmale (Art. 9 und Art. 10 Qualifikationsrichtlinie) vorliegen, deretwegen eine (Flüchtlings-)Bedrohung aller Voraussicht nach in Zukunft nachvollziehbar und iSd Richtlinie begründet erscheint. Das ist hier der Fall.
5.1 Eine solche Bedrohung ergibt sich allerdings nicht schon aus einer möglichen Bestrafung auf Grund des bloßen Aufenthaltes des Klägers in Deutschland. Das illegale Verbleiben im Ausland stellt zwar einen Verstoß gegen Art. 274 des vietnamesischen Strafgesetzbuches (vStGB) dar, wonach sich strafbar macht, wer illegal in die Sozialistische Republik Vietnam einreist, aus ihr ausreist oder sonst im Ausland verbleibt. An Strafen werden Verwarnung, Umerziehung bis zu einem Jahr oder Haft von drei Monaten bis zu zwei Jahren angedroht. Es ist nicht "beachtlich wahrscheinlich" (vgl. BVerwGE 91, 150), dass gegen zurückkehrende Asylbewerber tatsächlich allein und nur wegen eines Verstoßes gegen Art. 274 VStGB vorgegangen wird (so auch VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159f).
5.2 Die Bedrohung des Klägers einschließlich Verfolgungshandlungen und -gründen orientiert sich in Anwendung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG an deren Art. 9 und Art. 10, aber auch an der GFK, die zentraler Bezugspunkt jeder Anwendung und Auslegung flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen ist (UNHCR, "Die EU-Qualifikationsrichtlinie und ihre Auswirkungen im Flüchtlingsrecht", dort I). Denn gem. Art. 13 ist demjenigen Drittstaatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft (vgl. § 3 AsylVfG) zuzuerkennen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III im Sinne der Erwägungsgründe (2), (3) und (17) der Richtlinie erfüllt. Die gen. Kapitel sind verbindlich und gehen dem nationalen Recht vor, wie die Erwägungsgründe 10 und 11 der Richtlinie aufzeigen. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/EG" vom Mai 2005:
"UNHCR versteht diese Begründungserwägungen als Aufforderung zur Auslegung der Richtlinie in Übereinstimmung mit internationalen sowie regionalen Menschenrechtsabkommen. Ergänzend zur Genfer Flüchtlingskonvention werden durch diese Rechtsinstrumente und ihre Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und durch Gremien internationaler Menschenrechtsabkommen Verpflichtungen begründet und wichtige Leitlinien zu den Kriterien für die Anerkennung internationalen Schutzes und zu Standards bezüglich der Behandlung von Flüchtlingen geliefert."
Diese Bindung jedenfalls an die Qualifikationsrichtlinie - mit deren Bezug zu völkerrechtlichen Standards und zur GFK - wird auch vom BMI ohne Einschränkungen anerkannt. Vgl. dazu die BMI-Hinweise v. 13.10. 2006 (dort III):
"Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kommt nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist eine unmittelbare innerstaatliche Wirkung zu, wenn die Richtlinie von ihrem Inhalt her unbedingt und hinreichend bestimmt ist, um im Einzelfall angewandt zu werden, und sie dem Einzelnen subjektiv-öffentliche Rechte einräumt oder jedenfalls seine rechtlichen Interessen schützen will.
Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Qualifikationsrichtlinie vor; die darin enthaltenen Regelungen erfüllen zum ganz überwiegenden Teil die o.g. Erfordernisse.
Nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006 ist die unmittelbare Wirkung der Qualifikationsrichtlinie daher unter Berücksichtigung der oben ausgeführten Grundsätze von den zuständigen Behörden und den Gerichten zu beachten. Bei der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie ist zu unterscheiden, ob das nationale Recht mit den Richtlinienbestimmungen (grundsätzlich) in Einklang steht oder nicht: Besteht grundsätzliche Kompatibilität zwischen den Regelungen, ist die nationale Bestimmung unter Berücksichtigung der Richtlinienbestimmung richtlinienkonform auszulegen.
...Steht dagegen nationales Recht einer Richtlinienbestimmung entgegen, so ersetzt die Richtlinienvorschrift die kollidierende nationale Bestimmung. Die Richtlinienregelung ist anstelle der einschlägigen nationalen Rechtsnormen auf das strittige Rechtsverhältnis unmittelbar anzuwenden."
Die Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG hat somit im Lichte der zentralen GFK einschließlich EMRK und der sie umsetzenden Qualifikationsrichtlinie zu erfolgen (vgl. dazu auch IV 1.1 der BMI-Hinweise). Das gilt insbesondere auch für die Definition der "politischen Überzeugung" in Art. 10 Abs. 1 e) - unter Beachtung des Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie (vgl. Anwendungshinweise des BMI IV 1.1).
5.3 Bei Anwendung der Art. 9 und 10 der Qualifikationsrichtlinie ist allerdings zu beachten, dass die Mitgliedstaaten gem. Art. 3 günstigere Normen erlassen oder beibehalten können, so dass nicht auf "Verfolgungshandlungen" iSd Art. 9 abzustellen ist, sondern gem. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auf eine "Bedrohung" und hierauf abzielende Handlungen. Sinngemäß kommt es auf "Bedrohungsgründe" an, nicht auf "Verfolgungsgründe" (Art. 10 Richtlinie).
Es reicht somit aus, dass aufgrund einer Gesamtbetrachtung - unter Berücksichtigung persönlicher Umstände (Art. 4 Abs. 3 c) - die Menschenwürde und Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 (mit den Regelbeispielen aus Art. 9 Abs. 2) gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG bedroht erscheinen bzw. der Kläger - bei "Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen" - in "ähnlich" gravierender Weise "betroffen" ist (Art. 9 Abs. 1 b), er also eine "begründete Furcht" vor einer menschenrechtlichen oder ähnlich gravierenden Bedrohung (vgl. Art. 2 c) plausibel machen kann. Dabei ist der Bedrohungscharakter verschiedener, u.U. zusammenspielender Maßnahmen unter Berücksichtigung kultureller Besonderheiten im Herkunftsland lebenspraktisch zu erfassen sowie sachgerecht zu bewerten. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:
"Schwerwiegende Diskriminierung und die Kumulativwirkung unterschiedlicher Maßnahmen, die für sich genommen keinen Verfolgungscharakter aufweisen, sowie schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen können sowohl einzeln als auch zusammen mit sonstigen negativen Faktoren zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung führen; oder mit anderen Worten das Leben im Herkunftsland für die betroffene Person in vielerlei Hinsicht so unsicher gestalten, dass der einzige Ausweg in dem Verlassen des Herkunftslands besteht."
Auf eine Verfolgung iSd älteren und jetzt überholten Rechts kommt es damit nicht mehr an (vgl. Hollmann, Asylmagazin 11/2006, S. 5; vgl. auch Beilage zum Asylmagazin 6/ 2006, S. 1; so auch VG Frankfurt, Asylmagazin 2006, S. 23; VG Aachen, U. v. 24.2.2005 - 4 K 2284/ 02.A und 4 K 2416/02.A - ; VG Karlsruhe, U. v. 10.3.2005 - 2 K 12193/03 -, U. v. 14.3. 2005 - 2 K 10264/03 -; VG Köln, U. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A -; VG München, U. v. 18.8.2005 - M 9 K 04.50942 - ; VG Sigmaringen, U. v. 23.6.2005 - A 2 K 12290/03 -; VG Stuttgart, U. v. 17.1.2005 - 10 K 10587/04 -, U. v. 18.4.2005 - 11 K 12040/03 - und U. v. 10.6.2005 - 10 K 13121/03 -). Durch den Wechsel der Perspektive von einer täter- zu einer opferbezogenen Betrachtung hat § 60 Abs. 1 AufenthG mit seinem Bezug zur GFK und zur Qualifikationsrichtlinie nämlich eine völlig neue Stellung im Gesetzesgefüge erlangt (Hollmann, aaO.; vgl. VG Stuttgart, InfAuslR 2005, S. 345). Es geht nach derzeitiger Rechtslage auf dem Hintergrund der GFK und angesichts der Qualifikationsrichtlinie darum, ob eine "wohlbegründete Furcht" vor einer Bedrohung im Heimatland plausibel erscheint (so VG Franklfurt, Asylmagazin 9/2006, S. 23/24). Damit ist eine subjektive, die Sicht des Flüchtlings betonende Wertung prognostischer Art geboten.
5.4 § 60 Abs. 1 AufenthG ist hier anwendbar, u.zw. auch im Hinblick auf § 28 Abs. 2 AsylVfG: Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie legt uneingeschränkt fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann, die "seit" und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - vor allem in näher dargestellten Sonderfällen. Irgendwelche Einschränkungen enthält diese Bestimmung nicht. Sie ist zeitlich wie sachlich uneingeschränkt anwendbar. Vgl. dazu "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, Art. 5 Abs. 2:
"Auch wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass der Antragsteller bereits im Herkunftsland die Überzeugung oder Ausrichtung vertreten hat, hat der Asylsuchende innerhalb der durch Artikel 2 der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsabkommen festgelegten Grenzen ein Recht auf Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit. Diese Freiheiten beinhalten das Recht auf den Wechsel der Religion oder Überzeugungen, der nach der Ausreise stattfinden kann, z. B. aufgrund von Unzufriedenheiten mit Religion oder Politiken des Herkunftslands oder eines gewachsenen Bewusstseins für die Auswirkungen bestimmter Politiken."
Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuscheiden, wenn die Verfolgungsgefahr auf "Umständen" beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) allein auf persönliche Umstände (familiärer und sozialer Hintergrund) zu beschränken (Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.). Die in Abs. 2 genannten "Aktivitäten" sind von den in Abs. 3 genannten "Umständen" sprachlich wie sachlich zu unterscheiden, wie die Differenzierung in Art. 4 Abs. 3 c und d aufzeigt: Zu den "Aktivitäten" ist eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2 b oder d der Richtlinie) stattfindet. Diese Bewertung unterliegt keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlich festgelegter Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots).
Exilpolitische Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3 d Richtlinie gehören damit nicht zu den (persönlichen) "Umständen" im Sinne des Art. 5 Abs. 3. Sie sind von diesen abzuschichten. Sie werden nicht von der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten erfasst. Soweit § 28 Abs. 2 AsylVfG dennoch solche Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt selbst geschaffener Nachfluchtgründe (iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG) zu erfassen sucht und sie - falls sie zeitlich nach Rücknahme oder Ablehnung des Erstantrages entstanden sind - vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK regelmäßig ausschließt, ist diese Bestimmung hier wegen Widerspruchs zur gen. Qualifikationsrichtlinie unbeachtlich und unanwendbar.
Soweit das Nds. Oberverwaltungsgericht § 28 Abs. 2 AsylVfG uneingeschränkt - bei ausdehnender Auslegung - für anwendbar hält (Urteil v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -), kann dem aus den Gründen nicht gefolgt werden, die im Urteil der Kammer vom 16.8. 2006 - 1 A 406/03 - im Einzelnen dargelegt sind (vgl. auch Damson-Asadollah in ihrer Anm. zum gen. Urteil des Nds. OVG, InfAuslR 2006, 426).
5.5 Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor Bedrohung hat der Kläger für den Fall seiner Abschiebung oder sonstigen Rückführung (§ 13 AsylVfG) nach Vietnam hier in einer Weise geltend gemacht, dass sie beachtlich wahrscheinlich ist.
5.5.1 Als "Verfolgungs"- bzw. Bedrohungshandlungen des vietnamesischen Staates, die eine nachvollziehbar-begründete Furcht erzeugen können, so dass der Kläger verständlicherweise "wegen dieser Furcht" den Schutz des vietnamesischen Staates nicht in Anspruch nehmen will (Art. 2 c der Qualifikationsrichtlinie), kommen hier nachfolgende Gesichts- und Anhaltspunkte in Betracht:
Zunächst existieren zahlreiche politische Strafvorschriften Vietnams (vgl. dazu Thür. OVG, Urt. v. 6. 3. 2002, NVwZ 2003, Beilage Nr. I 3, 19 = EzAR 212 Nr. 13), welche im Wesentlichen dem Zweck dienten und dienen, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam abzusichern. Daneben ist eine verschärfte Praxis vietnamesischer Behörden bei der Handhabung dieser politischen Vorschriften zur Sicherung der "Staatsdoktrin" zu beobachten. Vgl. dazu VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:
"Bei Art. 87 und 88 VStGB handelt es sich um Vorschriften, die ausschließlich die Äußerung von Auffassungen unter Strafe stellt, die von der Staatsdoktrin abweichen. Das Gleiche gilt auch für Art. 79 VStGB, der unter Strafe stellt, eine Organisation zu gründen oder ihr beizutreten, die das Ziel hat, die Volksregierung zu stürzen. Art. 91 VStGB führt einen modifizierten Republikfluchttatbestand ein, wenn die Absicht besteht, im Ausland gegen die vietnamesische Regierung zu opponieren. Neuerdings ist es auch nicht ausgeschlossen, dass eine Bestrafung nach den bereits erwähnten "Vorschriften über die administrative Bewährung" erfolgen könnte. Auch dies wäre eine politische Strafvorschrift, da sie ebenfalls dem Zweck, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam zu sichern, dient.
Dabei ergibt sich eine Bedrohung unter dem Gesichtspunkt der Herrschaftssicherung, sei es in Form von Einzelmaßnahmen oder in Form ihrer Kumulierung, auch mit Rücksicht auf die Art. 9 Abs. 2 b, c und d und Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ).
Dem vietnamesischen Staat geht es bei der Absicherung seiner politischen Herrschaft nämlich um eine möglichst totale Gesinnungskontrolle. Da rechtsstaatliche Strukturen in Vietnam nicht bestehen, kann die Verfolgung auf vielfältigste Weise und mit unterschiedlichsten Begründungen durchgeführt werden, besteht eine latente Bedrohung für vietnamesische Staatsangehörige, die sich im Ausland exilpolitisch betätigt haben. Hierbei ist davon auszugehen, dass dem vietn. Geheimdienst die exilpolitischen Betätigungen in der Regel bekannt sind. Vgl. auch VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:
"Die Strafen dienen im Wesentlichen dem Zweck, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam zu sichern. Bei Art. 87 und 88VStGB handelt es sich um Vorschriften, die ausschließlich die Äußerung von Auffassungen unter Strafe stellt, die von der Staatsdoktrin abweichen."
• Weiterhin stellt sich die Lage in Vietnam im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - im November 2006 - gegenüber dem Ende 1994 abgeschlossenen Erstverfahren so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam in der Zwischenzeit sehr deutlich verschärft haben. Das ergibt sich aus einer Gesamtschau der Lebensverhältnisse und Umstände in Vietnam - der "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88; siehe auch Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f). Diesbezüglich kann auf die bisherige Rechtsprechung der Kammer Bezug genommen werden (vgl. u.a. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - , v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 - und v. 24.5.2006 - 1 A 405/03 -), wobei folgendes betont sei:
Es reicht methodisch nicht aus, für eine Gesamtschau lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der Lagebericht des AA vom 31.3.2006 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2005 (Vietnam, S. 356) noch den ai-Jahresbericht 2006 (Vietnam S. 496). Vielmehr wird vom Auswärtigen Amt anstelle der aktuellen Berichte nur der des Jahres 2004 einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 wird ebenso wenig erwähnt oder verwertet wie der IGFM-Jahresbericht 2004. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte eingeschränkt.
Somit müssen auch andere Erkenntnisse in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen werden.
Aber selbst nach den letzten Lageberichten des AA (v. 31.3.2006 und v. 28.8.2005) ist es so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam nicht nur mit "größter Aufmerksamkeit", sondern ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen "verfolgt", öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden. Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt: Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. usw. Aktive Gegner des Sozialismus bzw. solche, die dafür nur gehalten werden (Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie), können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit nach (willkürlichem) Belieben der vietnamesischen Polizeibehörden inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit "nicht auf einen grundsätzlichen Wandel" (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005). Es gibt in Vietnam weder eine Presse- noch eine Meinungsfreiheit; "hart durchgegriffen" wird bei Internet-Dissidenten sowie religiösen Organisationen (S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen v. 15.6.2005).
Vielmehr soll es Hinweise darauf geben, "dass die Regierung die Schraube weiter anzieht" (Lagebericht v. 31.3. 2006). Im Zentralen Hochland Vietnams kam es zu massiven Verfolgungsmaßnahmen. Vgl. dazu Menschenrechte Nr. 2 / 2005, S. 12:
"Seit Ende 2003 wurde die Verfolgung nochmals intensiviert - insbesondere um die Zeit der christlichen Feierlichkeiten wie Ostern oder Weihnachten. Armee und Polizei durchsuchten regelmäßig Häuser, Felder und Wälder, um versteckte "Tin Lanh Dega" zu verhaften. Aktivisten wurden unter Hausarrest gestellt, in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Mehrmalige Hausdurchsuchungen, regelmäßige Verhöre, willkürliche Verhaftungen und die zahlreiche Präsenz von Spezialeinheiten erzeugten in den Dörfern eine Atmosphäre der Angst und des Terrors."
Es gibt Berichte zu Einschüchterungen und Gewaltanwendungen "gegen einzelne Rückkehrer" im Zentralen Hochland Vietnams. Es ist angesichts der verbreiteten Willkür nicht auszuschließen, jedenfalls beachtlich wahrscheinlich, dass derartige Praktiken auch gegen andere angewandt werden, deren Gesinnung und Einstellung bzw. Überzeugung als unangepasst gilt.
Für die erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden.
Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich auch daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. "nationale Sicherheit Vietnams" zur Last gelegt werden, seit 2004 per Erlass als "Staatsgeheimnisse" eingestuft werden (S. 358 des 7. Berichts der Bundesregierung v. 15.6.2005). Im Jahre 2004 wurden 115 Todesurteile gefällt und hiervon 82 vollstreckt - wobei die tatsächliche Zahl höher liegen dürfte (so 7. Bericht, S. 358). In letzter Zeit wurden offiziell 65 Todesurteile verhängt, davon 21 vollstreckt (ai-Jahresbericht 2006, S. 498). Informationen und Berichte hierüber sind inzwischen ebenfalls zum "Staatsgeheimnis" erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass darüber nicht einmal mehr offiziell berichtet werden darf.
Außerdem ist die Kontrolle des Internets durch einen neuen Erlass v. 14.7.2005 "weiter verschärft" worden (Lagebericht v. 31. 3.2006): Nach einer Meldung des schweizerischen "KleinReport" vom 17. August 2006 sind 3 junge vietnamesische Internet-Nutzer fast neun Monate lang ohne Verhandlung nur deshalb in Vietnam inhaftiert worden, weil sie an einem prodemokratischen Chat teilgenommen hatten. Sie sind im Oktober 2005 festgenommen und erst am 7. Juli 2006 aus vietnamesischen Gefängnissen entlassen worden, was einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie darstellt. Das zeigt, wie sensibel und mit welcher Härte der vietnamesische Staat auf prodemokratische Meinungsbekundungen reagiert, wie stark die praktizierte Gesinnungskontrolle ist.
Der vietnamesische Staat unternimmt bei seinen Verfolgungsmaßnahmen jedoch den Versuch, in den Augen der (Welt-) Öffentlichkeit weiterhin geachtet zu werden:
"In mehr als einhundert Fällen konnte nachgewiesen werden, daß die Polizei die Demonstranten bei Tage ungestört demonstrieren ließ und sie dann im Laufe der Nacht aufgriff. Mindestens 14 Personen wurden wegen "Landstreicherei" zwischen vier und fünfzehn Tagen eingesperrt."
- so menschenrechte Nr. 2 / 2005, S. 22 -
• Als weitere Verfolgungs- bzw. Bedrohungsmaßnahme sind die sog. "administrativen Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) zu nennen. Diese stehen eindeutig im Widerspruch zu Art. 9 Abs. 2 b und d der Qualifikationsrichtlinie. Auch dieser Aspekt ist in Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).
• Auch die in Vietnam verbreitete Willkür und Unberechenbarkeit behördlichen Vorgehens ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 9 Abs. 2 b der Qualifikationsrichtlinie hinreichender Anlass, die vorgetragene Furcht zu belegen. Denn eine verlässliche Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden ist nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8.2005).
Demgemäss hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag der vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam als entscheidungserheblich bewertet.
Weiterhin liegt es hier so, dass der Kläger aus einer Buddhistenfamilie stammt und buddhistischen Glaubens ist. Da dieser Gesichtspunkt bereits im Erstverfahren vorhanden und nicht etwa erst danach neu "entstanden" war, ist die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG auf ihn unanwendbar. § 28 Abs. 1 AsylVfG kommt insoweit ebenfalls nicht zum Zuge, weil das Moment der risikolosen Verfolgungsprovokation fehlt: Der Kläger hat seine Überzeugung und seinen Glauben nicht erst hier in Deutschland gefunden. Vielmehr hat er fortgesetzt, was er schon in Vietnam getan hat. Ein Missbrauch der Religionszugehörigkeit, die gem. Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG theistische, nichttheistische und auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst, ist deshalb auszuschließen.
Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger somit auch deshalb drohen, weil er Buddhist ist (S. d. Protokolls v. 29.11.06). Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden nämlich die Tendenzen religiöser Orientierung "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Ver-breitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Neuerdings ist zudem ein neuer "Religionserlass" in Kraft getreten, der als "Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens" verstanden und kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358). ).
Alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam sind - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften sind von der Volkspolizei und der Armee "brutal aufgelöst" worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben Selbstverbrennungen stattgefunden.
"Besonders rigide war das Vorgehen der Behörden gegen Gläubige der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams (VBKV), deren führende Vertreter nach wie vor unter Hausarrest standen" - so ai-Jahresbericht 2005, S. 358.
Nach neueren Berichten und Pressemitteilungen werden Gläubige in Vietnam misshandelt, schikaniert und gefoltert (vgl. Radio Vatikan v. 21.9. 2005: "Abschwören oder fliehen"; Kath.net v. 27.10.2005: "Christen nach geheimen Anweisungen der KP verfolgt"; Jesus.ch v. 7.10.2005: "Grenzschutzsoldaten misshandeln Christen"). Der Tod eines inhaftierten Christen nach Folter (vgl. "Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" v. 10.12. 1984 /BGBl. 1990 II, S. 247 und Art. 3 EMRK; Bericht der US-Menschenrechtsorganisation ICC, Radio Vatikan v. 13.5.2006) ist weiterer Beleg für die verschärfte Vorgehensweise der Polizei und der Behörden in Vietnam. In einer Meldung des "Radio Vatikan", asianews, v. 21.9.2005 heißt es:
"Behörden in der Provinz Yuang Nai haben die Häuser von vier christlichen Familien zerstört, weil diese sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Das meldet die Nachrichtenagentur asianews. Nach ihren Angaben ist in Vietnam weiter eine richtiggehende Christenverfolgung in Gang."
Ein enger Katalog der in Betracht zu ziehenden Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungsmaßnahmen ist angesichts der in Vietnam praktizierten Ausgrenzungen und Demütigungen (durch Internet-Verbot, Telefon- und Mailüberwachung, Hausarrest, Aufnahme in eine schwarze Liste mit Namen derer, denen ein Reisepass versagt wird usw. - vgl. dazu Lagebericht des AA v. 31.3.06) auch sachlich verfehlt, jedenfalls nicht durch Art. 9 Abs. 1 Richtlinie geboten. In Vietnam kann die Verletzung der Freiheit des Briefverkehrs, etwa durch ständige Postkontrolle, eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung sein. Dabei erhält der Aspekt der Wiederholung Bedeutung, Art. 9 Abs. 1 a der Richtlinie (so auch Hollmann, aaO., S. 6). Vgl. "Kommentar des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur Richtlinie 2004/83/ EG" vom Mai 2005, dort zu Art. 9 Abs. 1:
"Nach Auffassung von UNHCR muss die Auslegung des Begriffs der Verfolgung flexibel, anpassungsfähig und offen genug sein, um die veränderlichen Ausprägungen von Verfolgung erfassen zu können."
Die Maßnahmen in Vietnam erinnern z.T. an die in Deutschland zu Beginn der 30er-Jahre gegenüber Minderheiten praktizierten Ausgrenzungen, die in ihrer Gesamtwirkung gegen die Menschenwürde verstießen. Vgl. auch S. 5 der Beilage zum Asylmagazin 6/2006:
"Auch die Qualifikationsrichtlinie, in der die Verfolgungshandlung in Art. 9 durch zahlreiche Kriterien weiter konkretisiert wird, enthält einen offenen Verfolgungsbegriff. Zwar wird dabei der schwerwiegende Charakter der Verletzung grundlegender Menschenrechte betont, ohne jedoch eine Beschränkung auf bestimmte Menschenrechte vorzunehmen."
Die potenzielle Bedrohung des Klägers zielt genügend gravierend auf Art. 5 EMRK (Freiheit und Sicherheit), auf Art. 6 (faires Verfahren), auf Art. 7 (keine Strafe ohne Gesetz / vgl. dazu die Administrativhaft in Vietnam), auf Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung), auf Art. 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), auf Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot, hier wg. politischer oder sonstiger Anschauungen), die allesamt grundlegende Menschenrechte iSv Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie darstellen - wobei Art. 7 EMRK sogar ein Recht darstellt, von dem nicht abgewichen werden darf (Art. 15 Abs. 2 EMRK).
Jedenfalls erreichen die genannten Ausgrenzungs- und Verfolgungshandlungen in ihrer Kumulation (Art. 9 Abs. 1 b Qualifikationsrichtlinie) einen Schweregrad, der in "ähnlicher" Weise zu einer (bloßen) Bedrohung bzw. Betroffenheit des Klägers führt wie die angesprochenen Menschenrechtsverletzungen.
5.5.2 Bei solchen potentiellen Verfolgungsmaßnahmen und -handlungen kommen folgende Verfolgungs- bzw. Bedrohungsgründe (§ 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 10 Richtlinie) zu Gunsten des Klägers in den Blick, die hier unter Bezug auf zahlreiche Belege (Ordner Beiakten A) vorgetragen worden sind:
Gem. Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie ist nicht nur eine missliebige Überzeugung in politischen Fragen als Grund für Verfolgungsmaßnahmen und für eine hieraus resultierende Bedrohung in Betracht zu ziehen, sondern auch eine bloße "Meinung" oder auch nur "Grundhaltung", die in Bezug gesetzt ist zu "Angelegenheiten", welche die in Art. 6 Richtlinie genannten "potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren" betreffen. Hiernach kommt für den vietnamesischen Staat, der von der kommunistischen Partei doktrinär beherrscht wird (vgl. Art. 6 b der Richtlinie), schon eine Grundhaltung des Klägers als Bedrohungsgrund in Betracht, die den Vorgehensweisen, Strukturen, Verfahren oder Maßnahmen der herrschenden kommunistischen Partei kritisch gegenüber steht bzw. die vom Kläger diesbezüglich nur "vertreten" wird.
Der Kläger hat ganz offenkundig "eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung", welche die in Art. 6 der Richtlinie genannten "potenziellen Verfolger" - hier den Staat bzw. die kommunistische Partei Vietnams mit ihren Gliederungen - betrifft: Er ist nicht nur langjähriges Mitglied des "Vereins der vietnamesischen Flüchtlinge in Hamburg e.V." (vgl. Bescheinigung Bl. 33 GA), sondern er hat auch an zahlreichen Demonstrationen und Aktionen teilgenommen, die sich mit dem Vorgehen der kommunistischen Partei Vietnams sehr kritisch befassen, so z.B. an Demonstrationen für die Freilassung aller politischen und religiösen Gefangenen in Vietnam und zugleich für eine Presse-, Religions- und Meinungsfreiheit in Vietnam (u.a. Bl. 46 GA) sowie an der Kundgebung vor dem Eingang des Plaza-Pavillons der EXPO 2000 am 2. September 2000 in Hannover (Bl. 42 GA).
Es liegt auf der Hand, dass eine solche, die kommunistische Partei Vietnams ablehnende Haltung zu Gegenmaßnahmen führen kann und mit großer Wahrscheinlichkeit führen wird, falls der Kläger nach Vietnam zurückkehrte. Insoweit kann auf die zahlreichen Bestätigungen und Bescheinigungen verwiesen werden, die der Kläger als Beleg und zur Glaubhaftmachung seiner Meinung und Grundhaltung im Sinne von Art. 4 Abs. 5 Qualifikationsrichtlinie vorgelegt hat.
Dem Kläger als einem Staatsbürger Vietnams, der schon seit vielen Jahren in Europa und Deutschland lebt, dürfte der Verfolgungsgrund gem. Art. 10 Abs. 1 e) von der kommunistischen Partei Vietnams bzw. vom vietnamesischen Staat auch unabhängig davon zugeschrieben werden, ob und in welchem Maße der Kläger tatsächlich exilpolitisch engagiert und aktiv gewesen ist (Art. 10 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie).
Der Verfolgungsgrund des Art. 10 Abs. 1 b) Richtlinie kommt hier zu Gunsten des Klägers auch unter dem Aspekt einer Teilnahme an religiösen (buddhistischen) Riten im "öffentlichen Bereich" in Betracht: Die aufgezeigten Verfolgungsmaßnahmen gegen Gläubige in Vietnam richten sich gerade gegen Glaubensbekundungen in der Gesellschaft und in öffentlich wahrnehmbaren Bereichen. Mit den Hinweisen des BMI v. 13.10. 2006 ist deshalb davon auszugehen, dass es auf eine Religionsausübung nur im forum internum heute nicht mehr ankommt (S. 9 der Hinweise). Angesichts der hier anzunehmenden Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen schon hinsichtlich der politischen Überzeugung des Klägers (Art. 9 Abs. 1 b Richtlinie) bedarf es keiner weiteren Ausführungen dazu, ob es beim Verfolgungsgrund der Religion um Beeinträchtigungen "des unabdingbaren Kernbereichs" (vgl. BMI-Hinweise, S. 9) der religiösen Überzeugung des Klägers geht. Solche sind bei Kumulierungen nicht erforderlich, da sie bei einer Gesamtschau zusammen mit anderen Maßnahmen eine "ähnliche Betroffenheit" erzeugen.
6. Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer qualifizierten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, steht das im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/ EG, derzufolge es gerade "unerheblich" sein soll, "ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist." Eine von der Beklagten geforderte Betätigung - gar in qualifiziertem Maße - ist im Rahmen der geltenden Richtlinie nicht Voraussetzung einer Flüchtlingsanerkennung gem. § 60 Abs. 1 AufenthG.
Vielmehr ist allein schon die politische Überzeugung Andersdenkender gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG geschützt, wobei hierzu jede Meinung zu jeder Angelegenheit zählt. Vgl. dazu die UNHCR-Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32).
Aktivitäten wie die des Klägers können jedoch - demgegenüber gesteigert - ein weiterer und deutlicherer Beleg für eine Verfolgungsfurcht sein (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) - ohne dass sie dafür jedoch Voraussetzung oder gar erforderlich sind (Art. 10 Abs. 1 e).
Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger "breite Öffentlichkeitswirkung" entfalten bzw. einen "nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit" haben. Nicht der Nutzen und die Wirkung exilpolitischer Betätigung ist maßgeblich, sondern entscheidend sind die Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam und die auf dieser Grundlage gegen Rückkehrer dann etwa ergriffenen Maßnahmen.
In Vietnam wird ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung Einzelner bekämpft (vgl. die dafür geschaffenen "Umerziehungslager", die jenen in Nordkorea ähneln - ai-journal 10/2005 S. 32), ohne dass es darauf ankommt, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus irgendeine Breitenwirkung erzielt haben. Es geht nicht nur um einen "Gesichtsverlust" des vietnamesischen Regimes, sondern - nach zwei Aufständen (Februar-Aufstand 2001 und April-Aufstand 2004) - offensichtlich um die Abwehr freiheitlicher Meinungen und Bestrebungen, die in Vietnam schon von ihrer "Wurzel an" nachhaltig bekämpft werden. Hier wird dann "hart durchgegriffen" (S. 358 des 7. Berichtes der Bundesregierung, aaO.). Aktive und überzeugte (Gesinnungs-)Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP müssen daher stets mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen und sind im entsprechenden Maße ernstlich gefährdet (so Lagebericht AA v. 28.8. 2005). Deshalb ist freiheitliches Denken für sich bereits "verboten". Gläubige, die den bloßen Verdacht erweckt haben, im Zusammenhang mit ihrer Religionsausübung oppositionelle Bestrebungen (nur) "zu unterstützen", werden "inhaftiert bzw. müssen mit ihrer Inhaftierung und Strafverfolgung rechnen" (so Urteil des VG Schwerin v. 27.2.2004 - 1 A 1580/01 As -). Soziales oder gesellschaftliches Engagement ist nicht erlaubt (7. Bericht der Bundesregierung, S. 358).
7. Die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren sind heute - im Jahre 2006 - irrelevant: Der Sachverständige Dr. Will hält daran fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1; ebenso 7. Bericht der Bundesregierung, aaO., S. 358: "Eine öffentliche Diskussion der Machtstrukturen wird nicht geduldet"). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich "als Schlag ins Wasser erwiesen" und die "vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg" gelegt habe.
Diese Auffassungen stimmen mit der SWP-Studie "Chancen und Risiken deutscher Politik in Vietnam" (Berlin, März 2002) überein, in der ausgeführt ist, dass Vietnam an einer Repatriierung seiner Staatsbürger schon Ende der 90er-Jahre kein Interesse mehr hatte und die Abkommen trotz Interventionen des damaligen Außenministers Kinkel hat leer laufen lassen. Die "völkerrechtlichen Verpflichtungen" sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. dazu ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 31.3. 2006: Scheitern des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat, Vereinbarung eines "Memorandum of Understanding" (MOU) v. 25.1. 2005 (Lagebericht AA v. 31.3.06).
Es mag sein, dass eine Bestrafung speziell nur "wegen ungenehmigter Ausreise" in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt. Jedoch werden Ausgrenzungsmaßnahmen bis hin zu Strafen wegen abweichender Gesinnung, Meinungsäußerungen, politisch-religiöser Betätigung usw. ergriffen. Die Abkommen geben nichts für die Frage her, ob wegen anderer (exil-)politischer Betätigungen Bestrafungen erfolgen (so richtig VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159).
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände besteht daher das reale Risiko einer Bedrohung des Klägers im Falle seiner Rückführung - soweit sie überhaupt möglich ist. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass er bei einer Rückkehr nach Vietnam "bedroht" ist iSd § 60 Abs. 1 AufenthG. Er ist folglich als Flüchtling iSd Art. 13 der Qualifikationsrichtlinie und des § 60 Abs. 1 AufenthG - iVm der maßgeblichen GFK - anzuerkennen.
8. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann im Hinblick auf den zuerkannten Flüchtlingsstatus (§ 60 Abs. 1 AufenthG) unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog). Eine Schutzlücke, die nach dem Sinn und Zweck sämtlicher Vorschriften zu vermeiden ist (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, § 28 Rdn. 47.1), entsteht mit der vorliegenden Entscheidung nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.