Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.02.1987, Az.: 4 Sa 1315/86

Geltendmachung eines aufgrund der Zahlung von Krankengeld übergegangenen Anspruchs auf Lohnfortzahlung durch eine Krankenkasse; Erneuter Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 1 LFG; Günstigkeitsvergleich zwischen gesetzlicher und tariflicher Regelung; Verdrängung gesetzlicher Vorschriften durch Tarifvertrag; Auslegung tarifvertraglicher Regelungen

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
11.02.1987
Aktenzeichen
4 Sa 1315/86
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1987, 10694
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1987:0211.4SA1315.86.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 23.05.1986 - AZ: 9 Ca 135/86

Verfahrensgegenstand

Forderung

In dem Rechtsstreit
hat die 4. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 11. Februar 1987
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Hofmeister und
die ehrenamtlichen Richter Pusen und
Tomaszewsk
ifür Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 23.05.1986 - 9 Ca 135/86 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Der bei der Klägerin krankenversicherte Arbeitnehmer ... ist bei der Beklagten zu tariflichen Bedingungen beschäftigt und war wegen derselben Krankheit vom 2. Juni 1982 bis 5. Dezember 1982 arbeitsunfähig krank. Aus Anlaß dieser Erkrankung zahlte ihm die Beklagte Lohnfortzahlung. Erneut erkrankte er in der Zeit vom 23. März 1983 bis 13. Mai 1983 wegen derselben Krankheit und erhielt wiederum von der Beklagten Lohnfortzahlung für die Dauer von sechs Wochen aufgrund der Regelung des § 20 des Tarifvertrags Arbeiter der Deutschen Bundespost. Für die weiteren Erkrankungen wegen derselben Krankheit in der Zeit vom 15. Mai bis 5. Juli und 27. Juli bis 14. August 1983 zahlte die Klägerin Krankengeld, weil die Beklagte Lohnfortzahlung nicht gewährte.

2

Die Klägerin ist der Auffassung, daß ihrem Versicherten für die Zeit vom 27. Juli bis 14. August 1983 ein Anspruch auf Lohnfortzahlung zugestanden hat, und macht diesen gemäß § 115 Abs. 1 SGB X auf sie übergegangenen Anspruch in Höhe des geleisteten Krankengeldes von unstreitig DM 1.072,93 geltend. Sie ist der Ansicht, daß die Regelung des § 20 TV den Anspruch ihres Versicherten auf Lohnfortzahlung gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 LFG nicht habe verdrängen können.

3

Die zunächst bei dem Arbeitsgericht Braunschweig anhängig gemachte Klage ist durch Beschluß an das Arbeitsgericht Hannover verwiesen worden.

4

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, der Betriebskrankenkasse den verauslagten Krankengeldzahlbetrag in Höhe von 1.072,93 DM (Krankengeld für die Zeit vom 27.07.1983 bis 14.08.1983 in Höhe von kalendertäglich 56,47 DM) zu erstatten sowie 9 % Verzugszinsen ab dem 27.07.1983.

5

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen, und die örtliche Unzuständigkeit gerügt.

6

Sie ist der Auffassung, dem Rechtsstreit komme grundsätzliche Bedeutung zu, so daß nach ihrer Zuständigkeitsverordnung nicht der ... sondern der Minister für das ... zuständig sei, woraus sich die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgericht Bonn ergebe.

7

Die Beklagte ist der Auffassung, daß die ihrem Arbeitnehmer ... gewährte Lohnfortzahlung nach dem Tarifvertrag günstiger sei und nicht noch um die in diesem besonderen Einzelfall in Betracht kommende Leistung nach dem LFG aufgestockt werden dürfe.

8

Durch Urteil vom 23. Mai 1986 hat das Arbeitsgericht Hannover die Beklagte verurteilt, an die Klägerin DM 1.072,93 nebst 4 % Zinsen seit dem 25. April 1985 zu zahlen und die weitergehende Klage abgewiesen.

9

In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß das Arbeitsgericht Hannover schon deshalb für die Entscheidung des Rechtsstreits örtlich zuständig sei, weil es durch den ordnungsgemäß ergangenen Verweisungsbeschluß des Arbeitsgerichts Braunschweig gebunden sei und eine Weiterverweisung gemäß § 281 Abs. 2 ZPO nicht in Betracht komme.

10

Die Klage sei auch in der Hauptsache begründet. Die Beklagte schulde nämlich ihrem Arbeitnehmer ... gemäß § 1 Abs. 1 S. 2 LFG für die Zeit vom 27. Juli bis 14. August 1983 Lohnfortzahlung. Nach dieser Vorschrift verliere der Arbeiter, der innerhalb von 12 Monaten infolge derselben Krankheit wiederholt arbeitsunfähig werde, nicht seinen Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Dauer von insgesamt 6 Wochen. Daraus folge weiter, daß der Arbeiter, der nach Ablauf von 12 Monaten erneut wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig werde, damit einen neuen Lohnfortzahlungsanspruch bis zur Dauer von weiteren 6 Wochen erwerbe. Damit sei sichergestellt, daß jedenfalls bei einer erneuten Erkrankung nach Ablauf von 12 Monaten ein Anspruch auf Lohnfortzahlung bis zur Dauer von weiteren 6 Wochen erworben werde. Dieser erneut entstandene Lohnfortzahlungsanspruch, der nach Ablauf der Jahresfrist am 3. Juni 1983 entstanden sei, werde von dem über das Lohnfortzahlungsgesetz hinausgehenden tariflichen Lohnfortzahlungsanspruch gemäß § 20 TV nicht verdrängt. Dies folge schon daraus, daß die Vorschriften des Lohnfortzahlungsgesetzes gemäß § 9 unabdingbar seien mit Ausnahme des § 2 Abs. 3, so daß jedenfalls nicht zuungunsten des Arbeiters von § 1 LFG abgewichen werden könne.

11

Durch den Tarifvertrag Arbeiter sei vielmehr ein gesonderter Lohnfortzahlungsanspruch geschaffen worden, der allerdings nicht den gesetzlichen Lohnfortzahlungsanspruch verdränge.

12

Die Zinsforderung sei jedoch nur zum Teil begründet, und zwar in Höhe von 4 Prozent seit Rechtshängigkeit.

13

Dieses Urteil ist der Beklagten am 27. Juni 1986 zugestellt worden. Sie hat dagegen Berufung einlegen lassen, die am 22. Juli 1986 und deren Begründung nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 19. September 1986 am 17. September 1986 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen ist.

14

Die Beklagte rechtfertigt ihre Berufung nach Maßgabe ihres Begründungsschriftsatzes vom 15. September 1986 (Bl. 61 ff d. A.), auf den Bezug genommen wird.

15

Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,

die Klage in Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

16

Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

17

Sie verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 14. Oktober 1986 (Bl. 70 ff d. A.), auf den ebenfalls Bezug genommen wird.

18

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf die hier gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

19

Die Berufung in dieser vermögensrechtlichen Streitigkeit ist gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes offenkundig 800,00 DM übersteigt, wie auch aus der Streitwertfestsetzung erster Instanz ersichtlich ist.

20

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden und damit insgesamt zulässig.

21

Die Berufung konnte jedoch keinen Erfolg haben, weil das Arbeitsgericht den Rechtsstreit zutreffend entschieden hat.

22

Der Arbeiter ... hat für die Zeit vom 27. Juli bis 14. August 1983 nach § 1 LFG einen erneuten Anspruch auf Lohnfortzahlung gegen die Beklagte erworben, der in Höhe des gezahlten Krankengeldes auf die Klägerin übergegangen ist. Dies wird im Prinzip auch von der Beklagten nicht in Abrede genommen, sie meint jedoch, daß § 20 TV eine für den Arbeiter günstigere Regelung darstelle und deshalb Vorrang vor den gesetzlichen Mindestvorschriften habe.

23

Unstreitig ist durch die Neuregelung in § 20 TV für den Arbeiter, der wiederholt wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig wird, eine gegenüber dem gesetzlichen Lohnfortzahlungsanspruch günstigere Regelung getroffen worden. Dies gilt unabhängig davon, ob man einen abstrakten oder konkreten Günstigkeitsvergleich vornehmen wollte. Dies wird auch von der Klägerin nicht in Abrede genommen.

24

Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an, denn ein Günstigkeitsvergleich zwischen gesetzlicher und tariflicher Regelung, der vielfach zu Schwierigkeiten führen könnte, ist nicht erforderlich. Denn zu beachten ist, daß nach § 2 Abs. 3 S. 1 LFG nur abweichende tarifliche Regelungen über eine andere Art der Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts möglich sind und deshalb auch nur insoweit ungünstigere Regelungen als die gesetzlichen zulässig wären (vgl. BAG AP Nr. 10 zu § 611 BGB Anwesenheitsprämie).

25

Von anderen gesetzlichen Vorschriften darf auch durch Tarifvertrag nicht zuungunsten des Arbeiters abgewichen werden (vgl. Kaiser-Dunkl, Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, 2. Auflage, § 2 Anmerkung 70). Für einen Günstigkeitsvergleich ist deshalb insoweit kein Raum. § 9 LFG ist insoweit zwingend.

26

Auch die Auslegung des § 20 TV zwingt nicht zu der Annahme, daß die Tarifvertragsparteien mit der Neuregelung und Besserstellung des wiederholt an derselben Krankheit arbeitsunfähig werdenden Arbeiters von § 1 LFG eine abweichende Regelung treffen wollten. Zwar wird man annehmen können, daß ein Tarifvertrag, der - wie hier - eine umfassende Regelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle vorsieht, auch beabsichtigt hat, eine erschöpfende Regelung zu treffen. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß Tarifverträge nicht von vornherein mit dem Anspruch auftreten, die Arbeitsbedingungen vollständig und lückenlos zu regeln (vgl. BAG AP Nr. 123 zu § 1 TV Auslegung). Andererseits kann gerade bei diesen Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes nicht angenommen werden, daß sie gegen zwingendes Gesetzesrecht verstoßen wollten. Deshalb ist der Auslegung der Vorzug zu geben, die mit zwingenden gesetzlichen Vorschriften konform ist. Dem Arbeitsgericht ist daher zu folgen, wenn es § 20 TV dahin versteht, daß die Tarifvertragsparteien hier zusätzliche Lohnfortzahlungsansprüche für den wiederholt erkrankten Arbeiter schaffen wollten, ohne daß dadurch der gesetzliche Mindestanspruch nach § 1 LFG geschmälert werden sollte. Deshalb ist auch dem Landesarbeitsgericht Köln in seiner Entscheidung vom 3. Juli 1986 - 10 Sa 194/86 - zu folgen, daß sämtliche von der Beklagten genannten Gesichtspunkte der Anrechnung, Verrechnung oder Aufrechnung den gesetzlichen Mindestanspruch des Arbeiters ... nicht zu schmälern vermögen. Dieser hat vielmehr neben den tariflichen Ansprüchen auch noch die gesetzlich normierten Ansprüche auf Lohnfortzahlung, weil sich weder aus dem Wortlaut des Tarifvertrages noch aus dem Gesamtzusammenhang ergibt, daß die Beklagte berechtigt sein soll, auf die gesetzlichen Ansprüche des Arbeiters vorher gezahlte tarifliche Ansprüche anzurechnen oder zu verrechnen. Die durch den Tarifvertrag geschaffene Lage bei wiederholter Erkrankung wegen desselben Leidens erfährt ihre notwendige Ergänzung deshalb durch das zwingend vorgeschriebene Recht des Arbeiters aus § 1 LFG. Auch wenn die Tarifvertragsparteien bei Abschluß ihres Tarifvertrages an den hier vorliegenden Fall nicht gedacht haben sollten, dann kann weder durch teleologische Reduktion noch in sonstiger Weise jedenfalls der Anspruch des Arbeiters für den hier streitbefangenen Zeitraum eingeschränkt oder beschränkt werden, zumal die Auffassung der beteiligten Berufskreise im Gegensatz zur Auffassung der Berufung kein selbständiges Auslegungskriterium ist (vgl. BAG AP Nr. 135 a.a.O.).

27

Deshalb bedarf es auch keiner Prüfung, welche Vorstellungen die Tarifvertragsparteien bei Abschluß dieses Tarifvertrages gehabt haben.

28

Die Berufung war daher mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen.

29

Da sich der Wert des Streitgegenstandes nach Verkündung des erstinstanzlichen Urteils nicht geändert hat, verbleibt es gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG beim erstinstanzlichen Streitwert.

30

Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

31

Gegen dieses Urteil findet, wie sich aus der Urteilsformel ergibt, die Revision statt.

32

Die Revisionsschrift muß innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils, die Revisionsbegründung innerhalb eines Monats nach Einlegung der Revision bei dem Bundesarbeitsgericht, Graf-Bernadotte-Platz 3, 3500 Kassel, eingehen.

33

Die Revisions- und die Revisionsbegründungsschrift müssen von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein.

34

Die Revisionsschrift, die Revisionsbegründungsschrift und die sonstigen wechselseitigen Schriftsätze im Revisionsverfahren sollen 7fach - für jeden weiteren Beteiligten ein Exemplar mehr - eingereicht werden.