Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 16.06.2017, Az.: 6 B 50/17

Abschiebungshindernis; Asylverfahren; Äthiopien; Eritrea; Geburtsurkunde; Unbegründetheit, offensichtliche; Täuschung; Versorgungslage

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
16.06.2017
Aktenzeichen
6 B 50/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53894
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

Der gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 75 AsylG grundsätzlich statthafte Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer am 31. Mai 2017 erhobenen Klage (6 A 233/17) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Mai 2017 hat Erfolg.

Der Antrag ist zulässig, da er innerhalb der Frist von einer Woche nach Bekanntgabe (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) am 31. Mai 2017 gestellt wurde. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.

Gegenstand des gerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylG ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Da diese Regelung und die damit gemäß § 36 Abs. 1 AsylG verbundene Ausreisefrist von einer Woche die Folgerung aus der qualifizierten Asylablehnung sind, ist Anknüpfungspunkt der gerichtliche Prüfung des Sofortvollzugs die Frage, ob die für eine Aussetzung der Abschiebung erforderlichen ernstlichen Zweifel bezogen auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vorliegen. Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Das bedeutet, dass die Vollziehung der Maßnahme nur dann ausgesetzt werden darf, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung nicht standhält. Dabei muss das Gericht die Prüfung auch auf das Merkmal der Offensichtlichkeit erstrecken.

Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet wird von der Antragsgegnerin auf Seite 5 ihres angefochtenen Bescheides auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG gestützt, nach dem ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn der Ausländer im Asylverfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder diese Angaben verweigert. Dieser Vorschrift liegt nach dem Willen des Gesetzgebers die Erwägung zugrunde, dass ein individuelles Verfolgungsschicksal nur festgestellt werden kann, wenn die Identität und die Staatsangehörigkeit des Verfolgten bekannt sind, und dass ein politisch Verfolgter in Deutschland um Asyl nachsucht, weil er auf den Schutz deutscher Behörden vertraut. Es ist dem Ausländer daher zuzumuten, spätestens gegenüber dem für die Entscheidung zuständigen Bundesamt seine Identität darzulegen oder seine Angaben dazu zu machen (vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 22). Die Täuschung setzt ein vorsätzliches Handeln voraus und kann darin liegen, dass ein Irrtum durch unwahre Behauptungen hervorgerufen oder ein beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits bestehender Irrtum aufrechterhalten wird (vgl. Susanne Schröder, in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 30 AsylG, Rz 24). Verletzt der Asylbewerber die Obliegenheit, seine wahre Identität und Staatsangehörigkeit anzugeben, in dem er bewusst versucht, beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Irrtum über diese persönlichen Merkmale hervorzurufen oder aufrechtzuerhalten, dann trifft ihn die qualifizierte Ablehnung seines unbegründeten Asylantrags(VG Regensburg, Beschluss vom 07. Februar 2017 – RN 5 S 17.30264 –, Rn. 18, juris).

Der Antragstellerin zu 1. ist hier keine vorsätzliche Täuschungshandlung anzulasten; vielmehr hat sie voraussichtlich zutreffende Angaben über ihren Geburtsort und ihre Herkunft gemacht und eine wohl echte Geburtsurkunde aus Eritrea vorgelegt. Der Umstand, dass die Antragsgegnerin anhand der äthiopischen und eritreischen Gesetze zu dem voraussichtlich zutreffenden Schluss gekommen ist, dass die Antragsteller äthiopische und nicht eritreische Staatsangehörige sind, beruht lediglich auf einer anderen rechtlichen Bewertung, kann aber nicht die Sanktion einer Täuschungshandlung auslösen.

Im Übrigen bestehen ernstliche Zweifel, ob nicht für die Antragsteller hinsichtlich Äthiopiens ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG anzunehmen ist.

Nach der Auskunftslage ist es für eine alleinstehende Frau ohne familiären Rückhalt in Äthiopien kaum möglich, das Existenzminimum zu sichern. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Dezember 2012 ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht in allen Landesteilen und nicht zu jeder Zeit gesichert. Die Existenzbedingungen sind für große Teile der Landbevölkerung äußerst hart und bei Ernteausfällen lebensbedrohend. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Äthiopien, Rückkehr einer alleinstehenden jungen Frau, 13.10.2009) führt aus, dass Kinder und alleinstehende Frauen in Äthiopien, die über kein soziales Netz verfügen, sich das Existenzminimum nicht sichern können. Die Mehrzahl der Frauen, die alleine in die Stadt kommen, würde in der Prostitution oder als Bedienstete in Haushalten landen, wo sie verschiedenen Formen der Gewalt, auch sexueller Gewalt, ausgesetzt wären. Es sei schwierig, für eine alleinstehende Frau sowohl Unterkunft wie auch einen Arbeitsplatz zu finden. Für den Zugang zu einer Arbeitsstelle benötige man Geld, familiäre Kontakte oder Personen, die über Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. über offene Arbeitsstellen informiert seien. Auch die Wohnungssuche sei ohne Unterstützung von Bekannten schwierig.

Auch eine offizielle norwegische Stelle (Landinfo Utlendingsforvaltningens fagenhet for landinformasjon, Oslo, 11.05.2016, Temanotat Etiopia: Kvinners situasjon) erachtet ein familiäres Netzwerk als wichtige Vorbedingung dafür, dass eine unverheiratete Äthiopierin ein eigenes Leben aufbauen und für sich selbst sorgen könne. Auf der anderen Seite seien geschiedene oder von ihrer Familie verstoßene Frauen besonders Menschenhandel und Prostitution ausgesetzt. Die gemeinsame Fact-Finding-Komission der Länder Deutschland, Österreich und Schweiz (D-A-CH) konstatiert damit korrespondierend, dass es für eine alleinstehende Frau sehr problematisch sei, sich [sogar] in der Hauptstadt zu etablieren. Es sei schwierig, eine Arbeit zu finden, die Löhne seien niedrig (D-A-CH Fact Finding Mission, Äthiopien/Somaliland 2010, Mai 2010, S. 16).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylG.

Einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe bedarf es für das Aussetzungsverfahren nach der obigen Kostenentscheidung nicht mehr.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.