Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 28.06.2017, Az.: 8 A 202/16

Abschiebungsandrohung; Abschiebungsanordnung; Drittstaatenbescheid

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
28.06.2017
Aktenzeichen
8 A 202/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53617
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

Der Kläger ist sudanesischer Staatsangehöriger. Er reiste am 23. August 2013 gemein-sam mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern, den Klägern in dem Verfahren 2 A 30/15, in die Bundesrepublik ein und stellte am 29. August 2013 einen Asylantrag.

Am 6. Dezember 2013 richtete die Beklagte ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden. Die italienischen Behörden lehnten die Übernahme des Klägers und seiner Familie nach den Dublin-Regeln mit Schreiben vom 17. Februar 2014 ab, da diesen bereits in Italien der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei.

Mit Bescheid vom 4. Februar 2015 lehnte die Beklagte die Asylanträge des Klägers und seiner Familie als unzulässig ab (Ziff. 1) und ordnete ihre Abschiebung nach Italien an (Ziff. 2).

Gegen diesen Bescheid haben der Kläger sowie seine Ehefrau und Kinder am 18. Februar 2015 gemeinsam Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Aufgrund dieses Eilantrages hat das Gericht mit Beschluss vom 27. März 2015 (2 B 11/15) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die von der obergerichtlichen Rechtsprechung für die Rückführung von Familien mit kleinen Kindern nach Italien aufgestellten Anforderungen nicht erfüllt seien.

Durch Beschluss vom 31. März 2016 hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit des Ehemanns der Klägerin zu 1. - zugleich Vater der Kläger zu 2. bis 7. - aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Trennung der Eheleute abgetrennt. Mit Urteil vom 1. April 2016 hat das Verwaltungsgericht Lüneburg auf die Klage der Ehefrau sowie der Kinder des Klägers Ziff. 2 des Bescheids der Beklagten vom 4. Februar 2015 aufgehoben und dabei darauf abgestellt, dass die von der obergerichtlichen Rechtsprechung für die Rückführung von Familien mit kleinen Kindern nach Italien aufgestellten Anforderungen nicht erfüllt seien.

Zur Begründung der Klage trägt der Kläger nunmehr vor, seine Abschiebung nach Italien sei unzulässig, weil sie sein Umgangsrecht mit seinen Kindern vereiteln würde.

Nachdem der Kläger zunächst beantragt hatte, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3. Februar 2015 zu verpflichten, ein Asylverfahren durchzuführen, beantragt er nunmehr mit Schriftsatz vom 16. Mai 2017 nur noch,

den Bescheid vom 4. Februar 2015 hinsichtlich der Ziff. 2 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Mit Beschluss vom 22. November 2016 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter der Kammer zur Entscheidung übertragen. Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 16. Mai 2017 mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die entsprechende Erklärung der Beklagten folgt aus ihrem Schriftsatz vom 4. März 2015.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

I. Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, soweit der Kläger die Klage hinsichtlich seines Verpflichtungsantrags, das Asylverfahren durchzuführen, und hinsichtlich der Anfechtung von Ziff. 1 des Bescheids vom 4. Februar 2015, zurückgenommen hat.

II. Die nunmehr nur noch auf Aufhebung von Ziff. 2 des Bescheids vom 4. Februar 2015 gerichtete Klage, über die die Einzelrichterin im Einverständnis der Beteiligten  gemäß § 101 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist zulässig und begründet. Die in Ziff. 2 des Bescheids vom 4. Februar 2015 geregelte Abschiebungsanordnung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Abschiebungsanordnung ist nach dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG im Zeitpunkt der Entscheidung heranzuziehenden Recht bereits wegen fehlender Rechtsgrundlage rechtswidrig.

1. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war.

Hier liegt ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor.

Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn bereits ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nr. 2 gewährt hat. Dies ist hier der Fall. Der Kläger genießt laut Mitteilung der italienischen Behörden in Italien Flüchtlingsschutz, so dass die Entscheidung des Bundesamts in Ziff. 1 des angefochtenen Bescheids nach Maßgabe des gemäß § 77 AsylG anwendbaren Rechts auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden kann.

2. Liegt - wie hier - ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kommt der Erlass einer Abschiebungsanordnung nicht in Betracht. § 35 AsylG sieht als Rechtsfolge in diesen Fällen allein den Erlass einer Abschiebungsandrohung vor.

§ 35 AsylG kann nicht so ausgelegt werden, als ermächtige es das Bundesamt auch zum Erlass einer Abschiebungsanordnung. Aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen, Regelungsinhalte und Rechtsfolgen handelt es sich bei Abschiebungsanordnung und -androhung um jeweils selbstständige Verwaltungsakte, die auch aus Sicht des hiervon Betroffenen zueinander in einem aliud-Verhältnis stehen und nicht teilidentisch sind (VGH BW, Urt. v. 29.4.2015 - A 11 S 57/15 -, juris, Rn. 67). Zudem geht die Abschiebungsanordnung weiter als die Abschiebungsandrohung, indem sie abschließend feststellend regelt, dass alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung erfüllt sind. Eine Ermächtigung zum Erlass einer Abschiebungsandrohung erfasst darum den Erlass einer Abschiebungsanordnung auch nicht als „milderes Mittel“.

3. Auf andere Rechtsgrundlagen kann das Bundesamt seine Abschiebungsanordnung nicht stützen. Insbesondere scheidet nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes auch ein Rückgriff auf den vom Bundesamt in der angefochtenen Entscheidung herangezogenen § 34a Abs. 1 AsylG aus.

Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll. Beide Fälle sind hier nicht einschlägig.

a) Die Abschiebungsanordnung lässt sich nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG stützen. Der Kläger soll nicht in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden (29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG).

Diese Vorschrift greift bei Rücküberstellungen im Dublin-System ein. Darum geht es hier indes nicht. Das Dublin-Verfahren ist im Fall des Klägers abgeschlossen, indem ihm in Italien Flüchtlingsschutz gewährt wurde. Eine Wiederaufnahmeverpflichtung für den Fall eines solchen positiven Abschlusses des Asylverfahrens ist im Dublin-System nicht vorgesehen; die Dublin-Regeln finden darum keine Anwendung mehr für den Kläger.

Dies gilt auch auf Grundlage der Dublin II-Verordnung, die hier maßgeblich ist, weil der Kläger seinen Asylantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt hat. Insbesondere war Italien auch nicht gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin II-VO gehalten, den Kläger wieder aufzunehmen. Eine Wiederaufnahmepflicht besteht nach dieser Vorschrift nur, wenn der Asylantrag des Ausländers abgelehnt wurde und dieser sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält. Ein solcher Fall der Antragsablehnung liegt auch nach der Dublin II-Verordnung aber nur vor, wenn dem Ausländer entweder kein oder nur subsidiärer Schutz gewährt wurde (zur ggf. abweichenden Rechtslage nach der Dublin III-Verordnung, vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 23.3.2017 - 1 C 17/16 -, juris, Rn. 36 ff.). Dem Kläger wurde indes in Italien Flüchtlings- und nicht nur subsidiärer Schutz gewährt. Die Zuständigkeit Italiens folgt darum nicht (mehr) aus dem Dublin-System, weshalb hier kein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegt.

b) Eine Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ergibt sich auch nicht aus § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 26a AsylG. Denn es liegt kein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 26a AsylG vor.

Mit der Neufassung des § 29 AsylG durch die Aufnahme des § 29 Abs. 1 N. 2 AsylG ist der zuvor vertretenen Auffassung, die in den Fällen des unzulässigen Asylantrages aufgrund einer bereits bestehenden ausländischen Flüchtlingsanerkennung mangels konkreter Regelungen im AsylG als Rechtsgrundlage auf § 26a AsylG oder § 60 Abs. 1 Satz 1 bis 3 AufenthG zurückgegriffen hatte (vgl. hierzu: Bethke/Hocks, Asylmagazin 2016, 336, 339 ff.), der Boden entzogen (ebenso z.B. VG Hamburg, Urteil vom 9.1.2017 - 16 A 5546/14 -, juris Rn. 28 ff.; Pietzsch, a.a.O., § 34a AsylG Rn. 8a ff.; a.A. Saarl. OVG, Urt. v. 10.1.2017 - 2 A 330/16 - sowie vom 25.10.2016 - 2 A 96/16 -, juris; Hess. VGH, Urteil vom 4.11.2016 - 3 A 1292/16.A -, juris).

Die Unzulässigkeitsentscheidung kann in Fällen wie dem vorliegenden, in dem bereits ein Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat, darum auch nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 26a AsylG mit der Einreise des Ausländers aus einem sicheren Drittstaat begründet werden. Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 29 AsylG insoweit zwei nebeneinanderstehende Unzulässigkeitstatbestände geschaffen (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 und § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG), die mit unterschiedlichen Wegen der Aufenthaltsbeendigung einhergehen (§§ 34 Abs. 1, 35, 36 AsylG einerseits, § 34a Abs. 1 AsylG andererseits, s. OVG SA, Urt. v. 28.3.2017 - 3 L 178/15 -, juris, Rn. 31)). § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der - wie § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG - nur für Mitgliedstaaten der Europäischen Union bzw. für am Dublin-Verfahren teilnehmende Staaten gilt, ist dabei in Fällen wie dem vorliegenden, wenn dem Ausländer bereits internationaler Schutz durch einen anderen Mitgliedstaat gewährt worden ist, spezieller als § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG, der allein auf die Einreise aus einem sicheren Drittstaat sowie die bestehende Aufnahmebereitschaft desselben abstellt. Es gilt insofern dasselbe wie für das Verhältnis zwischen § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AsylG: Das Dublin-System würde ausgehebelt, wenn in Dublin-Fällen ein Asylantrag wegen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat als unzulässig abgelehnt werden könnte. Denn nach dem Dublin-System ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die am Dublin-System teilnehmenden Staaten sichere Drittstaaten sind; Asylanträge könnten bei Eingreifen der sicheren Drittstaatenregelung darum praktisch stets und unabhängig von den Vorschriften der Dublin-Verordnung als unzulässig abgelehnt werden.  Die Dublin-Regeln zur Zuständigkeit sind darum gegenüber der sicheren Drittstaatenregelung vorrangig.  Diese Erwägungen sind in gleicher Weise einschlägig, wenn ein Mitgliedstaat - nach Bejahung seiner Zuständigkeit gemäß den Dublin-Regeln - eine positive Entscheidung über einen Asylantrag getroffen hat. Auch die daraus resultierende weitere Zuständigkeit des schutzgewährenden Mitgliedstaats muss, soll sie Bedeutung haben, der sicheren Drittstaatenregelung vorgehen. Die nach aktueller Rechtslage in § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG geregelte Unzulässigkeit eines Asylantrags wegen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kann darum keine Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung darstellen, wenn dem Ausländer bereits in einem anderen Mitgliedstaat Schutz gewährt wurde.  Sichere Drittstaaten i. S. d. § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG sind in unionsrechtskonformer Auslegung dieser Regelung vielmehr nur Staaten, die keine EU-Mitgliedstaaten sind (s. BVerwG, Beschl. v. 27.06.2017 - 1 C 26/16 -, juris, Pressemitteilung, Urteil liegt noch nicht vor). In den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet darum ein Rückgriff auf § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG und damit auch der Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.